Heinrich Zschokke 1771-1848

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«Meine Stunden wurden glüklich zwischen ernster und angenehmer Lektüre, Promenaden, Gesellschaften u. s. f. getheilt. Begeistert von den reizenden Gegenständen, welche von allen Seiten meine Empfindsamkeit bestürmten, wagt’ ichs selbst zuweilen in Gesners idyllischer Einfalt die lieblichsten Szenen mit Worten zu malen. Obs mir gelungen sey? – aber ich weis soviel, daß die Gemälde mir vergnügte Stunden schufen.»16

Für die Zeitschrift Friedrich Maurers, der somit als Briefadressat dieses Kapitels der «Wallfahrt» fassbar wird,17 lieferte Zschokke einen sachlichen und zum Teil kritischen Wegweiser der Fantaisie.18 Diese Beschreibung hatte Zschokke jedoch nicht gemeint, als er Salomon Gessner erwähnte, sondern ein Büchlein, das er für den Verleger Lübeck verfasste: «Arkadien, oder Gemälde nach der Natur, gesammelt auf einer Reise von Berlin nach Rom».19 Es ist eine empfindsame Schilderung, die gekonnt die Natur mit ihrer kunstvollen Anlage verbindet und mit archaischer Prosadichtung beseelt. Zschokke führte darin Ardinghellos Kunstgespräche von Wilhelm Heinse weiter, aber in dem naiven Stil, den er dem Ganzen für angemessen hielt. Wenn er nicht mit Schreiben beschäftigt war, machte Zschokke Ausflüge oder hielt sich in Bayreuth auf, so am 14. Juni, wo er sich die Premiere des «Abällino» ansah. Es war die dritte Aufführung seines Stücks, die er in einem Monat besuchte.

Am 17. Juni zog er ins ehemalige Dorf Zwernitz um, wo sich ein weiterer fürstlicher Park befand, Sanspareil, der in vielem Fantaisie ähnelte. Wilhelmine von Preussen (1709–1758), die gebildete und musisch begabte Schwester von Friedrich dem Grossen, die wie er mit Voltaire in einem philosophischen Briefwechsel stand, hatte Sanspareil in einem Buchenhain angelegt, der von grossen Kalksteinbrocken übersät war. Statt die Bäume umzuhauen und die Felsen beiseite zu schaffen, wurden sie in ein Ensemble von Wegen, Höhlen, Grotten und Nischen aufgenommen, mit Ruheplätzen aus Stein und Moos, Treppen und Aussichtspunkten, Türmchen und einem Strohhaus. Wie in Fantaisie trat die Einbildungskraft an die Stelle jener Prestigebauten, die man von Fürsten erwartete, Empfindsamkeit und Träumerei an die Stelle von Ordnung und Hierarchie. So wurde mit ein paar Pfeilern und Steinbögen die Bühne eines Theaters angedeutet. Wilhelmine benannte die einzelnen Plätze nach Spielorten auf der Insel der Kalypso in Fénelons Roman «Les aventures de Télémaque» (1699) oder, wie auch behauptet wird, nach einer Travestie dieses Romans von Pierre de Marivaux.20 Es benötigte viel Phantasie, sich diesen wasserlosen, steinigen Naturpark als von Meer umbrauste mediterrane Insel zu imaginieren; aber genau dies war die Absicht.

Zschokke nahm diese Idee im zweiten Teil seines «Arkadien, oder Gemälde nach der Natur» auf und schrieb Idyllen einer zeitlos archaischen Landschaft mit Hirten, Nymphen und Göttern. Am liebsten sass er auf einem Ausguck in unmittelbarer Nachbarschaft von Sanspareil, auf einem Felsen, der die anderen überragte, in einem Häuschen, das nach seinem Dachschmuck Reigerhäuschen genannt wurde. Von dort oben hatte Zschokke eine gute Rundsicht. Eine Strohpuppe, die als Eremit gekleidet, in einer kleinen Höhle sass, regte ihn zu einer weiteren Idylle an.21

