Heinrich Zschokke 1771-1848

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1795 sah er dieses Verhältnis noch nicht so grell, denn arm waren die Bewohner des oberen Zürichsees sicher nicht, und von Sklaventum konnte keine Rede sein. Dennoch war der rechtliche Unterschied zwischen den Bürgern in den Stadtmauern und den Landbewohnern auffallend genug, um der Sache nachzugehen. Da man im Ausland noch wenig über den Stäfner Aufstand wusste, lockte es Zschokke, sich damit zu befassen und sechs Kapitel der «Wallfahrt» mit über siebzig Seiten dabei zu verweilen.

Blick von Netstal auf den Glärnisch, den Zschokke von Glarus aus an einem Nachmittag besteigen wollte. Stich von H. Thomann.

Unversehens mündet die Reisebeschreibung also in einen politischen Bericht; Zschokke fand es unnötig, dies zu rechtfertigen. Von Anfang an hatte er geplant, in der Schweiz nicht nur die Landschaften aufzusuchen, sondern das Staatswesen zu studieren, um sich danach in Paris nach den Folgen der Revolution umzusehen. Mit dem Aufstand von Stäfa hatte er ein regional begrenztes, aber interessantes politisches Ereignis gleichsam vor der Haustür, das er nicht unbeachtet lassen wollte. Entscheidend für Zschokke war wohl nicht nur die Aktualität dieses Ereignisses, sondern auch die Möglichkeit, mit Vertretern beider Seiten zu reden und durch die Stäfner an Dokumente zu gelangen, die von den Zürchern unter Verschluss gehalten wurden.

In erster Linie war dies das Memorial des Stäfner Ofenbauers Heinrich Nehracher und des Chirurgen Johann Kaspar Pfenninger, genauer der Entwurf dazu. Unterstützt von Gesinnungsfreunden stellten sie darin Forderungen einer rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Besserstellung der Landbevölkerung. Geschickt verknüpften sie dies mit dem Gedanken der Aufklärung, des Naturrechts und der unveräusserlichen Menschenrechte. Damit ging es nicht mehr um die Forderungen einzelner unzufriedener Leute, sondern um ein Prinzip. Zschokke arbeitete in seiner Darstellung die Kernpunkte heraus und zitierte das Memorial ausgiebig, vorerst ohne dazu Stellung zu nehmen. Im Wesentlichen sagte das Memorial das, wovon auch Zschokke überzeugt war: «Die Regenten [...] sowohl die monarchischen, als republikanischen, sind ihrer Natur und Entstehung nach nichts anders, als Repräsentanten des Volks. Das Volk ist auch nicht um ihrentwillen, sondern sie sind um der Völker willen da und haben die Pflicht, dieselben glücklich zu machen, so wie ihnen das Volk Achtung, Gehorsam, Sicherheit und Unterhalt schuldig ist.»129

Statt das Memorial mit dem Titel «Ein Wort zur Beherzigung an unsere theuersten Landesväter» zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen, verhaftete die Obrigkeit die Verfasser und verwies sie des Landes. Die Abschriften des Memorials – es lag noch nicht gedruckt vor – wurden beschlagnahmt und verbrannt. Die Bevölkerung wurde in einer «landesväterlichen Erklärung», die in der Kirche vorgelesen werden musste, vor Neuerungssucht und Umsturzversuchen gewarnt.130

Zschokke war von der Argumentation der Stäfner überzeugt, bemühte sich aber, auch die Reaktion der Stadtregierung zu erklären. Der Tonfall der Petitionäre sei zu heftig, der Vorwurf des Despotismus zu brüsk gewesen, als dass die Zürcher die Sache auf sich hätten beruhen lassen können. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution habe die Gefahr einer gewaltsamen Störung der Landesruhe bestanden, und ein Nachgeben hätte Zürich um seine wirtschaftlichen Vorteile gebracht: «Das Land wäre blühend geworden, die Stadt daneben verarmt.»131 Da Zürich nur nach innen eine Demokratie, nach aussen aber eine Aristokratie sei, indem «die Bürger der Stadt allein das ausschliessende Recht zur Besetzung der öffentlichen Ämter, zur Handelsschaft und Betreibung gewisser Professionen besitzen»,132 habe die Regierung Vorkehrungen treffen müssen, «um den Geist des Auflehnens wider die Obrigkeit, Landesconstitution und Gerechtsame der Stadtbürger nicht allgemeiner, oder wohl gar zum Bürgerkriege werden zu lassen».133

