Heinrich Zschokke 1771-1848

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Wieder war Zschokke unterwegs. Nirgends hielt er sich länger als ein bis zwei Tage auf, denn er wollte in der warmen Jahreszeit möglichst viel von der Schweiz sehen. Auf einem Berg hinter Herisau sah er zum letzten Mal aus der Ferne den Bodensee und, als er sich umwandte, vor sich die Alpen, war er fasziniert.

«So nah, so schrecklich erhaben hatt’ ich sie nicht erwartet. Der Anblick war erschütternd; alles was ich noch vor einem Augenblick dachte, empfand, war verwischt, und das sanfte Entzücken in odemloses Erstaunen verkehrt. Den Fuß in schwarzen Wäldern vergraben, ihr hoher Busen von perlenfarbnen Nebeln umschleiert, ihr Haupt mit ewigen Schnee bekränzt, lagen die Himmelsgebürge vor mir da, in unermeßlicher Grösse, in Achtung fodernder Majestät – der düstre Camor, der Altman im Eisgewande, der hohe Sentis, dessen Stirn noch die untergesunkne Sonne bestrahlte.

Wie ist es möglich, in einem solchen Lande ohne Kraft zum Grossen und Edlen, ohne Gefühl für Wahrheit und Schönheit zu seyn, wo die Natur unmittelbar mit allmächtiger Hand uns ergreift, und uns empfinden und leben lehrt?»70

Dieser Anblick ist in der «Wallfahrt» der Höhepunkt und zugleich das Ende seines Glaubens an eine unschuldsvolle Bevölkerung, die im Rousseauschen Frieden miteinander und mit der Natur lebt. Einige Male schon hatte Zschokke sich bei der Betrachtung von Klöstern und Kirchen kritisch über den Katholizismus geäussert. Je tiefer er ins Innere der Schweiz vordrang, desto spürbarer wurde für ihn der Einfluss der Kirche auf das menschliche Gemüt, desto mehr verdüsterte sich für ihn die Kulturkarte, auf der fortschrittliche Regionen hell, rückständige dunkel eingefärbt waren.71

Es begann mit einem Vorfall in St. Peterzell, als er einer alten Frau, die vor ihm in die Knie sank, auf die Füsse helfen wollte. Es war ein Missverständnis. Das Betzeitglöcklein hatte geläutet, und sie hatte sich zur Andacht bereit gemacht.72 Statt ihm zu danken wurde er von ihr laut und anhaltend beschimpft; welcher Unterschied zu den drei Appenzeller Grazien, mit denen er einige Zeit zuvor noch geschäkert hatte!

Hier schloss sich Zschokke einer Gruppe von Wallfahrern an, die in ewiger Litanei ihr Ave Maria beteten und zu keinem vernünftigen Gespräch aufgelegt waren. In Schmerikon liessen sie sich über den Zürichsee setzen und begannen dann, die Passhöhe des Etzels zu erklimmen, um in der Kappelle zu beten, ohne nach links oder rechts zu sehen.73 Dann ging es im Eilschritt nach Einsiedeln, das auf Zschokke einen trostlosen Eindruck machte: «Das Loretto Helvetiens, ein armseliger, aus elenden Häusern und engen Strassen zusammengeflickter Flecken, wohnt in der Tiefe eines geräumigen Thales. Gebäude, deren Bewohner sich von den Jahr aus Jahr ein hieher wallfahrtenden tausend Büssern ernähren.»74 In scharfem Kontrast dazu und in schwelgerischer Pracht erhob sich dagegen die Abtei mit ihrem Kirchturm und den weitläufigen Nebengebäuden.

Zschokke kaufte einen Rosenkranz und eine Chronik von Einsiedeln und mischte sich unter das betende Volk, nicht um ehrfürchtig an den Ritualen teilzunehmen, sondern immer kritischer ob der tiefen Frömmigkeit, die er mit Geschäftstüchtigkeit und Wunderglauben gepaart sah, ob des Nebeneinanders von Armut, Schmutz und zur Schau gestelltem Prunk. Hier sah er Prinzipien walten und Traditionen lebendig, die er längst überwunden wähnte. In der «Wallfahrt» noch in moderatem Ton, vielleicht um nicht anzustossen, in der «Selbstschau» drastisch und in grellen Farben geisselte er den Gegensatz von katholischer Gläubigkeit und einem modernen, aufklärerischen Denken.75

Seinem Ekel vor dieser Art von Demut und Untertänigkeit freier Menschen unter die Wahrer der Kirche, vor allem der Klöster, die er als Verhinderer des Fortschritts sah, blieb Zschokke sein ganzes Leben lang treu. Eine seiner letzten politischen Handlungen war sein Mitwirken bei der Aufhebung der aargauischen Klöster im Januar 1841.