Daneben gab Zschokke auch von diesem Park eine Beschreibung in der «Wallfahrt» und, in einer verkürzten Version, für ein Taschenbuch und einen Almanach des Verlegers Lübeck.22 Zu Ehren von Zschokkes Aufenthalt und im Andenken an seine Beschreibung von Sanspareil wurde ein schlanker Felsen unmittelbar neben Zschokkes Aussichtspunkt, der als Mütze einen grossen Stein trägt, Zschokkefelsen genannt.23 Textauszüge der beiden Parks aus der «Wallfahrt» wurden in eine neuere Anthologie von Beschreibungen der Lustgärten um Bayreuth aufgenommen.24

In der Vorrede zu «Arkadien» versprach Zschokke eine Fortsetzung, falls das Urteil des ersten Bandes vorteilhaft ausfalle. Er befinde sich auf einer Reise nach Rom, werde durch Franken, Bayern, die Schweiz, Tyrol und die venezianischen Lande reisen und wolle die «reitzendsten und intressantesten Vorfälle, Gegenden und Spektakel, ganz in dem lebendigen Colorit, wie die Wirklichkeit sie mir entgegenrückte», schildern. «Welchen prächtigen Landschaften, welchen merkwürdigen Menschengruppen werd’ ich da begegnen!»25 Von den Rezensionen in den beiden führenden Literaturzeitschriften fiel nur eine positiv aus;26 da Zschokke sich aber um solche Kritiken nicht weiter scherte, waren andere Gründe für den Abbruch seiner poetischen Schilderungen ausschlaggebend.

Zschokkes «Arkadien, oder Gemälde nach der Natur, gesammelt auf einer Reise von Berlin nach Rom», der weitere folgen sollten, falls das erste Bändchen Anklang fand.

Sanspareil in der Nähe von Bayreuth mit Burg Zwernitz und dem einige Jahrzehnte später nach Zschokke benannten Felsen (hier rechts im Bild).

Zschokke hatte Frankfurt (Oder) verlassen, um dem Schatten der Vergangenheit zu entrinnen, um, wie er in der Vorrede zur «Wallfahrt» schrieb, «in irgend einer schönen Gegend den Dämon Hypochondrie von mir zu bannen, dessen Gesellschaft ich mich in der Heimath nicht so ganz entschlagen konnte».27 Aber die Schatten folgten ihm. Zwei Idyllen zur Fantaisie, voller Schwermut, handeln vom Tod, vom Grab, vom Vater.28 Offenbar wurde er, wenn er sich einsam fühlte, noch immer vom Schmerz um den verlorenen Vater und vom Gedanken an den eigenen Tod heimgesucht.

Vier Tage vor Ende seines Besuchs in Sanspareil, am 24. Juni, wurde Zschokke von Schüttelfrost und hohem Fieber gepeinigt. «Unter unsäglichen Schmerzen, mit der alltäglichen Hizze von 12–13 Stunden, Hizze die mich um alle Besinnung brachte, einem Kopfschmerz verbunden, der mich betaübte, lag ich da.»29 Lübeck holte ihn am 28. Juni im Gasthof von Sanspareil ab, den zu jenem Zeitpunkt Wolfgang Adam Münch bewirtete.30 Man schrieb sich ins Gästebuch ein, Lübeck nur mit Datum und Namen, Zschokke mit den Worten: «Vom 17ten – 28ten Juny 1795 lebte hier in der Gesellschaft guter Menschen: Heinrich Zschokke, Doctor der Philosophie, von der Universität Franfurt a/O.»31

An eine geplante Reise ins Fichtelgebirge war nun nicht zu denken.32 Einen Monat lang hielt die Krankheit ihn fest, und er fühlte sich «um vier bis fünf schöne Wochen meines Lebens verkürzt».33 Als das Fieber aufhörte, riet ihm der Arzt, noch drei Wochen im Haus zu bleiben. Sobald er die Erlaubnis bekam, reiste er ab.34 Es könnte sich bei seiner Krankheit um Malaria gehandelt haben, die damals auch in Deutschland endemisch war. Im Februar 1796 in Bern warf sie ihn erneut ins Bett, mit heftigen Fieberattacken, die ihm zwischen zwei Schüben einen Tag Pause gewährten (Malaria tertiana oder Tertianfieber).35 Die beiden Ärzte standen seiner Krankheit ratlos gegenüber; mit Chinarinde wurde Zschokke beide Male anscheinend nicht behandelt, so dass er hauptsächlich dank guter Pflege und seiner kräftigen Natur genas.