Weil die Stäfner einsahen, dass sie auf diesem Weg nicht weiterkamen, begannen sie alte Rechte einzufordern und fanden Urkunden, wo solche Privilegien auf ewige Zeit verbrieft worden waren. Auch hier zitierte Zschokke: aus dem Waldmannschen Spruchbrief von 1489 und aus dem Kappeler Brief von 1532. Wieder gelangten die Stäfner an die Zürcher Regierung, worauf diese erklärte, dass diese Briefe null und nichtig seien. Als die Stäfner mit dieser Antwort nicht zufrieden waren, wurde Militär aufgeboten und das Dorf besetzt. Diesmal wurden zahlreiche Männer verhaftet und über 247 Landleute und die fehlbaren Gemeinden drakonische Urteile ausgesprochen. Gegen die sechs Hauptverurteilten wurde vor dem gaffenden Volk eine Scheinhinrichtung vollzogen. Dies hatte sich kurz vor dem Eintreffen Zschokkes in Zürich abgespielt.

«Mag auch dieses harte Verfahren Zürichs durch die politische Nothwendigkeit, mit welcher auch wohl grössere Kabinete in unserm philosophischen Zeitalter ihren Meineid rechtfertigen, entschuldigt werden können; – so weiß ich durchaus nicht, mit welchen rechtlichen Gründen die Moralität dieser Handlung erweislich zu machen wäre.»134 Mochte Zschokke einige Leser über seinen Standpunkt bisher noch im ungewissen gelassen haben – jetzt war es klar, auf welcher Seite sein Herz schlug. Ihn beeindruckten das Selbstbewusstsein der Stäfner, ihre sittlichen Werte und ihre Bildung, die sie von preussischen oder mecklenburgischen Bauern deutlich unterschieden. Ihr hoher kultureller Stand legitimierte in seinen Augen die Forderung, als gleichberechtigte Bürger behandelt zu werden. Sie hatten den Untertanengeist der Vergangenheit hinter sich gelassen und die «Barbarey des 18. Jahrhunderts» an den Pranger gestellt.

Die Zürcher Regierung hatte sich mit ihrer harten Haltung diskreditiert. Diese Meinung Zschokkes teilten viele aufgeschlossene Bürger, die es aber nicht öffentlich zu sagen wagten. Alle Druckschriften, die sich mit dem Stäfner Handel befassten, wurden unterdrückt. Die lokalen Zeitungen – die Mittwochs- oder Zürcher Zeitung, das Donnerstags-Blatt und die Freitagszeitung – mussten wie üblich schweigen. Als an einem unbekannten Druckort «Briefe eines Deutschen über die politischen Bewegungen im Kanton Zürich» erschienen, wurden sie als Schmähschrift beschlagnahmt und wie schon das Memorial verbrannt.135 Dennoch wurden sie im ganzen Kantonsgebiet unter der Hand herumgereicht.136 Auch Zschokke scheint ein Exemplar für seine «Wallfahrt» benutzt zu haben. Nicht nur der Umgang der Stadt mit der Landbevölkerung, sondern auch die Gerechtigkeit und Wahrheit stand zur Debatte.

Das Studium der Akten zum Stäfner Handel gab Zschokke wertvolle Informationen zum Funktionieren einer Republik, ihren Stärken und Schwächen und einen vertieften Einblick in politische Abläufe in einer Gesellschaft mit ungleicher Macht. In der Republik hatte das Volk Stimme und Gewicht; der Gesellschaftsvertrag im Sinne Rousseaus war Realität. Aber obschon die Forderung nach politischen Änderungen durch das Volk legitimer als in der Monarchie zu sein schien, setzte sich auch hier dem Volkswillen Widerstand der Herrschenden entgegen. Es brauchte Mut, Opferbereitschaft und einen langen Atem, um sich durchzusetzen. Der Stäfner Handel bot Zschokke Gelegenheit, sich erstmals konkret mit den Mechanismen der Demokratie auseinanderzusetzen. Die Einsichten, die er dabei gewann, waren entscheidend für sein künftiges politisches Engagement. Er war sich dessen jedoch noch nicht bewusst, sondern sah sich als unbefangener Beobachter, der Studienmaterial für interessierte Freunde wie Carl Renatus Hausen sammelte.137