Hals über Kopf verliess er Einsiedeln, das er erst vier Jahre später wieder betreten sollte – als das Stift von den Franzosen geplündert und zerstört worden war, der Zug der Pilgerströme in der Folge zum Erliegen kam und die Menschen vertrieben oder in tiefste Armut gerissen worden waren. Nie hätte sich Zschokke vorstellen können, dass er später dazu beitragen würde, die Kappelle des heiligen Meinrad in der Stiftskirche wieder zu errichten.

Die Rigi, Hauptattraktion vieler Touristen, liess Zschokke links liegen, wanderte von Einsiedeln nach Zug, mietete ein Pferd und ritt über den Albis nach Zürich, wo er sich von den Strapazen erholen und seine Kleider wechseln wollte, die von der Pilgerreise schmutzig und zerrissen waren.76 Statt von Norden aus, wie von Ebel vorgeschlagen, kam er also aus dem Süden in die Stadt. Es war Mitte September.

ZÜRCHER FREUNDSCHAFTEN

In Zürich stieg er an bester Adresse ab, im Hotel Schwert, um vom Fenster aus das Gewimmel auf der Rathausbrücke zu betrachten, während er auf sein Gepäck wartete. Er kannte in Zürich niemanden persönlich und hatte auch keine Empfehlungsschreiben auf sich. Solche Briefe waren damals der Schlüssel, um Eingang in die Gesellschaft oder Vergünstigungen wie den Zutritt zu Bibliotheken zu erhalten. Also beabsichtigte er, sich die Stadt kurz anzusehen und nach einer Woche nach Bern weiterzureisen,77 um dort etwas länger zu verweilen, bevor er nach Frankreich und Paris fuhr. Genaue Pläne hatte er noch nicht.78 Statt acht Tage blieb er ein Vierteljahr.

Scheinbar mühelos fand Zschokke Anschluss an einige der interessantesten Zürcher und schrieb dies seinem Glücksstern zu.79 Tatsächlich war ein Vordringen in die inneren Gesellschaftszirkel der Stadt nicht so schwierig, wie Zschokke befürchtet hatte. Der Eintrittspreis waren ein gepflegter Umgang, wissenschaftliches oder literarisches Talent und die Bereitschaft, Kostproben davon abzulegen. Zürich hatte schon immer eine feine Nase für Begabungen; mit etwas über 10 000 Einwohnern war es eine aufgeschlossene, kulturell interessierte Stadt mit der bewährten Praxis, junge Dichter und Gelehrte anzuziehen.80 In den 1750er-Jahren hatten Klopstock und Wieland sich hier aufgehalten; gleich dreimal, 1775, 1779 und 1797, kam Goethe in wechselnder Begleitung. Gerne fanden sich gelehrte Fremde in Zürich ein, weniger um das Stadtbild oder die Regierung zu studieren – da ging man eher nach Bern –, als um die vier Berühmtheiten aufzusuchen: die beiden Dioskuren der deutschen Literaturgeschichte, Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776), den Idylliker Salomon Gessner (1730–1788) und den Physiognomiker und Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801). Selbst gegen Ende des Jahrhunderts, als die drei ersten tot waren, riss der Strom ausländischer Besucher nicht ab.81

Gelehrte Gesellschaften, die nach dem Wochentag hiessen, an dem sie sich trafen, oder nach Themen, Absicht und Teilnehmerkreis «moralische», «asketische», «mathematisch-militärische» oder «Künstlergesellschaft» benannt wurden, waren eine beliebte Zerstreuung, die sich das sittenstrenge Zürich gönnte. Als Diskussionsrunden auf höherem Niveau waren sie eine Zürcher Spezialität. «Kartenspiel zur Tödtung der Langeweile», wie Zschokke es von Frankfurt (Oder) her kannte, «ein Zeitvertreib lauer Herzen, stumpfer Köpfe, welche sich einander aus Rüksichten nicht nähern wollen, oder aus Unvermögen nicht können», gab es hier selten. «Statt dessen unterhält man sich mit freundschaftlicher Wärme über Familien- Gelehrten- Kunst- oder Staatssachen, oder bewirthet die Geister mit Vorlesung eigner Abhandlungen, oder neuer Schriften der bessern Schriftsteller.»82