STEPHAN BATHORI, KÖNIG DER POLEN

Untätig blieb Zschokke trotz des Fiebers auch in Bayreuth nicht. Ausser an «Arkadien» arbeitete er an zwei historischen Werken, mehrbändigen, versteht sich, die im 16. Jahrhundert spielen, das eine in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mitteleuropa: «Stephan Bathori, König von Polen»,36 das andere auf dem westlichen Balkan: «Coronata oder der Seeräuberkönig».37

«Stephan Bathori» ist nur teilweise ein Roman; es ist Zschokkes Einstieg in die Geschichtsschreibung. Er folgte dem Leben des Ungarn Stephan Báthory (eigentlich: István Báthory, 1533–1586), der 1571 zum Fürst von Siebenbürgen und 1575 zum König von Polen und Grossherzog von Litauen gewählt wurde. Zschokke faszinierte an diesem Fürsten, den er als seinen alten Lieblingshelden unter den Polen bezeichnete,38 nicht nur der Kriegsheld, der Polen auf Augenhöhe mit dem russischen Reich brachte, sondern auch der kluge Herrscher und Kulturförderer, der sein Volk, wie später Friedrich der Grosse, nach seiner Art selig werden liess. Zschokke rekonstruierte die historischen Zusammenhänge, legte sie aber auf seine Weise aus und entfernte sich weit von jenen Regeln, die Professor Hausen an der Viadrina seinen Studenten eingeprägt hatte. Statt sich mit dem zu begnügen, was Urkunden hergaben, schöpfte er aus Chroniken, Geschichtsbüchern und Biografien alles, was ihm zu der Person am stimmigsten schien. Wo ihm, um ein Bild abzurunden, etwas fehlte, dichtete er es hinzu; das Symbol einer zeigenden Hand sollte auf fiktive Gespräche, Reden, Gedanken oder erfundene Szenen hindeuten. Er habe ein Lese-, kein Lehrbuch schreiben wollen, erklärte er seinem Freund, dem Frankfurter Kaufmann Karl Friedrich Harttung, im Vorwort zum «Bathori», daher habe er auf Quellenangaben weitgehend verzichtet.39

Seite aus dem Gästebuch des Gasthofs von Sanspareil mit dem Eintrag Zschokkes vom 28. Juni 1795.

Es gab mehrere Gründe, warum Zschokke sein erstes historisches Werk in Mitteleuropa ansiedelte. Sicherlich nicht einer der unwesentlichsten war, dass er an der Viadrina mit zahlreichen Studenten aus Ungarn oder dem ehemaligen Polen in Berührung kam. Das 16. Jahrhundert war ein Experimentierfeld religiöser Ideen und christlicher Bewegungen, die sich in Polen verbreiteten und in Ungarn und besonders in Siebenbürgen mit Duldung des Osmanischen Reichs Zutritt verschafften: Nach den Lehren von Johann Huss drangen auch jene von Luther und Calvin hier ein. Auch die Ideen der Wiedertäufer fanden Verbreitung und vor allem diejenigen der Sozinianer, Unitarier oder Antitrinitarier, welche die Dreifaltigkeit Gottes leugneten, dieses Hauptdogma der katholischen, lutheranischen und reformierten Kirche,40 und deshalb in Westeuropa als Ketzer verfolgt und in Genf sogar hingerichtet wurden.