Offiziell und in seiner «Wallfahrt» liess sich Zschokke von seiner guten Meinung gegenüber Zürich nicht abbringen; auch seine privaten Briefe, die er aus Zürich schrieb, sind von Begeisterung getragen. «Einheimisch» sei er geworden in Zürich, teilte er im November nach Frankfurt (Oder) mit und einen Monat später: «Zürich wird mir unvergeslich bleiben.»138 Gleichentags meldete er seinem Neffen Gottlieb Lemme: «Mein vierteliähriger Aufenthalt in Zürich hat mich in aüsserst schäzbare Verbindungen gebracht», und: «Man hat Versuche gemacht mich den ganzen Winter hier zu behalten; ich sollte Vorlesungen über die kantische Philosophie halten.»139

Dies war für einen ehrgeizigen jungen Mann ein schmeichelhaftes Angebot. Er hatte sich als philosophisches Genie in Zürich eingeführt, wie von drei verschiedenen Seiten bezeugt wird: vom siebzigjährigen Johann Caspar Hirzel in dem schon erwähnten Brief, von einem Ratssubstitut Hirzel (1770–1829), der sich auf eine Erkundigung aus Chur so äusserte,140 und selbst von Lavater, der, obwohl er Zschokke nicht persönlich sah, über ihn schrieb:

«Tschokke ist mir lange schon eines der merkwürdigsten Phänomene in der Zeit und dem Raume, die uns angewiesen sind – Nie höhrt’ ich diesen Namen, ohne eine Art von sonderbarer Sensation – ohne den leisen Wunsch, ‹den ganz üniken, freyen, kühnen Tiefdenker kennen zulernen›.»141

Wieso blieb er aber nicht in Zürich, wo er sich so gut installiert, Freunde gewonnen hatte und in den Gesellschaften gern gelitten war? Befürchtete er, sich mit seinen Vorträgen als religiösen Freidenker oder mit seinem Urteil über den Stäfner Handel als Anhänger des Aufstands zu kompromittieren? Bisher lag der zweite Band der «Wallfahrt» erst im Manuskript vor, und der Druck wurde vorsichtshalber auswärts gegeben,142 aber alle Schutzmassnahmen waren nicht imstande zu vermeiden, dass man ihn als Autor erkannte. Der Grund, den Zschokke selber angab, war, dass ein verlängerter Zürcher Aufenthalt dem Zweck seiner Reise nicht entsprochen hätte. Lieber wollte er noch eine weitere Schweizer Stadt kennen lernen. Gemeint war Bern, wohin er eine Reihe von Empfehlungsschreiben besass.143 Ausserdem hatte sich für ihn die Option eröffnet, einen Kenner Frankreichs nach Paris zu begleiten, und wenn er mit wollte, musste er sich dessen Zeitplan fügen.

 

ERSTE BEGEGNUNG MIT BERN

Im Kratzquartier war der schlesische Publizist Konrad Engelbert Oelsner (1764–1828) Zschokkes Nachbar geworden, dessen «Historische Briefe über die neuesten Begebenheiten in Frankreich» ihm bekannt waren.144 Mit seiner Artikelreihe, die vom August 1792 bis März 1793 in der Hamburger «Minerva», einer renommierten politischen Zeitschrift, erschienen war, hatte Oelsner sich als Kenner der französischen Zustände nach der Revolution ausgewiesen, vergleichbar mit Ludwig Börne im «Morgenblatt für gebildete Stände» ab 1822 und Heinrich Heine in der «Allgemeinen Zeitung» Cottas ab 1831. Er hatte die Revolutionsführer persönlich kennen gelernt, war sogar mit Abbé Emmanuel Joseph Sieyès befreundet, dem Autor der Schrift «Was ist der Dritte Stand?», über den er verschiedene Artikel schrieb, und galt als unbedingter Anhänger der Französischen Revolution und Verteidiger der französischen Aussenpolitik, was ihm den Ruf eines deutschen Jakobiners eintrug.