Hier fand das geistige Leben Zürichs statt, hier versammelten sich Gleichgesinnte: Akademiker, literarisch interessierte Kaufleute und Politiker, um sich auszutauschen oder Neuigkeiten zu erfahren. Frauen waren nicht anwesend; sie hatten ihre eigenen Kränzchen. Wer einen Aufsatz oder ein Gedicht geschrieben oder etwas komponiert hatte und es gerne vortragen wollte, konnte es in diesem kleinen Kreis unbefangen tun. Der freundschaftliche Umgang, der hier gepflegt wurde, garantierte Wohlwollen und Diskretion. Noch Jahrzehnte später, als während der Restauration scharfe staatliche Zensur herrschte, boten diese Gesellschaften die Möglichkeit und das Ventil, um seine Meinung frei zu äussern, und waren der Probierstein für angehende Politiker und Literaten, wie schon früher, als sich Pestalozzi und Lavater im Kreis von Johann Jakob Bodmer bewegt hatten.83 Eine andere Besonderheit, die Zschokke in diesen Gesellschaften auffiel: Sie wurden jeweils früh begonnen und zeitig beendet, und Essen und Trinken spielten kaum eine Rolle.84

Leonhard Meister (1741–1811), ein schriftstellernder Zürcher Pfarrer, in seiner Produktivität Zschokke in nichts nachstehend, führte ihn in den Kreis um Johann Caspar Hirzel (1725–1803) ein,85 den ehemaligen ersten Stadtarzt, Mitbegründer und Präsidenten der Helvetischen Gesellschaft und der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft und Autor des Büchleins «Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers» (1761), das seinerzeit einen Wandel im Verhältnis des Stadtbürgers zum Bauerntum markiert hatte.

Teilnehmer dieses illustren Kreises waren ältere Herren wie der Philologe und Chorherr Johann Jakob Hottinger (1750–1819) und vielleicht auch noch sein Kollege Johann Jakob Steinbrüchel (1729–1796), Ratsherr, Zunftmeister und Philanthrop Johannes Bürkli (1745–1804), Ratsherr, Bankier und Rohseidenhändler Johannes Schulthess (1744–1830) und Statthalter Hans Konrad von Wyss (1749–1826).86 Alle waren erfolgreiche Berufsleute, Professoren, Kaufleute und Politiker, gebildet, und entstammten Zschokkes Vater- oder Grossvatergeneration. Verblüffend für den in preussischen Zuständen aufgewachsenen Zschokke war das Fehlen jeglichen Standesdünkels. Selbst in der Freimaurerloge, wo man sich doch mit «Bruder» begrüsste, hatte er in Preussen die Abstufung nach Adelsrang oder Position in der Beamtenhierarchie gespürt. In Zürich war man an Zschokkes Meinung interessiert, obschon er ein Fremder war, der ausser einem Doktorgrad nichts Besonderes vorzuweisen hatte und in staubigen Reisekleidern eintraf.

 

Es ist denkbar, ja wahrscheinlich, dass Zschokke auch an anderen wöchentlichen Zirkeln teilnahm, aber in der Altherrenrunde der Patriarchen Hirzel und Steinbrüchel spielte sich das für ihn Entscheidende ab. Hier wurde er Pestalozzi vorgestellt, dessen Roman «Lienhard und Gertrud» er mindestens dem Namen nach kannte. «Er sagte mir nur wenige Worte; eilte von einem der Anwesenden zum andern; blieb unstätt und flüchtig, bis man sich anschickte, die Vorlesung von der Arbeit eines der Gäste zu hören. Da verschwand er.»87 Spürt man hier eine Verärgerung? Vielleicht war ja gerade Zschokke der Gast, dessen Vortrag Pestalozzi versäumte. Was im Einzelnen verhandelt wurde, wissen wir nicht. Einmal habe Hottinger aus seiner im Entstehen begriffenen Biografie Salomon Gessners vorgelesen.88 Dann war Zschokke dran, etwas darzubieten.

