Heinrich Zschokke 1771-1848

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«Meps» war bestimmt nicht seine erste Dichtung. Erstaunlicherweise lässt Zschokke uns in seiner Autobiografie aber kaum an seinen schriftstellerischen Anfängen teilhaben, die schon früh ein burleskes Talent erkennen lassen. Mit keinem Wort erwähnte er, dass er sich unter Magdeburger Kameraden und Lehrern bereits einen Ruf als Belletrist und Gedichteschreiber erworben und sogar ein Theaterstück verfasst hatte.

Näheres zu Zschokkes Frühwerken ist bei Behrendsen zu erfahren. Er schrieb in seinen «Notizen», Heinrich habe mit 15 Jahren der Direktrice einer in Magdeburg gastierenden Theatergruppe ein kleines Schauspiel überreicht, das sich mit der Ortsgeschichte, der Eroberung Magdeburgs durch Tilly, befasste. Die Direktorin, eine Madame Wäser, habe es ihm nach einigen Tagen zurückgegeben mit der Bemerkung, man könne davon nicht Gebrauch machen, da man gerade ein ähnliches Stück einstudiere. Behrendsen, der Zschokke zeitlebens siezte, habe ihn daraufhin belehrt: «Betrachten Sie dies als eine höfliche Verwerfung. Sie sind ja noch nicht stark genug etwas zu schreiben, was denkende Männer befriedigen könnte. Lassen Sie es bleiben, Sie versäumen dadurch Ihre Schularbeiten, was Ihnen schaden wird!» Worauf Heinrich patzig erwidert habe: «Shakespeares erstes Stück ist auch verworfen, doch ist er nachher ein großer Schauspieldichter geworden.»220

Zwei Bände mit Aufzeichnungen Zschokkes von seiner privaten Lektüre als Gymnasiast von 1784 und 1787. Vor seiner Abreise aus Frankfurt (Oder) übergab er sie seinem Studienfreund Johann Gabriel Schäffer, aus dessen Hinterlassenschaft sie 1843, in einen Schuber versorgt, zu Zschokke nach Aarau gelangten. Es ist das erste Zeugnis seiner Handschrift und seiner geistigen Regsamkeit.

Vermutlich sah Zschokke mit seinem Stück eine Gelegenheit, sein dichterisches Können und vaterländisches Herz unter Beweis zu stellen und berühmt zu werden; die schnöde Abweisung war eine doppelte Brüskierung: seines literarischen Talents und seines Patriotismus’; zweifellos hielt er die Direktrice für eine Ignorantin. In jedem Fall hätte Zschokke Probleme gehabt, mit seinem Stück bei Madame Wäser Gehör zu finden. Selbstverständlich war ihre Behauptung, man studiere gerade ein ähnliches Stück ein, nur ein Vorwand. Sie hätte ihm keinen Grund für ihre Ablehnung nennen müssen, wusste aber vielleicht nicht recht, ob ein einflussreicher Vater oder Gönner hinter dem Bittsteller stand. Andererseits existierte tatsächlich schon ein Schauspiel mit dem Titel «Die Eroberung von Magdeburg» von einem preussischen Offizier namens Rohwedel. Von Lehrer Johann Gottlieb Schummel bühnenmässig eingerichtet,221 war es im Frühling 1774 durch Carl Döbbelin «unter großem Zulauf» zur Darstellung gebracht worden.222

Alljährlich wurde der Eroberung und Vernichtung Magdeburgs vom 10. Mai 1631 gedacht, und wenn eine wandernde Gesellschaft sich gerade zu dieser Zeit in der Stadt aufhielt, unterliess sie es kaum, das Stück aufzuführen.223 Friedrich Ludwig Schmidt, Schauspieler und seit 1798 Direktor des Magdeburger Aktientheaters, brachte am 10. Mai 1799 sein neues Stück «Der Sturm von Magdeburg. Ein vaterländisches Schauspiel in fünf Aufzügen» zur Uraufführung.224 Innerhalb einer Woche wurde es fünfmal wiederholt und bis 1876 jedes Jahr am 10. Mai aufgeführt.225 Der Magdeburger Philosoph Karl Rosenkranz (1805–1879), der wie Zschokke das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen besuchte und mit ihm über seine Schwester, die Zschokkes Neffen Friedrich Wilhelm Genthe heiratete, verwandt wurde, schrieb in seinen Erinnerungen: «Es war damals die ganz sinnreiche Sitte, daß Kinder gewöhnlich zum ersten Mal am 10. Mai in das Theater mitgenommen wurden, weil dann die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly von Schmidt gegeben zu werden pflegte.»226