Oelsner besass zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Zschokke: Sie waren beide norddeutscher Abstammung, Söhne von Tuchmachern, hatten an der Viadrina studiert (Oelsner ab 1781 Rechtswissenschaften) und bei Professor Hausen gewohnt. Von Frankfurt (Oder) aus hatte ihre Laufbahn eine andere Richtung genommen: Während sich Zschokke auf dem Feld der Philosophie und der Belletristik tummelte und eine Professur anstrebte, übte Oelsner den Beruf eines Hauslehrers aus, reiste nach Wien und in die Schweiz, wo er mehrere Monate blieb, und kam im Juli 1790 nach Paris, um sich als Journalist zu etablieren und auf Tagespolitik zu spezialisieren. Zweimal wurde er verhaftet; im April 1794 floh er in die Schweiz und fand in Zürich bei Paul Usteri Aufnahme, wurde aber schon im Herbst weggewiesen, ging nach Bern, kehrte im April 1795 nach Frankreich zurück und im Herbst desselben Jahres wieder nach Zürich. Da er von seiner Journalistik immer weniger leben konnte, sah er sich nach einem Betätigungsfeld im diplomatischen Dienst um.

Als Zschokke erfuhr, dass Oelsner demnächst wieder nach Frankreich fuhr, bat er, mitgehen zu dürfen. Er hätte sich keinen besseren Führer durch das politische Paris wünschen können. Aus Briefen Oelsners an Usteri lässt sich herauslesen, dass Oelsner zögerte, seinem Wunsch nachzukommen, Usteri ihm aber zuredete.145 Am 10. Dezember konnte Zschokke den Damen Schulz und Apitz nach Frankfurt (Oder) melden, dass sie handelseinig geworden seien: «Er verspricht mir, mich mit einigen der ersten Männer der Revolution in Paris in Verbindung zu bringen – da bin ich nun sehr neugierig; daß er allerdings in solchen Verbindungen steht, hab’ ich hinreichende Beweisgründe zu glauben.»

Da die Abreise von Zürich rasch vonstatten ging, blieb nicht viel Zeit fürs Abschiednehmen. Auf eine Nachricht Oelsners machte Zschokke sich reisefertig, und am folgenden Tag sassen sie in einer Kutsche nach Bern, während der Wind Regen gegen die Fenster peitschte.146 Zschokke war das schlechte Wetter gerade recht; so konnte er sich die ganze Reise über mit Oelsner unterhalten. Die einzige nennenswerte Abwechslung unterwegs war die Begegnung mit dem Aarauer Gelehrten Georg Ludwig Schmid (1720–1805) in Lenzburg, der mit den französischen Philosophen Holbach, Diderot, Helvetius und La Mettrie auf vertrautem Fuss gestanden hatte und Autor des «Essai sur divers sujets intéressants de politique et de morales» (1769–1771) und der «Principes de la Législation Universelle» (1776) war.147 «Er ist ein liebenswürdiger Greis und lebt in philosophischer Einsamkeit, als Weltbetrachter.»148

Durch Briefe Oelsners an Usteri erfahren wir etwas mehr über diese Fahrt. Kurz nach ihrer Ankunft in Bern schrieb Oelsner: «Dr. Z. hat mich auf der Reise hieher mehr als einmal belustigt. Er kennt die Welt durch aus nicht, und beurtheilt alles was ihm neues begegnet nach seinem einzigen Universitätstypus. Das giebt dann sehr possierliche Resultate. In Morgenthal speisten wir zu Nacht und in Kilchberg zu Mittage mit drey hiesigen Regierungsgliedern die aus Arau kamen. Z. war sehr höflich, aber seine Neugier sündigte bey jedem Worte gegen die Konvenienz, und gab zu höchst pikanten Situationen Anlaß.»149

Zschokke musste noch lernen, dass in Bern Gespräche bestimmten Konvenienzen folgen mussten. Wo die MGHH regierten, «Meine gnädige Herren», wie sie sich anreden liessen, lebte man standesbewusst und hielt Abstand zu Fremden, vor allem, wenn man ihren Status und ihre Absichten nicht kannte. Während in Zürich schon die erste Begegnung zu einem herzlichen Umgang führen konnte,150 galt dies in Bern als ungehörig. Ob Zschokke dies merkte, ist unklar, geschrieben hat er in der «Wallfahrt» nichts darüber. Aber er hielt sich in der Beschreibung Berns ohnehin zurück und charakterisierte seinen Aufenthalt in der Stadt mit ganzen vier Zeilen, obwohl er mit Unterbrechungen ein halbes Jahr dort verbrachte. Seine Leser vertröstete er auf später151 und schob stattdessen ein Verzeichnis von Mundartwörtern in teils drolliger Schreibweise und mit skurrilen Definitionen ein.152