 

Zschokke hatte sich offenbar eingehend mit der sozinianischen Ideenwelt befasst und ihre Schriften studiert: Im «Bathori» beschrieb er ihre Geschichte knapp und voller Sympathie.41 Eine zentrale Stelle in seinem Werk nehmen fiktive Religionsgespräche zwischen Stephan Báthory und seinem streng katholischen Bruder Christoph ein.42 Stephan Báthory vertritt den Standpunkt, ein Herrscher dürfe keinen Glaubenszwang ausüben und sich nicht zum Handlanger einer Kirche machen, die Häretiker oder Abtrünnige verfolgte. Es sei unmöglich, eine für alle Menschen gültige Religion einzuführen, geschweige denn eine von der Regierung her befohlene. Solange ein Bürger dem Staat nicht schade und seinen bürgerlichen Pflichten genüge, dürfe er für seinen Glauben nicht bestraft werden. Die Bekämpfung von Religionen führe zu Märtyrern, zu Fanatismus und Schwärmerei; besser sei es, das Volk aufzuklären und zu belehren. Am Ende der Unterredung mit seinem Bruder entfaltet Stephan Báthory seine Vision, den Sozinianismus als Religion der Zukunft:

«Ihre Schriften ersetzen die Stelle der Prediger; die Hausväter werden zu Lehrern, die verschloßnen Kammern, zu Andachtsörtern. Und wenn wir ihnen auch dieß alles geraubt haben; so werden sie ihre gesunde Vernunft behalten, die wir ihnen mit keinem Edikt entreissen, nicht mit Tonnen Goldes abhandeln können.»43

Dies ist die Idee, die auch hinter Zschokkes «Stunden der Andacht» (1809–1817) steckt: Menschen anzuleiten, ihre religiösen Vorstellungen eigenständig und ohne kirchliche Bevormundung zu entwickeln. Zschokke war von der Notwendigkeit einer dogmen- und gewaltfreien Religion auf der Basis des Christentums überzeugt. Die Beschäftigung mit der Geschichte Polens und mit Báthory führte ihn zum Gedankengut der Sozinianer und anderer Theologen, in der Mehrzahl Laien, die gegen die katholische Kirche, aber auch gegen Luther und Calvin die Vorstellung einer vernunftgerechten und lebensbejahenden Religion vertraten, einer Religion für alle Menschen, nicht nur für eine bestimmte Glaubensrichtung.

Jedem Mensch sei eine persönliche Religion und Glaubensauffassung eigen,44 die sich weder vereinheitlichen noch erzwingen lasse, da sie seine private Sache sei, sein eigentümlicher Weg zu Gott. Dieser progressive Ansatz bedeutete letztlich, dass alle Menschen sich wegen ihres Glaubens absprechen mussten, und am besten geschah dies in einer pantheistisch gefärbten Religion aller Vernunftbegabten, in der alle ernstzunehmenden Glaubensrichtungen Platz haben würden. Zschokke äusserte hier erstmals das überraschende Konzept, dass auch in der Religion nicht Kirchen, sondern Menschen einander gegenübertreten, dass es den Christen und den Muslim nicht gebe, sich infolgedessen auch nicht verschiedene Kirchen, Religionen oder Kulturen bekämpfen, sondern nur mit den besseren Argumenten überzeugen sollten. Der Staat sei einzig dafür da, die Religionsausübung zu garantieren und den freien Austausch der Ideen zu gewährleisten, solle sich im Übrigen aber nicht einmischen.

Es ist mehr als zweifelhaft, dass Zschokke an der Viadrina solche Gedanken hätte äussern und mit Studenten debattieren können. Da er der akademischen Laufbahn mindestens vorderhand entsagt hatte, war es ihm nicht einmal mehr möglich, sie ex cathedra schriftlich oder mündlich zu vertreten. So flocht er sie dort ein, wo man sie vielleicht nicht erwartete und wo er zugleich die meisten und unbefangensten Leser erreichte: in Erzählungen, Romanen, Dramen und historischen Werken. Seine Schriften wurden fortan sein Lehrstuhl. Hier erhoffte er sich die Verbreitung seiner Ideen; er glaubte noch an die aufklärerische und moralische Wirkkraft des Dichters.45

«Stephan Bathori» war Zschokkes politisches Vorbild für Preussen. Er beschrieb Länder, Zeiten und Fürsten, die liberaler waren als die Monarchie unter Friedrich Wilhelm II. Solange es in seiner Heimat nicht heller wurde, der König sich nicht die Haltung eines Stephan Báthorys oder Friedrichs des Grossen aneignete, konnte und wollte Zschokke in diesem Land nicht mehr tätig werden. Noch hoffte er, dass der Umschwung bald geschehen möge.