«Da ich, als frommer und eifriger Lehrling, dem geselligen Verein dieser in den mannigfaltigsten wissenschaftlichen Beziehungen ausgezeichneten Gelehrten allwöchentlich beiwohnte, kam auch die Reihe endlich an mich, eine Vorlesung zum Besten zu geben. Die gerechte Scheu, bejahrten Männern von so hoher Geistesreife eine meiner grünen Früchte vorzulegen, rettete mich nicht von der Verbindlichkeit. Ich weiß nicht mehr, was ich ihnen am bestimmten Abend las.»89

Diese Gedächtnislücke ist verwunderlich, da Zschokke sich auch aus zeitlicher Distanz sonst an allerlei Details erinnerte und sein Vortrag das hervorrief, was man schon damals eine Sensation nannte. Briefen an Leonhard Meister und Johann Jakob Hottinger lässt sich entnehmen, dass er aus seinem Manuskript «Salomonische Nächte» las,90 und wir kennen das Datum mindestens einer seiner Vorträge: den 4. Dezember 1795.

Andererseits ist die Amnesie verständlich, wenn man berücksichtigt, dass es Zschokke schon beim Erscheinen des Buchs unangenehm berührte, damit in Zusammenhang gebracht zu werden, und er später verstimmt war, wenn man ihn auf dieses «traurige Product philosophischer oder unphilosophischer Zweifelei aus meinen akademischen Jahren» ansprach.91 Anfangs hatte er noch die Befürchtung, sich für eine akademische Laufbahn in Preussen zu kompromittieren; in gereifteren Jahren sah er die «Salomonischen Nächte» als Jugendtorheit an, die wegen des darin geäusserten tiefen Glaubenszweifels ungefestigten Lesern schädlich werden könnte. Aber genau das macht sie für heutige Leser interessant.

In zehn Kapiteln untersucht Zschokke, ausgehend von Kants Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft, die Frage, was wir vom Ursprung unseres Daseins und von der Existenz Gottes mit Gewissheit wüssten. Er kommt zum Schluss: nichts.92 Nicht einmal Kants moralischen Beweis für die Existenz Gottes hält er für zuverlässig; er sei eine pia fraus, ein frommer Betrug.93 Dabei verteidigt er jene, die sich kritisch mit dem Glauben und den Glaubensdogmen auseinandersetzten:

«Man hat die Atheisten zu Verbrechern gemacht, sie als Majestätsschänder Gottes angesehn, ehmals ihre Philosophie mit dem Scheiterhaufen bezahlt. – Ich weiß nicht, ob damals die Delinquenten mehr, oder die Richter derselben eigentliche Verbrecher waren? [...] Der Atheismus ist kein Verbrechen, sondern, wenn man will, eine philosophische Thorheit, weil er Gegenstände bestreitet, welche er nicht kennt [...].»94

Nach den Gottesbeweisen zerpflückt Zschokke auch die angeblichen Belege für die Unsterblichkeit der Seele. Aus der praktischen Vernunft entwickle sich der Wunsch nach einem Weiterleben nach dem Tod, aber die Ableitung aus dem «moralischen Gesetz in uns» und aus der Notwendigkeit einer ausgleichenden Gerechtigkeit sei zu verwerfen: Wir könnten uns nicht darauf verlassen, dass Tugend je belohnt, Laster bestraft werde, auch nicht im Jenseits.95 Da noch niemand von dort zurückgekommen sei, um Zeugnis abzulegen, hätten wir keine sichere Kunde davon.

Selbst die Offenbarung Gottes, die heilige Schrift, ändere daran nichts. «So lange noch Zweifel über die Genuinität der Offenbarung möglich sind, verliert sie ihren Zweck, zu überzeugen, zu vergewissern96 Hier spürt man den Einfluss der historisch-kritischen Theologie, die Zschokke als Student betrieben hatte. Aber er geht in den «Salomonischen Nächten» darüber hinaus: Die Vernunft lasse sich mit dem Glauben nicht vereinbaren, da jene ihren Zweifel an die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit nicht auflösen könne. Glauben könne sich nur auf Kosten der Vernunft einstellen.97 In seinem stilistisch hervorragenden und inhaltlich fesselnden populärphilosophischen Buch entwickelt Zschokke Schritt um Schritt alle Gründe des Zweifels bis zur unerbittlichen Einsicht, die Existenz Gottes sei durch rationale Argumente nicht beweisbar, also abzulehnen. Zschokke war auf dem Gipfel seiner Glaubenskrise angelangt.