Frau Wäser jedenfalls zeigte im Winter 1786, als sie mit ihrer 25-köpfigen Schauspielertruppe in der Stadt weilte, die Eroberung Magdeburgs trotz ihrer Behauptung weder in Zschokkes noch in einer anderen Fassung. Es war ja auch gar nicht Frühling, und sie war nur wenige Monate in Magdeburg. Selbst wenn die Truppe das Stück einstudiert hätte, hatte es nur einen lokalen Bezug und wäre in Stettin und Breslau, wohin sie sich nachher wandte, nicht spielbar gewesen.

Frau Wäsers Ablehnung hatte Heinrich keineswegs entmutigt, eher angespornt. Er war mittlerweile so sehr von seinem Talent überzeugt, dass er jede Zurückweisung als ein Zeichen dafür nahm, missverstanden und verkannt zu werden, wie einst, als man ihn aus dem Pädagogium warf oder die Familie Lemme ihm die Beleuchtung seines Zimmers verweigerte und seine Manuskripte als Papier für Münzrollen missbrauchte. Sein Selbstbewusstsein nährte sich daraus, dass er sich in der Schule und durch Eigenstudium ausgedehnte Kenntnisse erworben hatte, überzeugend argumentieren konnte und als Dichter, wenn auch oft nur in Nachahmung anderer, Leistungen erbrachte, wofür er hin und wieder Anerkennung erhielt. Zschokke verfügte über eine rasche Auffassungsgabe, einen wachen Verstand, ein gutes Gedächtnis und inzwischen auch über viel Sprachgefühl und zunehmende rhetorische Kraft. Der Stolz darauf und auf seine wachsenden geistigen Fähigkeiten, die ihn vor den Mitschülern und, wie er meinte, auch unter den Erwachsenen auszeichneten, wird in «Eine Selbstschau» kaum sichtbar. Man muss ihn aber zwingend aus anderen Zeugnissen und Zusammenhängen schliessen.

Sein erster schriftstellerischer Erfolg war das Gedicht «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna», das im letzten Stück des «Magdeburgischen Magazins» Ende Dezember 1796 erschien.227 Am 17. August 1786 war der preussische König Friedrich der Grosse gestorben. Als sein Neffe Friedrich Wilhelm II. inthronisiert wurde, beeilten sich Würdenträger, Beamte und Dichter, ihm in Prosa und Versen zu huldigen. Zschokke, der sich hinter dem Kürzel «J. Z. D......kke.» verbarg,228 hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: In einem sängerischen Wettstreit preisen zwei altgermanische Barden abwechselnd Friedrich den Grossen und Friedrich Wilhelm II.: Der alte König sei ein grosser Krieger und Beschützer der Unschuld gewesen, lobt der eine; der neue werde sich als Freund deutscher Musen unsterblichen Ruhm erwerben, meint der zweite. Dies war ein Wink an den neuen König, die deutschen Dichter und Künstler zu fördern. Friedrich der Grosse hatte bekanntlich die französische Sprache und Kultur bevorzugt und der deutschsprachigen Literatur Verachtung entgegengebracht. Nach Carl Günther weisen verschiedene Indizien auf Zschokke als Urheber dieses Stücks hin: jugendlicher Überschwang und unbeholfene Verse, der für den frühen Zschokke typischen Hang zu Originalität und die Tatsache, dass er sich damals intensiv mit der «Mythologie der alten Teutschen» befasste.229 Die Harfe, die Ortho und Sghuna anrufen, um den Tod des grossen Friedrichs zu beklagen und den deutschen Gesang wieder zu beleben, verweist auf Ossians Gesänge (erstmals auf Deutsch 1764), die als urtümlich keltische Lieder eines blinden schottischen Barden die Suche nach germanischen Sagen und Volksliedern anregten. Zschokke war ebenfalls von der Ossian-Begeisterung erfasst.230 Zschokkes Verse im «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna» waren bewusst unbeholfen, um die archaische Sprache und Welt der germanischen Helden und Sänger heraufzubeschwören und mit dem aktuellen Königtum zu verknüpfen. Wie Johann Gottfried Herder – oder vielleicht dank ihm? – war er fasziniert von einer sagenumwobenen, im mystischen Dunkel liegenden, grossartigen Vergangenheit der Völker.