CORONATA ODER DER SEERÄUBERKÖNIG

Ein ganz anderes Genre, keine Halbgeschichte, sondern ein richtiger Roman, war das zweite Werk, «Coronata oder der Seeräuberkönig», das ebenfalls von Lübeck in Bayreuth verlegt wurde und dort oder in der Zeit danach entstand. Es ist bezeichnend für Zschokkes Arbeitsweise, dass er unterschiedliche Materien fast gleichzeitig anpackte und parallel ausarbeitete. Es scheint, als habe er sich mit seiner phantastisch-ausschweifenden Erzählung «Coronata» vom Druck der historischen Wahrheitstreue des «Bathori» befreien wollen.

Alles ist fiktiv: Personen, Ort, Zeit und Handlung, und hat doch einen geografischen und historischen Bezug. Der Roman spielt in Dalmatien, hauptsächlich in der Hauptstadt Jadera (heute Zadar) an der adriatischen Küste und auf Coronata (Kornat), einer vorgelagerten Insel, irgendwann zwischen dem Ende des 14. und der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Westbalkan wurde damals von den Osmanen bedrängt, Habsburg und Venedig stritten sich um die Vormacht in der Adria, Kroatien war politisch mit Ungarn verbunden und Jadera konnte nur mit Mühe eine eingeschränkte Autonomie bewahren. Da am Ende des Romans Kaiser Ferdinand I. erwähnt wird, der dem Römischen Reich von 1531 bis 1564 vorstand, könnte man meinen, dass der Roman zu jener Zeit stattfinde, wenn Zschokke nicht auch noch andere Fährten gelegt hätte.

«Coronata» ist ein Abenteuerroman um den Prinzen Eugenius Skoko, der in seiner Abwesenheit um den väterlichen Thron betrogen wird und sich gegen die Intrigen seines Stiefvaters zur Wehr setzt. Dunkle Geheimnisse, Liebe und Verrat, Kriegsszenen, Mord und Plünderungen machen die Handlung aus. Die Anklänge an «Hamlet» sind mit den Händen zu greifen. Nur einen Holzschnitt habe er geliefert, schrieb Zschokke in der Vorrede, «ein Bild mit scharfen Umrissen der Gestalten, ohne Feinheit der Personen und ohne zarte Charaktergesichter, Gruppen ausgestattet mit grellem Schatten, grellem Lichtblick, – wilder Hinwürfe der Himmel- und Erdpartien – das sind die Bilder der Coronata». Es sei «das rohe Kind einer ungezähmten Laune». Wenn der Roman kein Gefallen finde, dann behalte er die Fortsetzung in seinem Pult. Das war nicht sehr nett, da die meisten Fäden unentwirrt blieben, als er nach dem ersten Band abbrach. Nach langem Drängen Lübecks setzte er den Roman im Spätjahr 1801 oder im Frühjahr 1802 fort.46 Ein dritter Band, der die Seeräubergeschichte enthalten sollte, auf die man schon wegen des Titels gespannt war, blieb aus.

Durch Zschokkes krankheitsbedingte Pause wurde nicht nur die Reise ins Fichtelgebirge und zu den Muggendorfer Höhlen vereitelt, er war auch mit seinem Zeitplan in Rückstand geraten; den August hätte er bereits «mitten in den Thälern und Gebürgen der schönen Schweiz» zubringen wollen.47 Also beeilte er sich, von Bayreuth wegzukommen, bestieg am 18. August die Kutsche nach Erlangen, das er zwei Tage später erreichte. Er reiste nicht allein, sondern mit seinem braungelockten Pudel «Mylord»,48 den er sich in Frankfurt (Oder) zugelegt hatte und der ihm auf seiner ganzen Reise und auch in der Schweiz noch lange Gefolgschaft leistete. So hatte er statt des Barons Burgheim doch noch einen Adligen zur Gesellschaft.