Zschokkes Publikum bestand aus Rationalisten, die den kirchlichen Dogmatismus ablehnten, sich aber noch entschiedener vom Theologen Lavater distanzierten, dessen Pietismus und Irrationalismus sie zutiefst misstrauten. Besonders Leonhard Meister und Hottinger hatten gegen Lavater polemisiert, der sich durch seinen Bekehrungsversuch des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn selber entlarvt und zum Gespött gemacht hatte. Gleichwohl hatte Zschokke sich mit seinem Agnostizismus weit vorgewagt. Dies zeigt ein Brief, den er am Tag nach seinem Vortrag von Johann Caspar Hirzel erhielt, in dem ihn dieser aufforderte, seine Talente dahin zu verwenden, seine Leser zu Menschenliebe, Tugend und Verehrung Gottes, die «Quellen alles Lieben, alles Glükes» zu bewegen, statt den Ideen Rousseaus zu frönen: «Zum grösten Vergnügen am spethen Abend werd ich es rechnen, die besten Proben einer solch himmlischen Musik noch angehört zu haben.» Er unterschrieb mit den Worten «Dr. Hirzel, Philos. Studiosus in dem einundsiebenzigsten Jahre des Alters.»98

Der Brief ist von Wohlwollen getragen; mit scharfem Blick hatte Hirzel in Zschokkes Seele gelesen. Er erkannte, dass der junge Mann beredt war, komplizierte Sachverhalte scharfsinnig erfassen und so darstellen konnte, dass auch wenig Gebildete sie verstanden, dass er seine Gedanken unterhaltend präsentieren und mühelos Zuhörende und Lesende in seinen Bann ziehen und lenken konnte. Aber die Richtung, in die er sich bewegte, und sein Ehrgeiz, sich zu profilieren, waren für Hirzel ein Grund zur Besorgnis. Die geistige Beweglichkeit und rhetorische Kraft Zschokkes mussten gezügelt werden. Hatten nicht Rousseau mit seinen Freiheitsideen, Voltaire und die Enzyklopädisten Diderot und d’Alembert mit ihrer Respektlosigkeit die moralische Ordnung zersetzt und die französische Gesellschaft in ihren Grundfesten zerrüttet, sie reif für die Revolution gemacht? Ganz zu schweigen von den Materialisten um Baron d’Holbach und Denis Diderot, deren abscheuliche Lehren man nicht zu erwähnen brauchte. Auch Lavaters Freund Goethe hatte nach Hirzels Meinung mit seinen «Leiden des jungen Werther» seinerzeit den Geist junger Menschen verwirrt und mit dem Erreger des Suizids infiziert. Allen diesen Männern ging der Ruf nach, Atheisten oder zumindest Agnostiker zu sein.

Das Resultat solcher Gesinnung hatte man auch in Zürich erlebt, beim Aufruhr der Zürichseegemeinden Stäfa, Männedorf und Horgen, deren Anführer Rousseau bewunderten und revolutionäre Schriften studiert hatten. Hirzel gehörte zu jener Generation, die an die Wirkung des guten Vorbilds auf die Landbevölkerung glaubte. Die geistige Elite sollte im Prinzip alles denken und anzweifeln dürfen; eine Unterdrückung der Gedankenfreiheit war für den Fortgang der Kultur schädlich. Sobald man sich aber ans Volk oder an die Jugend wandte, galten andere Massstäbe. Diese Menschen waren verführbar. Sie mussten vor aufrührerischen Schriften und Reden geschützt werden, um nicht die christliche Morallehre zu gefährden, die ihnen die Pfarrer predigten, und nicht die Ordnung zu zerstören, auf der die Gesellschaft beruhte. Dies entsprach der patriarchalischen Auffassung der meisten Zürcher der Hirzel-Generation.

Zschokke verstand Hirzels Besorgnisse damals und später nicht; er empfand den Brief als Kritik an seinem Charakter und seiner moralischen Einstellung, und da reagierte er sehr empfindlich. Besonders Hirzels Bemerkung, wo er sich als Student im 71. Lebensjahr bezeichnete, traf ihn, vielleicht weil er darin den Vorwurf sah, dass er mit seinen 24 Jahren meine, schon alles zu wissen. Gleichwohl hob er Hirzels Brief auf und druckte ihn sogar ab.99

Er schloss sich in jener Zeit eng an Leonhard Meister an, mit dem er, obwohl dreissig Jahre jünger, viel gemeinsam hatte. Meister war geistig agil, vielseitig interessiert, eloquent, zuweilen frivol und gab, während er zugleich Lehrer für Geografie und Geschichte an der Kunstschule und seit 1791 Pfarrer an der Jakobskirche bei Zürich war, jedes Jahr ein neues Buch heraus. Er dilettierte in den unterschiedlichsten Literaturgattungen, schrieb historische Bücher, philosophierte für die Damenwelt, verfasste Gedichte und modische Aufsätze. Allein in den Jahren 1795 und 1796 erschienen von ihm sechs Bücher. Seine Omnipräsenz auf dem Büchermarkt trugen ihm Schillers bissige Xenie ein: «Deinen Namen les ich auf zwanzig Schriften, und dennoch Ist es Dein Name nur Freund, den man in allen vermißt.»