TÖDLICHE KRÄNKUNGEN

Abgesehen von der «Selbstschau» sind Andreas Gottfried Behrendsens Aufzeichnungen die ergiebigste Quelle für Zschokkes Magdeburger Zeit und, soweit überprüfbar, zuverlässiger als jene.231 1785 lernte Zschokke Behrendsen bei der Familie Eltzner kennen, in einem Haus auf dem Werder, einer Insel in der Elbe. Dort lag auch die Bachmannsche Villa, ein Anziehungspunkt für Geistesgrössen und Dichter damaliger Zeit und Versammlungsort der Mittwochsgesellschaft.232 Davon bekam Heinrich nichts mit. Er hatte bei der Schwester seiner Mutter, einer geborenen Jordan, einen sonntäglichen Freitisch, das heisst, er durfte bei ihr zu Mittag essen, und traf dabei den zehn Jahre älteren Andreas Gottfried Behrendsen (1761–1841), einen Stuhlmacher mit philosophischen Neigungen, der um die jüngste Eltznertochter Juliana Charlotte warb. Bevor er sie im Juni 1787 heiratete, sah Heinrich ihn jede Woche einmal. Er schloss sich Behrendsen an und half dem aufgeweckten jungen Handwerker in der deutschen Orthografie, während dieser ihm seine Freundschaft anbot und ein Leben lang mit ihm verbunden blieb.233 Gerne erinnerte sich Zschokke, wie sie beide «mit einander an den Ufern der Elbe umherwandelten und über Gott und Welt gemeinsam philosophirten».234

Mit Bitterkeit registrierte Heinrich dagegen, dass er nicht bei allen Verwandten erwünscht war, dass die Freitische als Almosen verstanden und von seiner Schwester Lemme und von Tante Eltzner manchmal sogar gestrichen wurden.235 Für seine Auslagen standen ihm nur 60 Taler zur Verfügung, die sein väterliches Vermögen jährlich an Zinsen abwarf. Davon wurden die Kosten für Unterkunft und Schule abgezogen, und die restlichen acht Groschen in der Woche mussten für alle anderen Ausgaben reichen, «Licht, Papier, Trinken, Abendessen, Frühstük u. s. w.» Oft sei er hungrig ins Bett und morgens mit leerem Magen zur Schule gegangen, schrieb er in der Rückschau auf die für ihn schwierige Zeit. Um sein Taschengeld aufzubessern, zog er einen kleinen Buchhandel auf. Auch Behrendsen, auf den wir uns hier einzig abstützen, deckte sich bei ihm ein: «Rabeners Satyren und Just von Effens natürlicher Philosoph, wohl conditioniert in ganzem Franzband».236

 

Zu seinem Unglück war Zschokke nicht besonders geschäftstüchtig. Er nahm Kredite auf, um den Buchhandel zu finanzieren, ging Schulden ein, die er nicht zurückzahlen konnte und musste zu kleinen Betrügereien greifen. Vielleicht verspekulierte er sich mit Buchtiteln, die nicht den Absatz brachten, den er sich erhoffte. In einem einzigen Brief an Behrendsen äusserte er sich über diesen dunklen Fleck in seiner Kindheit:

«[...] in kleine Schulden verfallen, die ich nicht zu befriedigen im Stande war, ohne einen Freund der mir helfen konnte und wollte – Von Schwerin her Vorspieglungen eines bessern Lebens – sehn Sie, alles dies würkte dahin, daß ich, ehe ich fortfuhr, Lügner, kleiner Betrüger, Speichellekker und Stein des Anstosses zu sein, mich lieber durch einen gewagten Schritt in eine ruhigere, reellere von allen Schurkereien abgeschiedne Lebensart zu versezzen suchte, ob ich gleich einen übeln Nachruf zu hoffen hatte.»237