In Erlangen besah Zschokke sich die Naturaliensammlungen und das Leseinstitut und machte die Bekanntschaft des Philosophieprofessors und Kantianers Johann Heinrich Abicht und des Hofrats und Geschichtsprofessors Johann Georg Meusel, Mitverfasser eines heute noch gern konsultierten biografischen Handbuchs, «Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller» (47 Bände). Mit Abicht und dem Dichter Friedrich August Müller schloss Zschokke beim Punsch eine «litterärische Brüderschaft».49 Die Anwesenheit in dieser Universitätsstadt gab Zschokke den Anlass, sich kritisch zum preussischen Universitätswesen zu äussern: zur kärglichen Bezahlung der Professoren und zur Einschränkung der Forschungsfreiheit.50

Mit Extrapost reiste Zschokke weiter, über Nürnberg, wo er Rathaus und Gemäldesammlungen bestaunte, und Ansbach, wo er den greisen Dichter Johann Peter Uz (1720–1796) aufsuchte, den deutschen Anakreontiker, «dessen Lieder ich als Kind gelallt, als Jüngling mit Begeisterung gesungen hatte».51 Er atmete auf, als er Preussen definitiv hinter sich lassen konnte:

«Sobald das Würtembergische begann, schienen alle Pulse in der Schöpfung leichter zu fliegen; schönere Gegenden, fruchtbare Weinhügel und Wiesen, fröhlichere Menschen kamen uns von jeder Seite entgegen.»52

Am 30. September kam er in Stuttgart an, sah sich einige Tage dort um und begab sich dann nach Hohenheim, um Gartenanlagen zu besichtigen, die Herzog Karl angelegt hatte, die «Kolonie» oder «englisches Dorf» genannt wurden. Es war ein teures Spielzeug mit sechzig miniaturisierten Gebäuden im Massstab eins zu vier im Rokokostil, mit Tempeln, Moscheen, einer gotischen Kapelle, einem Karthäuserkloster, verschiedenen Handwerks- und Gewerbebetrieben, einem altmodisches Schulhaus, komplett mit Katheder, Bänken und Wandtafeln, ja sogar einem Gefängnis, in dessen Innern man Ketten und Halseisen sah.53 Zschokke dokumentierte dies alles und dachte vielleicht daran, damit seine Reihe «Arkadien, oder Gemälde nach der Natur» fortzusetzen. Seine Einbildungskraft sprach diese Anlage jedoch nicht im gleichen Mass an wie die Parks in Bayreuth, und für seinen nüchternen Verstand fehlte der praktische Nutzen: «So wären wir nun die ganze Colonie durchwandert. Sie würde das schönste und einzige Dorf der Welt seyn, wenn sie bewohnt, und das, was izt nur Dichtung und Name ist, Wirklichkeit wäre.»54

Über Tübingen, Hechingen, Ballingen, Tuttlingen ging es weiter südwärts, und plötzlich lag die Schweiz in Sicht.

«Mein Odem stokte bei dieser großen Erscheinung; ein leiser Schauer umflog mich. Der süßeste Traum meiner Jugend gränzte nahe an die noch schönere Erfüllung – der sehnsuchtsvolle Wunsch meiner Jünglingsjahre ward erhört.»55

EINTRITT IN DIE SCHWEIZ

In der Nacht vom 2. auf den 3. September 1795 traf Zschokke in Schaffhausen ein; seit seiner Abreise von Frankfurt (Oder) waren vier Monate vergangen, davon hatte er drei in Bayreuth und Umgebung verbracht. Damit schloss Zschokke den ersten Band seiner «Wallfahrt nach Paris» und schlug ein neues Buch auf. Das ist durchaus auch symbolisch gemeint. In der Schweiz begann die Neuorientierung, die Suche nach einem anderen Wirkungsfeld, einer neuen Bewusstseinssphäre. Das durfte nicht überstürzt werden. Er sandte sein Gepäck nach Zürich, um ungehindert und zu Fuss einen Teil des Landes zu durchwandern und die letzten Reste seiner Paroxie, seiner Fieber- und Albträume, abzustreifen. Was er nicht ahnen konnte: Es endete zugleich ein Lebensabschnitt: Mit seinem Abschied von einem Dasein als gefeierter Dichter, als Künstler, Gelehrter und Gesellschafter in den Hauptstädten Deutschlands begann seine neue Laufbahn als Pädagoge, Volksschriftsteller und Politiker in der kulturellen Provinz.