Er nahm sich im «Falken» an der Marktgasse ein Zimmer, im «berühmtesten Gasthof im Alten Bern»,153 wo vor ihm schon Goethe mit dem Herzog von Sachsen-Weimar und – inkognito – Kaiser Joseph II. (im Jahr 1777 zu Besuch bei Albrecht von Haller) abgestiegen waren. Nach wenigen Tagen holte ihn Oelsner ins Amtshaus des Architekten und Werkbaumeisters Niklaus Sprüngli (1725–1802) auf die Grosse Schanze im Westen der Altstadt, wo auch Oelsner untergebracht war.154 Dort sah Zschokke auf der einen Seite die schneebedeckten Berner Alpen, und wenn er sich nach hinten in den Garten begab, die dunkle Kette des Juras. «Nie hab’ ich einen so schönen Sonnenuntergang gesehn, als gestern Abend über den silbernen Gletschern», schwärmte er kurz nach seinem Umzug.155

Auch in Bern wurde Zschokke zu Abendgesellschaften oder Soirées, wie man sie hier eher nannte, geladen, besuchte Konzerte und Redouten und durfte die Bibliotheken benutzen.156 Entscheidend wurde für ihn die Bekanntschaft mit den Mitgliedern des «Göttinger Leists», in den Oelsner ihn einführte, eine Gesellschaft politisch fortschrittlicher Gelehrter, die freilich nur zum Teil in Göttingen studiert hatten. Sie besassen einen grösseren Horizont als der durchschnittliche Berner Patrizier, der seine Ausbildung und mindestens den Anfang seiner Karriere in Bern verbrachte, abwechselnd in der Stadt oder auf seinem Landsitz lebte oder in einem bernischen Untertanengebiet eine Verwaltungsaufgabe erfüllte. Professor Johann Samuel Ith (1747–1813), der Mathematiker und Geodät Johann Georg Tralles (1763–1822), der Arzt Albrecht Rengger (1764–1835) und der Theologe und Professor Philipp Albert Stapfer (1766–1840) gehörten zu den Göttinger Absolventen, die Zschokke damals traf.157

Im «Falken» begegnete Zschokke dem jungen Schwyzer Offizier Aloys Reding (1765–1818), zu dem er sich spontan hingezogen fühlte. Er hatte in der spanischen Armee gedient, war 1794 als Oberstleutnant ausgeschieden und führte jetzt offenbar das angenehme Leben eines Privatiers, hatte aber seine bedeutendste Zeit und einen steilen politischen Aufstieg noch vor sich.158

Der Jahreswechsel 1795/96 brachte schönes und mildes Wetter, das Zschokke nutzte, um mit einem Bekannten einen Ausflug nach Solothurn und durchs Berner Seeland zu unternehmen159 und die St. Petersinsel aufzusuchen, wo einst Rousseau Zuflucht gefunden hatte. An Türen und Wänden von Rousseaus Kammer, im oberen Stock eines Gasthauses, hatten sich zahlreiche Besucher verewigt; auch Zschokke trug sich ein und verharrte, ungestört von anderen Menschen, eine Stunde im Gedenken an den grossen Schweizer Philosophen.160

Zurück in Bern packte ihn – um den 7. Februar herum – das Tertianfieber, das ihn in Bayreuth so gequält hatte.161 Es hinderte ihn daran, Oelsner nach Genf zu begleiten, nicht aber, in den fieberfreien Tagen an der «Wallfahrt nach Paris» zu schreiben. Von seinen Gastgebern wurde er liebevoll gepflegt, das heisst hauptsächlich von den Töchtern Sprüngli, von denen die beiden jüngeren sich in einem für Zschokke interessanten Alter befanden.162 Als Hausarzt zog er den mit Paul Usteri eng befreundeten, viel beschäftigten Albrecht Rengger bei, dem sein Patient nicht sonderlich auffiel. So existieren von dieser Seite keine Briefe an Usteri mit Bemerkungen über Zschokke.163

Wieder genesen, musste sich Zschokke auf Anweisung des Arztes weitere zwei bis drei Wochen schonen und Molke trinken. Dies teilte er Ende Februar seinem Neffen mit und fuhr fort: «Ich habe mir ein Fortepiano gemiethet und noch dazu ein englisches! ich habe mich wieder aufs Zeichnen gelegt. Da wird nun gespielt, gezeichnet, gelesen, geschrieben, – mit unter mahl ein Kus gegeben – ein Besuch angenommen – so soll mir mein Stubenarrest, und der Winter in Bern nicht lang werden.»164