Ausser Behrendsen, Lemme und Henri Faucher hatte Heinrich in Georg Ernst Gottlieb Kallenbach (1765?–1832) einen weiteren Freund. Er war Schüler des Musikdirektors Johann Friedrich Zachariä an der Chorklasse am Altstädter Gymnasium,238 wohnte mit Heinrich in Reichards Haus und brachte ihm das Klavierspiel bei,239 mehr noch: den Sinn für Musik und musikalischen Geschmack.240 Jetzt, wo der Zwang fehlte, lernte Heinrich leicht, was ihm unter dem Klavierlehrer seines Bruders Andreas Mühe bereitet hatte. Er gewann einen neuen Zugang zur Musik und entdeckte die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe auszudrücken und einfache Melodien zu komponieren. Kallenbach vertonte später einige von Zschokkes Gedichten.241 Zu Zschokkes Enttäuschung blieb der Musiker – «ein vorzügliches, musikalisches Talent»,242 von dem er gehofft hatte, dass er «als ein glänzender Stern am musicalischen Horizont» aufgehen würde243 – in seiner Heimatstadt, wurde Organist an der reformierten Heilig-Geist-Kirche, Präfekt des Altstädter Schulchors, Gesangslehrer244 und Komponist von vielen «gefälligen und leicht singbaren Liedern».245

In Zschokkes Erinnerung an die drei oder vier letzten Jahre in Magdeburg, die er am Altstädter Gymnasium verbrachte, dominieren die negativen Erlebnisse, die in der grössten Kränkung seines bisherigen Lebens kumulierten, an welcher Schuldirektor Neide und Christoph Friedrich Wehrhahn (1761–1808), sein Lateinlehrer, die Hauptschuld trugen. Der Anlass war ein Schülerstreich, an dem Heinrich nicht einmal beteiligt war. Wir werden darüber von Zschokke unterrichtet,246 erhalten aber auch aus einem Brief Wehrhans einen entscheidenden Hinweis und ziehen daraus andere Schlussfolgerungen.

In Zschokkes Erinnerung brachte ein Mitschüler der Prima eine im Winterschlaf befindliche Fledermaus in die Schule, die er auf den warmen Ofen warf, gerade als der Lateinlehrer eintrat. Mitten in der Behandlung horazischer Oden wachte das Tier auf und flog im Zickzack durch das Schulzimmer. Der Lehrer duckte sich so ängstlich hinter sein Katheder, dass Heinrich unwillkürlich laut lachen musste. Der Lehrer habe ihn vor die Türe gestellt, und am Nachmittag sei die Klasse im Beisein aller Lehrer im grossen Auditorium versammelt worden. Rektor Neide habe die Schüler aufgefordert, den Schuldigen des Streichs zu nennen. Da keiner sich meldete, habe Wehrhahn gerufen: «Zschokke, Sie haben gelacht! Sie kennen ihn!» Weil Heinrich schwieg, habe Wehrhan demjenigen, der den Täter nenne, Geld angeboten. Das habe ihn, Heinrich so erzürnt, dass er gesagt habe: «Ich kenne ihn; nun aber nenn’ ich ihn nicht. Wir Schüler haben mehr Ehrgefühl als der, welcher daran so wenig glaubt, daß er uns, mit einem Thaler, zur Verrätherei kaufen will.»

Neide habe darauf die Versammlung abgebrochen und Heinrich unter vier Augen auf das Ungebührliche seines Betragens hingewiesen und erneut verlangt, den Schuldigen anzuzeigen. «Als ich noch immer verlegen schwieg, drohte er mir mit schimpflicher Verweisung vom Gymnasium.»247 Es wäre seine zweite Relegation gewesen. Heinrich wartete «mit Ungeduld», wie er schrieb, auf Vollstreckung des Strafurteils, und als sie nicht eintraf, entschloss er sich, freiwillig zu gehen.