Zschokke kannte Leonhard Meister vor allem von seiner Abhandlung «Über die Einbildungskraft» (1778), die ihn «in unsern Gegenden» (nämlich in Norddeutschland) «zum Liebling machte»,100 so dass man ihn, Zschokke, um seinen Umgang mit Meister beneiden werde.101 Weniger die literarische Vielfalt zog Zschokke zu Meister hin als das Gefühl, auf einen Gleichgesinnten, einen Freigeist zu treffen. Meister war während seines Zürcher Aufenthalts Zschokkes ständiger Begleiter und Mentor. Er hatte ihm den Zugang zu Hirzel eröffnet und war ihm behilflich bei der Suche nach einer Wohnung. Zschokke zog ins Kratzquartier am südwestlichen Stadtrand, wo auch Meister wohnte und der dänische Dichter Jens Baggesen, der französische General Montesquiou und der italienische Graf Gorani eine Zeitlang gelebt hatten. Es war ein beliebtes Quartier für Ausländer.102 Nachdem man sich für ihn verbürgt hatte, gestattete ihm die Regierung ohne weiteres einen längeren Aufenthalt in der Stadt.103

Die Kratz war ein lärmiges Quartier mit verwinkelten Gassen, erfüllt vom Klopfen und Hämmern der Steinmetze, Schreiner und Maurer und vom Geschrei der Ausrufer, Händler und Fuhrleute, die sich gegenseitig übertönten, «bis der Nachtwächter des Abends in Molltönen den Beschluß macht, welchem der Wächter auf einem nahen Stadtmauerthurm antwortet».104 Atemberaubend war bei föhnigem Wetter die Aussicht auf den See und die Glarner Alpen und in die andere Richtung auf die Altstadt, wenn man sich auf den Steg über die Limmat begab.105

Mit Blick auf seine deutsche Leserschaft beschrieb Zschokke in der «Wallfahrt» Zürich, das Sehenswerte, die Promenaden, die Umgebung, das geistige und kulturelle Leben, die Menschen, ihre Freizeitbeschäftigungen. Selbst der Zustand des Strassenpflasters war ihm eine Bemerkung wert. Erstaunt war er über die vielen Schriftsteller und wunderte sich nur, dass sich keiner im juristischen Fach bewegte wie in Mecklenburg oder Preussen.106

Entscheidend für Zschokkes Zukunft waren Kontakte zu jüngeren Gelehrten und Verlegern: zu Paul Usteri (1768–1831), Arzt, Botaniker und bedeutendster Schweizer Publizist bis zu seinem Tod, Johann Jakob Römer (1763–1819), Arzt, Botaniker und Lehrer am medizinisch-chirurgischen Institut, und Heinrich Gessner (1768–1813), Sohn des berühmten Salomon Gessner. Heinrich Gessner war kürzlich in Paris gewesen, hatte darauf eine Tochter des Dichters Christoph Martin Wieland geheiratet, sich als Verleger selbständig gemacht und war voller hochfliegender Pläne. Wie Usteri dachte auch er politisch fortschrittlich, war ein Anhänger der Französischen Revolution, gebildet, literarisch interessiert und förderte Zschokkes publizistische Tätigkeit. Wäre Gessner als Geschäftspartner zuverlässiger gewesen, so wäre er bestimmt nicht nur Zschokkes erster, sondern sein wichtigster Verleger in der Schweiz geworden.