Endlich war sein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Durch Albrecht von Hallers berühmtes Gedicht «Die Alpen» und zahlreiche begeisterte Schilderungen deutscher Reisender und pastorale Kupferstiche erwartete er eine verklärte Welt, ein Land zyklopischer Berge, rauschender Wasserfälle, klarer, grüner Flüsse und üppiger Wiesen,56 ein Land, dessen Bewohner in Freiheit und natürlicher Unschuld lebten. Gleich am Eingang wurde er enttäuscht: Schon vor dem Stadttor von Schaffhausen hatte er erwartet, vom Tosen des Rheinfalls begrüsst zu werden, und erfuhr nun, noch eine Dreiviertelstunde gehen zu müssen. «Ils font plus de bruit dans le monde que dans leur voisinage», sagte er sich, ein Bonmot von Charles Patin (1633–1693) abwandelnd, und wunderte sich, wieso der Florentiner Humanist Poggio den Rheinfall mit den Katarakten des Nils verglichen hatte.57 Er stellte sich darauf ein, alle bisherigen Ruhmreden über die Schweiz durch Augenschein selber zu überprüfen und zurecht zu rücken. Beeindruckt war Zschokke erst, als hinter der alten Mühle von Neuhausen unvermittelt der Wasserfall auftauchte. Eloquent und mit grosser Eindringlichkeit beschrieb er die Gewalt der tobenden, sich überstürzenden Wassermassen.

 

«Ich stand lange unbeweglich da und sah dem Spiel der stürzenden Wogenmassen, der tanzenden Staubgewölke zu, welches sich in jedem Augenblick repetirt. Ich sah den Rhein zwischen seinen Hügeln ruhig aus der Ferne herangleiten, bis sein Bette plötzlich abbricht, und, wie durch ein Erdbeben, viele Klaftern tiefer ruht. Vergebens dämmen sich die aufragenden Klippen dem Strome entgegen – der ganze Fluß wühlt durch die weitern und engen Lücken der Felsen und fällt – sein Fall ist Gewitterlärmen. Kochend werfen sich die schäumenden Fluten aus dem Abgrunde zurück; sie kriechen brausend an den schrofen Schenkeln des nackten Gesteins empor, als suchten sie das vorige Bett; aber neue Wassergebürge donnern über ihnen herunter und drängen sie in reissenden Wirbeln aus ihrer Stelle. Schwindelnd hing mein Blick an den fallenden Lasten; er verlor sich mit ihnen in den Abgrund, kreisete machtlos in ihren wirbelnden Ringen fort, und sank schaudernd in ihren Strudeln unter.»58

Auch wenn Zschokke diese Beschreibung in gelehrte Betrachtungen einbettete und mit Anekdoten über wagemutige Versuche würzte, den Rheinfall mit einem Boot zu bezwingen, spürt man, dass in seiner Schilderung mehr steckt, als eine möglichst poetische oder exakte Schilderung eines Naturphänomens. Man ahnt, dass er in dem Aufruhr der Elemente seinen eigenen Seelenzustand wieder fand und zugleich das Prinzip des Daseins und der Geschichte schlechthin vor sich sah, jenen Entwicklungsprozess, der seit der Französischen Revolution allen Zeitgenossen mehr oder weniger deutlich wurde und den Zschokke am Rheinfall in die Worte fasste: «Leben, Bewegung und ewiges Gewühl».59

Es macht die Güte seiner Naturbeschreibungen aus, dass er virtuos Beobachtungen mit Stimmungen und Seelenlandschaften verknüpfte und Gedankensplitter, kleine Erzählungen, historische Bemerkungen und Dialoge einflocht. Am Beispiel des Rheinfalls lässt sich zeigen, wie intensiv Zschokke die äussere und innere Natur wahrnahm, wie er sich von Gefühlen und Intuition leiten liess und zugleich nach einem Standpunkt ausserhalb suchte, von wo aus er das Erlebte analysieren, das Chaos ordnen konnte. Aber zunächst gab er sich noch ganz dem Erleben hin.