Im «Blumenhaldner» wurde der Vorfall vom 14-jährigen Alfred Zschokke, der im Frühjahr 1840 die Redaktion besorgte, weiter ausgeschmückt. Erst hier wird der 36-jährige Wehrhan mit Namen genannt und als ehrwürdiger Greis bezeichnet, nicht zuletzt wohl, um mit der Schilderung seiner Ängstlichkeit und dem jähen Würdeverlust Zschokkes Lachreiz glaubhaft zu machen.248 In Alfred Zschokkes Version, die sicher in den wesentlichen Zügen auf die Erzählung des Vaters zurückging, lachte nicht nur Heinrich, sondern die ganze Klasse, und Wehrhahn sagte vorwurfsvoll: «Von Ihnen Zschokke, hätte ich das am wenigsten erwartet!»249

Diese Bemerkung könnte bedeuten, dass Heinrich zu den Vorzeigeschülern gehörte, man deshalb sehr darauf achtete, was er sagte und in ihn besonderes Vertrauen setzte. Man könnte daraus schliessen, dass Wehrhahn auch deshalb von ihm enttäuscht war, weil sein Lieblingsschüler sich nicht von dem Vorfall distanzierte. So harmlos war der Streich nämlich gar nicht, wie man einem Brief Wehrhahns an Zschokke vom 5. März 1805 entnimmt, wo nicht von einer Fledermaus, sondern, im Plural, von «eingeschwärzten Fledermäusen» die Rede ist.250 Falls der Schüler mehrere Fledermäuse mitbrachte und mit Russ oder Tinte färbte, so warf er sie sicher nicht aus Gedankenlosigkeit auf den Ofen, wie Zschokke behauptete, sondern in der Hoffnung, dass sie im Schulzimmer ein Chaos veranstalten würden.

Es stimmt ebenfalls nicht, dass Zschokkes Aussageverweigerung kein Verständnis gefunden oder nicht wenigstens nachträglich akzeptiert worden wäre. Wehrhan berichtete Zschokke in seinem Brief, dass er diesen Vorfall Freunden als Beweis des «Römermuts» seines Schülers erzählt habe, an den er sich gern und mit Stolz erinnere. Wehrhan bot ihm seine Freundschaft an und wollte mit Zschokke in einen regelmässigen Briefwechsel treten, als er 1804, als Pfarrer in Liegnitz in Schlesien, erfuhr, wo sich sein ehemaliger Schüler aufhielt. Aufs Geratewohl schickte er einen Brief in die Schweiz und erhielt eine Antwort, über die er sich sehr freute. Der frühere Ärger und allfällige Missverständnisse waren da schon längst ausgeräumt: «Denken Sie noch des Mannes, dem Ihre Ausarbeitungen immer so viel rühmliche Arbeit und so viel Freude machten?»251 Was kann mit diesen «Ausarbeitungen» anderes gemeint sein als freiwillige schriftstellerische oder wissenschaftliche Arbeiten, die Heinrich seinem Lehrer zur Begutachtung vorlegte? Wehrhan hegte selber literarische Ambitionen, schrieb Erzählungen, Romane und einen Bericht von seiner Teilnahme als Feldprediger am preussischen Feldzug 1792 gegen Frankreich, von dem er erst nach drei Jahren aus der Gefangenschaft zurückkehrte.252

Es ist eigenartig, dass Zschokke den Namen Wehrhahn in seiner Autobiografie nicht namentlich erwähnte, obwohl er ihm offenbar viel verdankte und zwei Briefe von ihm aufbewahrte, in denen Zuneigung und Wertschätzung deutlich zum Ausdruck kommen. Wehrhan schrieb ihm, dass er alle von Zschokke erreichbaren Werke gelesen habe, und bat ihn um ein Verzeichnis sämtlicher Schriften, um das noch Versäumte nachzuholen. Daraus kann man ebenfalls entnehmen, dass er sich als Förderer oder mindestens Begleiter seiner ersten schriftstellerischen Schritte sah und sein Schicksal weiter verfolgen wollte, zumal sich Zschokke als Dichter und in der Schweiz als Politiker einen glänzenden Ruf erworben hatte.