Es entstanden Vertonungen von Liebesgedichten wie «Verschwiegene Liebe» und «Der böse Amor»,165 nicht mehr als Tändeleien, die zeigen, dass Zschokke sich unter den Sprüngli-Töchtern wohl fühlte und sie sich seine Andichtungen gefallen liessen. Im Hintergrund wachte die älteste Schwester über die Sittsamkeit der jüngeren, und auch die Mutter befand sich im Haus, die Zschokke lange nicht zu Gesicht bekam, weil sie wegen eines Beinbruchs gezwungen war, das Zimmer zu hüten.166

Andere Kompositionen und Gedichte aus der Berner Zeit sind eher schwermütiger Art oder besingen die Schweizer Berge und bringen die Sehnsucht zum Ausdruck, in der Schweiz eine neue Heimat zu finden. Hier sticht das Gedicht «Mein Wunsch» hervor, das Zschokke im Herbst 1795 in Glarus schrieb und unter dem Titel «Sehnsucht nach Ruhe» im März 1796 vertonte.167

«Der böse Amor». In Musik gesetzt von Zschokke im März 1796 nach eigenen Versen. Von Zschokkes Kompositionen existieren mehrere Versionen. Hier schrieb sein jüngster Sohn Olivier die Lieder ab und schenkte sie an Weihnachten 1842 seinem Bruder Emil.

ABSTECHER NACH PARIS

Gegen Ende März tauchte Oelsner, von Zschokke ungeduldig erwartet, in Bern wieder auf; in Genf hatte er mit dem französischen Residenten Resnier, dem er vermutlich als Informant diente,168 wegen einer Anstellung in Paris verhandelt.169 Noch bevor die Reise in Angriff genommen wurde, kam es zu Missklängen. Der junge Magdeburger gefiel Oelsner immer weniger; er betrachtete ihn als lästigen Störenfried und beklagte sich bei Usteri, der ihn ja empfohlen hatte:

«Mit meinem Reisegefährten bin ich wieder einmal recht derb zusammen gerathen. Er ist ein eingebildeter eigensinniger, eitler Mensch, ein Hypochonder, ein schwerfälliger Narr. Ich hab ihn nicht gesucht; er hat sich an mich angeschlossen, und meine gutmüthige Gefälligkeit nichts dagegen gethan. Aber ich glaube die Partie ist ein wenig ungleich. Ich sehe nicht ein was ich in seinem Umgange vielmehr gewinnen kann, als Geduld. Seine Urtheilskraft ist noch in keinem Fache ausgebildet. Die Welt und die Menschen kennt er gar nicht – Aus Worten die ich zum Zeitvertreibe sage, macht er mir eine Sache der Eigenliebe, und spinnt Dispüten an[,] die am Ende in die lächerlichste oder vielmehr langweiligste Rechthaberey ausarten, das alles entweder weil er auf keine leichte Art zu konversiren vermag, oder eifersüchtig ist auf das was leichtes gesagt wird.»170

Es scheint eine Vereinbarung gegeben zu haben, wonach Zschokke Oelsner für seine Dienste als Reiseführer und Vermittler entschädigen sollte – in einem Brief ist von zwei Karolin die Rede, die Oelsner schon erhalten habe171 – und ihn daher wie selbstverständlich für Gespräche über französische Politik in Beschlag nahm. Tiefsinniges Räsonnieren und hartnäckige Wortklauberei mit einem schwerfälligen jungen Deutschen war Oelsner, der sich an den Esprit der Franzosen gewöhnt hatte, ein Ärgernis.

«Das Disputiren ist mir verhaßt, noch mehr aber der kleine Geist, der mir oder andern, die nämlichen Motife der Eigenliebe zutraut oder aufbürdet, die in ihm selbst spielen. Ich seh nicht ein warum ich mich quälen soll. Mein Partner wird mir über dem nie verbindlich seyn, da er meint daß die Vortheile unsers Umgangs ganz gegenseitig sind. Ich bin der Sache müde geworden, und habe den Kauf aufgekündigt.»172

 

Falls Oelsner damit meinte, dass er kein Geld mehr verlangte und sich seiner Verpflichtungen entledigte, war dies ein herber Schlag für Zschokke. Er durfte Oelsner zwar nach Paris begleiten – die gemeinsame Fahrt in einer Mietkutsche machte die Ausgaben für den Einzelnen leichter –, aber ihn nicht mehr in Anspruch nehmen. Zschokke, der auf seine gelehrte Weise versucht hatte, Oelsners Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte genau das Gegenteil erreicht. Es ist anzunehmen, dass er die wachsende Ungeduld hinter Oelsners Höflichkeit lange nicht wahrnahm, nicht aus Eigenliebe, wie der andere ihm unterstellte, sondern weil er die gleiche Offenheit und Direktheit erwartete, die er anderen entgegenbrachte.