 

Der bedeutendste Zürcher Verlag war damals Orell, Gessner, Füssli & Comp., an dem Heinrich Gessner durch seinen Vater zwar beteiligt, aber kaum interessiert war. Die vielen Kompagnons,107 die wenig von Neuerungen hielten, und ihr, gelinde gesagt, vorsichtiges kaufmännisches Gebaren machte den Verlag für Zschokke nicht attraktiv. Nur in Johann Heinrich Füssli (1745–1832) fand er einen angemessenen Ansprechpartner. Füssli war seit 1775 Professor für vaterländische Geschichte und Politik am Carolinum, dem Zürcher Gymnasium, und seit 1783 Redaktor der Zeitschrift «Schweitzersches Museum». Ob Zschokke bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Zürich seine Bekanntschaft machte, ist nicht bezeugt, aber einigermassen wahrscheinlich. Da Füssli auch im Kleinen Rat (der Zürcher Regierung) sass und in diesem Jahr zum Obmann der gemeinen Klöster (oberster Aufseher der in der Reformation säkularisierten Klostergüter) ernannt worden war, dürfte er kaum Zeit für Fremde gehabt haben. Nachweisbar setzt Zschokkes Briefwechsel mit ihm 1797 ein, als er ihm seine Bündner Geschichte zum Verlag anbot. Zuvor aber hatten Orell, Gessner, Füssli & Comp. schon ein Drama und vielleicht Teile seiner «Wallfahrt» von ihm gedruckt.

Blick auf die Kratz, wo Zschokke wohnte, zwischen See und Limmat gelegen, hier mit einem Kometen im Jahr 1744. Zeichnung und Stich von Johann Conrad Nötzli.

Eine weitere Zürcher Bekanntschaft war Hans Georg Nägeli (1773–1836), ein junger Komponist und Inhaber einer Musikalienhandlung, bekannt durch das Volkslied «Freut euch des Lebens» (1793), «welches von den Ufern der Oder und Elbe bis zur Donau und Rhone gesungen wird», wie Zschokke in der «Wallfahrt» schrieb. «Ich verdanke seinem Umgang einige angenehme Stunden in Zürich.»108 Nägeli brachte ihm ein Klavier in seine Wohnung auf der Kratz.109 1794 hatte Zschokke das Gedicht «Die Engel des Lebens» geschrieben, zu dem er jetzt eine Melodie komponierte. Es ist ein Trinklied, das in einem Wechsel von Chor und Einzelstimme die Tugend, die Freundschaft, die Liebe, die Freiheit und den Frieden besingt; es zeugt davon, dass Zschokkes Zürcher Aufenthalt nicht nur von Ernst und Arbeit geprägt war, sondern dass er auch zu heiteren Anlässen eingeladen wurde.

Einer seiner neuen Bekannten nahm ihn auf eine Fahrt über den Zürichsee mit. Statt wie bei gebildeten Touristen üblich zur Insel Ufenau zu fahren, um das Grab des Humanisten Ulrich von Huttens zu besuchen und dann in Richterswil bei Dr. Hotze einzukehren, liess man die ältere Geschichte abseits liegen und begab sich geradewegs nach Stäfa, «dem durch seine letzte Revolte merkwürdig gewordnen Dorfe»,110 wo sie schon erwartet wurden.

Nach der Niederschlagung des Aufstandes der Seegemeinden im Juli 1795 war wieder Ruhe eingekehrt. Zschokke hielt sich mehrere Tage in Stäfa auf, wo er Wohlstand, Kultur, Geschmack, Fleiss und Bescheidenheit vereint sah, und er stellte überrascht fest, wie gefasst die Bevölkerung wirkte, nur etwas traurig, sobald sie über die in Zürcher Gefängnissen einsitzenden Verwandten sprach. In Zürich dagegen brodelte die Volksseele noch immer, wenn die Sprache auf die Widersetzlichkeit der Stäfner kam. Man verlangte hartes Durchgreifen,111 während Zschokke in den Mienen der Leute von Stäfa nur Mitleid für die verirrten Zürcher zu sehen glaubte.112 Dachte Zschokke bereits daran, diese Vorgänge ausführlich in seinen Reisebericht einfliessen zu lassen? Er war nur als neugieriger Reisender nach Stäfa gefahren – er hatte die Komödien des römischen Dichters Terenz in der Tasche,113 – aber es spricht vieles dafür, dass sein Begleiter ihn zu bewegen suchte, der Öffentlichkeit ein günstiges Urteil über die Stäfner zu vermitteln. Vorerst hielt sich Zschokke aber nicht länger dort auf; das freundliche Herbstwetter verlockte ihn, einen Ausflug zu unternehmen.