«Gleichfalls interessant würde es mir seyn, wenn Sie sich die, in Rücksicht meiner Sehnsucht denkbare, Mühe nehmen und mir in einem kurzen Abriß die Hauptepochen Ihres Lebens von Ihrem Weggang von unsrer damahligen Schule an bis jetzt entwerfen wollten, besonders Ihre Ankunft und Ihr Emporkommen in dem romantischsten Lande der Welt, in der Schweiz. Ich bedarf würklich solcher erhebenden Freude, wie mir Ihr Schreiben mit solchem Inhalt machen würde, da mein Leben anjetzt das trübste ist.»253

Der Name seines Lehrers musste Zschokke noch geläufig sein, als er «Eine Selbstschau» verfasste. Wehrhahns Sohn Otto Friedrich (1795–1860), ebenfalls Pfarrer, besuchte ihn nämlich 1839 in der «Blumenhalde» und übernachtete vielleicht sogar dort.254 Es war wohl Rücksichtsnahme, dass Zschokke seinen Namen nicht nannte, da er Wehrhan nur als Zerrbild auftreten liess. Auch Rektor Neide erinnerte sich übrigens gern an Zschokke und wünschte sich gelegentlich Nachrichten von ihm, wenn er nach Magdeburg schreibe.255

So schlimm kann für Zschokke die Altstädter Schule und der Umgang mit den Lehrern und Mitschülern also nicht gewesen sein, und wenn er einen Leidensdruck spürte, so kam er aus einer anderen Richtung, aus privaten Konflikten oder seinen Versuchen, sich als Dichter in Szene zu setzen. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen», wo die Affäre mit der Fledermaus keine Erwähnung findet, werden zwei Gründe für seine wachsende Unzufriedenheit genannt. Erstens seien von seinen Mitschülern «neben und unter ihm» schon einige auf die Universität gegangen. «Ihm ward es, wegen zu großer Jugend, nicht erlaubt.»256 Es war zum Teil also Ehrgeiz oder Ungeduld, was ihn dazu trieb, sich von der Schule wegzuwünschen und «in Freiheit zu setzen». Zweitens habe er in den vorangegangenen Jahren alles Mögliche durcheinander gelesen: «Heut Swedenborg, morgen Spinoza, Albertus Magnus und die flagella daemonum neben Plutarch und Plato; und Lohenstein und Broke neben Ossian, Shakespeare und Schiller.»257 In «Eine Selbstschau» schilderte er eindringlich, wie ihn die «Masse sich widersprechender Lehren und Meynungen», all sein Wissen «ins Chaos von Ungewißheiten» geführt hatte.258 Er registrierte eine «muthlose Abspannung», die er auf das nächtelange Lesen und seine sitzende Lebensweise zurückführte. Er habe sich von seinen Mitschülern und Freunden zurückgezogen; Kallenbach blieb am Schluss sein einziger Umgang.259 Zschokke notierte: «In düsterer Verachtung des Lebens, der Welt und seines Selbstes stand er dem Untergang nahe; instinktartig sehnte er sich hinweg aus dieser Qual, ins Weite, ins Freie, in andere Umgebungen hinaus.»260

Vielleicht kann man es auch nüchterner sehen: Er hatte Magdeburg satt, genug von den engen, ihn beengenden Verhältnissen, genug von mäkelnden Verwandten, missgünstigen Schülern, der kränkenden Zurückweisung durch Menschen, auf deren Urteil er Wert legte. Er hatte Geldsorgen, Schulden angehäuft, sich durch Betrügereien und Lügen in Verruf gebracht. All dem wollte er entrinnen. Er ging also zu Ziegener, dem Vormund, der sich seine beredten Ausführungen, weshalb er zur Universität zu gehen beabsichtigte, mit unbewegtem Gesicht anhörte und entgegnete: «Universität? Ja, ja! dafür schlägt die Glocke wohl nach zwei Jahren noch zu früh für Dich!»261 Darauf habe er sich entschlossen wegzulaufen, ohne den Segen seiner Familie und ohne das Geld, das ihm aus der Erbschaft noch zustand. Er war sich bewusst, dass seine Flucht den schlechten Ruf, den er in Magdeburg hatte, festigen würde.