Einmal überreichte er Oelsner ein druckfrisches Exemplar seiner «Arkadien, oder Gemälde nach der Natur, gesammelt auf einer Reise von Berlin nach Rom», das der Beschenkte in den höchsten Tönen pries und gar mit den Werken Salomon Gessners verglich: «Ich habe nie etwas liebenswürdigeres im Fach der Idylle gesehn, als dieses reizende Produkt.»173 Aber Zschokke versäumt es, sich ihm als Autor zu nennen und so Oelsners Wertschätzung, wenn schon nicht als politischer Philosoph und staatsmännischer Denker, so wenigstens als Dichter, zu gewinnen. Zu allem Unglück waren sie Konkurrenten auf dem Gebiet der Publizistik. Vermutlich ging es Zschokke mit Oelsner ähnlich wie mit dem Zürcher Leonhard Meister: Während ihn selber ein Schreibwettstreit anspornte und zu Höchstleistungen trieb, fühlte sich der andere beeinträchtigt von der Leichtigkeit, mit der Zschokkes Feder druckreife Texte entsprangen.

Über seine Reise nach Paris schrieb Zschokke zwei Berichte. Der erste erschien im November im «Berlinischen Archiv der Zeit und des Geschmacks» und enthielt die Anreise von Basel nach Belfort und einige grundsätzliche Reflexionen und entstand erst nach seiner Rückkehr nach Bern.174 Die Datierung der Niederschrift lässt sich deshalb bestimmen, weil Zschokke noch einen Brief hineinarbeitete, den Professor Hausen ihm am 10. Juli geschickt hatte.175

Der zweite Beitrag erschien schon im Juni im «Neuen Teutschen Merkur» mit Zschokkes Impressionen von den ersten Tagen in Paris.176 Falls Oelsner davon erfuhr – und wie sollte er nicht? –, ärgerte es ihn womöglich, dass Zschokke Zugang zu Christoph Martin Wielands Zeitschrift erhalten hatte, nachdem Oelsner 1790 nach den ersten «Proben des angekündigten Pariser-Tagebuchs» abgeblitzt war.177

Es konnte Oelsner nicht trösten (weil er nichts davon wusste), dass Zschokke als 18-Jähriger bei Wieland ebenfalls mit einem Beitrag für den «Teutschen Merkur» aufgelaufen war. Ausserdem erging es ihm mit seinen Pariser «Briefen eines Nordteutschen an einen Freund in Z.» ähnlich wie Oelsner: Wieland zensierte sie und fügte Anmerkungen hinzu, die seine Abscheu vor dem revolutionären Getümmel in Frankreich ausdrückten. Zschokkes Aufsatz wurde vielleicht nur deshalb aufgenommen, weil der «Freund in Z.», Heinrich Gessner, an den der Brief sich richtete, Wielands Schwiegersohn war.178

Ein Zeitungshonorar hatte Zschokke im Übrigen genauso dringend nötig wie Oelsner, falls er nicht ebenso darum betrogen wurde. Kurz vorher hatte Oelsner seinem Freund Ebel geschrieben, dass er für alles, was bisher von ihm gedruckt worden sei, nur 25 Louisdor erhalten habe; «als Schriftsteller arbeitet man sehr ungesund, stirbt Hungers, und wird noch vielleicht obendrein, von den elendesten Schuften in der Welt von teutschen Zeitungsschreiern ausgehunzt. Die Verleger sind abgefeimte Spizbuben.»179 Statt sich miteinander abzustimmen, waren Oelsner und Zschokke auf der Jagd nach Zeitungshonoraren jetzt Rivalen geworden.

Ende März brach die Reisegesellschaft auf, über Basel, um sich beim französischen Gesandten Barthélemy Reisepässe zu beschaffen.180 Zschokke blickte sich kurz in der Stadt um, die in seinem rasch gefällten Urteil einem Vergleich mit Zürich nicht standhielt, und besorgte für alle Teilnehmer französische Kokarden: Revolutionsabzeichen, die an den Hut gesteckt wurden, um sich vor dem Misstrauen der französischen Polizei, Militär und Bevölkerung zu schützen. Die Reise führte, immer wieder unterbrochen von Passkontrollen, über Bourglibre, Altkirchen, Belfort, Vesoul und Port-sur-Saône nach Langres, wo Zschokkes erster Bericht endete, von dort weiter nach Paris, wo sie am 11. April eintrafen.