Zum Abschied organisierten einige Stäfner eine kleine Schiffsreise mit Picknick, stimmten helvetische Freiheitslieder an und erhoben zu Ehren Tells und Zwinglis die Gläser.114 Nach einer kurzen Besichtigung von Rapperswil schlug Zschokke vor, den schönen Abend auszunutzen und über den Fussgängersteg Richtung Hurden zu gehen.115 Anscheinend unvemittelt überkam ihn der Impuls, ins Glarnerland zu wandern, um näher bei den Bergen zu sein, und er fand einen Stäfner, der bereit war, mitzukommen und gleich loszumarschieren. In Glarus angekommen wollte Zschokke auf den Glärnisch steigen und noch vor dem Eindunkeln wieder zurück sein.116 Als man ihn belehrte, nur schon bis zum ersten Schneefeld benötige er sechs Stunden, liess er es bleiben und verbrachte den Nachmittag in Ennenda bei «einer liebenswürdigen Familie, bey der mich mein Reisegefährt einführte», wo er mit einigen jungen Frauen Freundschaft schloss.117

«Die Unschuld, Unbefangenheit und Geisteslebendigkeit der schönen Ennedaerinnen hätte mich an Glarus fesseln können, und wäre das ganze Land eine schauerliche Wüste gewesen. Es dauerte keine halbe Stunde, so waren wir mit einander bekannt, als hätten wir ein halbes Jahr schon beysammen gesessen und getändelt. Wir versprachen uns einander zu besuchen; sie mich in Zürich; ich sie in dem schönen Enneda, und wir haben auch hübsch Wort gehalten.»118

Dann brachen die beiden wieder auf, wanderten der Linth entlang zur Pantenbrücke hinauf, wurden von einem Holzfäller über den Lawinenschutz belehrt, schauten den Flössern zu, die von weit oben Baumstämme in den Fluss warfen, während ihre Kollegen sie unten mit Schifferhaken wieder herausfischten.119 Hinter der Brücke wurde der Weg steil und so schlecht, dass sie zunächst umkehren wollten. Auf der Sandalp bekamen sie von einem Alphirten verschiedene Sorten Käse und saure Milch vorgelegt, was Zschokke die Gelegenheit gab, seinen deutschen Lesern die Alpwirtschaft und die einheimische Spezialität, den Schabziger, zu erläutern.120

Vom Glärnisch hatte man ihm abgeraten, jetzt aber war er entschlossen, auf den Tödi zu klettern, mit 3614 Meter der höchste Berg der Glarner Alpen, dessen Gipfel noch keiner erreicht habe.121 Ein Hirt warnte entschieden vor diesem Unterfangen, begleitete die beiden Wanderer durch eine wilde Kuhherde, liess sie dann aber allein; auch Eisstollen für die Schuhe, wie Ebel sie in seinem Buch abgebildet hatte,122 konnte er ihnen nicht mitgeben.

Jetzt folgte nach Zschokkes Schilderung ein Albtraum apokalyptischen Ausmasses mit ungeheuren Felsmassen und Eistürmen, herabstürzenden Wassern und einem Wind, der kalt durch Gebirgsspalten pfiff.123 Als der Nebel vom Tal heraufkroch und den Pfad verhüllte, den sie eben begangen hatten, packte ihn das nackte Grauen und er trat zitternd den Rückzug an.124 Mehr rutschend als kletternd, ständig gewärtig, in den Abgrund zu stürzen, tappte er durch den Nebel, bis er auf einen Weg stiess und ein Pferdehändler ihn sicher ins Glarnertal zurück begleitete. Das Abenteuer war beendet; Zschokke trug einen angeschwollen Fuss mit nach Zürich, weswegen er längere Zeit das Zimmer hüten musste. Seine eindringliche Darstellung der Glarner Bergwelt erschien in einer Artikelserie im «Berlinischen Archiv der Zeit und des Geschmacks»125 und wörtlich im zweiten Teil der «Wallfahrt».126

DER STÄFNER HANDEL

Zschokke verfasste in seiner «Wallfahrt» ein Loblied auf Zürich, die Stadt, in der er in einer glücklichen Mischung Geschmack, Kultiviertheit und Wohlstand mit Bescheidenheit und einfachem häuslichen Leben vereint sah. Sogar das seltene Kunststück hätten die Zürcher zustande gebracht, sich durch ihre Liebe zu den schönen Künsten moralisch nicht zu verderben. Der einzige Schatten im Bild der mustergültigen Republik war der Umgang mit der Landbevölkerung. Die Stadtbürger besassen Vorrechte in Gewerbe und Handel und konnten als einzige höhere Ämter bekleiden.127 In der «Selbstschau» zog Zschokke an dieser Stelle den Vergleich mit dem antiken Sparta und seiner Sklavengesellschaft und sprach von «armen Heloten», die für den Wohlstand der Städter arbeiteten.128