Unterwegs sah Zschokke überall Insignien der Revolution, viel Militär, aber auch Armut. Dennoch registrierte er einen gesellschaftlichen Fortschritt; der Mensch war Bürger und nicht mehr Untertan oder Leibeigener. «Die gegenwärtige Regierung von Frankreich, deren Form uns an die glänzendsten Perioden der griechischen Staaten erinnert, athmet nicht nur selbst den reinen Geist der Humanität, sondern bemüht sich auch, ihn überall in der Republik zu verbreiten.»181 Die Menschen könnten sich frei über politische Fragen unterhalten; sie würden von den Beamten respektvoll behandelt, und statt zu befehlen werde an ihre Einsicht appelliert: «Bürger, ehret das Nationaleigenthum [...]», statt des preussischen Tonfalls: «Es ist bei Strafe untersagt [...]».

«In manchen Staaten klingen die obrigkeitlichen Befehle, als bestände das gesammte Volk aus Bösewichtern, Räubern und Rebellen; in Frankreich, als bestände es nur aus guten, vernünftigen Mitbürgern.»182

Bedrohlich, ja lebensgefährlich wurde es in Frankreich freilich für jene, die man als Sympathisanten der Aristokratie, als Feinde der Revolution verdächtigte. Hier hörte jede Rücksichtnahme auf, und dagegen half auch die zur Schau getragene Nationalkokarde nicht.183

Zschokke stieg im Hotel La Prime in der Nähe der Tuilerien und des Louvre ab, lief durch die Strassen, um die Leute zu beobachten, ging in Konzerte und Theater und suchte deutsche Emigranten auf: den ehemaligen Mainzer Abgeordneten Andreas Joseph Hofmann (1752–1849), jetzt Leiter des Bureau des Étrangers, und Graf Gustav von Schlabrendorf (1750–1824), ein philanthropischer Kauz, der, wie einst Diogenes im Fass, in einem abgedunkelten Hotelzimmer in einem Chaos von Büchern und Notizen hauste, mit langem Bart, Löwenmähne und vernachlässigter Kleidung. Er war Freund und Gönner vieler in Paris gestrandeter Deutscher und wies keinen weg, der ihn um Rat und Unterstützung bat.184

Es war Oelsner, der Zschokke mit Baron Schlabrendorf zusammenbrachte und ihm den Kontakt mit Politikern wie Sieyès und Isnard vermittelte. Sonst aber scheint er sich nicht mehr um ihn gekümmert zu haben. Von Hofmann erfuhr Zschokke, wie es dem Deutschen Adam Luchs im Gefängnis ergangen war, der als Rechtfertiger der schönen Märtyrerin Charlotte Corday unter dem Fallbeil gestorben war.185

Das wahre Theater fand Zschokke nicht im Schauspielhaus, sondern auf den Strassen und Plätzen: «Ich lese die Geschichte der Revoluzion, bewandle, bewohne selbst die Gegenden von Paris, in welchen jene schauerlichen Begebenheiten sich ereigneten, sehe mit eignen Augen noch die blutigen Spuren, die Trümmer, die Verwüstungen der letzten Jahre [...] man lernt die Revoluzion selbst in ihren feinern Zügen kennen; und diese sind lehrreicher als Folianten der Geschichte.»186

Er kam in einer Zeit nach Paris, als es wieder gärte. Gegen das Direktorium hatte sich eine Opposition unter François Noël (Gracchus) Babeuf, Augustin Alexandre Joseph Darthé und Filippo Buonarroti gebildet, welche die «Verschwörung der Gleichen» anführten. Am 10. Mai 1796 wurden sie verhaftet; Babeuf wurde ein Jahr später guillotiniert. Das Direktorium liess an allen Strassenecken und öffentlichen Plätzen eine Proklamation anschlagen, worin es seine Erfolge rühmte und ans Volk appellierte, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Die Marseillaise und das Revolutionslied «Réveillez vous, peuple endormi» seien verboten, stellte Zschokke fest, stattdessen singe man «Veillons au salut de l’empire».187