Das Titanische, das er eigentlich für die Berge aufsparen wollte, hielt Zschokke schon beim Eintritt in die Schweiz gefangen; dennoch suchte er zunächst die Idylle, das Ländlich-Bukolische, ein Paradies vor dem Sündenfall, in dem Mensch und Natur in Frieden miteinander lebten. Das Archaische in einer zeitlosen Welt, von Salomon Gessner auf Porzellan und in Gedichten gemalt, stand vor seinem inneren Auge. Deshalb ging er rasch weiter. Bald schon stellte er die Fokussierung seiner bisherigen Reise um: vom Nützlichkeitsdenken auf das Ästhetische, von den Bibliotheken, Naturalienkabinetten und Lesegesellschaften in den deutschen Städten und Städtchen auf das Erlebnis der heiteren, unverfälschten Natur.

«Es war ein schöner Morgen. So reizend glaubte ich die Welt noch nie gesehn zu haben. Schon das Bewußseyn allein: du bist in der Schweiz, im Vaterland der Sitteneinfalt, der Freyheit, der Naturwunder! entzückte mich. Ich athmete in tiefen Zügen die reinen Lüfte; jeder Halmenbüschel, jeder bemooste Stein, jeder Baum, welcher sich über die zerfallenen Gartengeländer herüber bog, jedes Gesträuch welches von den Weinhügeln nickte, schien mir der Unsterblichkeit würdig.»60

Mit seinem Pudel und einem französischen Emigranten als Begleiter, die sich Zschokkes Impulsen fügten, wanderte er Richtung Bodensee; in Steckborn ging der Tag zur Neige, den Zschokke als einen der schönsten seines Lebens bezeichnete.61 Die Landschaft war anmutig, die Wanderung abwechslungsreich und die Stimmung friedfertig und heiter, wozu die Begegnung mit reizenden Thurgauer Bauernmädchen Wesentliches beitrug. – «Feuer im Blick und das frische Roth der Gesundheit auf den Wangen» liessen ihn ahnen, «daß diese schöne Landschaft auch der Aufenthalt schöner Menschen sey. [...] Bisher war ich nur gewohnt gewesen, solche Bäuerinnen auf den Theatern zu sehn; itzt begegnet’ ich ihnen ausser der Bühne.»62

Das ist ein bezeichnender Satz. Ein Grossteil seines bisherigen Lebens hatte für Zschokke in Schul- und Studierzimmern, zwischen Buchdeckeln und auf der Bühne stattgefunden, ja das Leben selber war ihm zuweilen als Theater erschienen. Jetzt, auf der Freilichtbühne Schweiz sah er es ungekünstelt natürlich. Bauern begegneten ihm nicht mehr als Untertanen, als komisches Personal deftiger Bauernschwänke – man denke an seinen «Freiheitsbaum» – oder, von der Warte des hochmütigen Städters, als Plebs: ungebildete, dummdreiste, ungewaschene Menschen. Jetzt, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, traf Zschokke auf einen Bauernstand, der selbstbewusst und keck auftrat, Humor, ja sogar Mutterwitz zeigte. Noch war keine Rede davon, dass er dem Fortkommen und der Bildung dieser Menschen den grösseren Teil seines Lebens widmen würde.

Die Natürlichkeit der Bevölkerung entzückten ihn, und es fiel ihm nicht auf, dass es vor allem Vertreter des weiblichen Geschlechts waren, von denen er sich angezogen fühlte. Ihre Zutraulichkeit und Keckheit bezauberten ihn. Bei Schwellbrunn (Appenzell Ausserrhoden) erkundigte er sich bei drei sonntäglich gekleideten Mädchen nach dem Weg, worauf ihn die jüngste fragte, welche von ihnen er wohl heiraten würde. Obwohl sie sich sprachlich kaum verständigen konnten, antwortete er: Die Schönste, worauf sie fragte, welche von ihnen das sei. Er: Diejenige, die ihn zuerst küsse. Sie: Nein, die ihn zuletzt küsse. Er: Und die bist Du. Darauf brachen sie in ein fröhliches Gelächter aus.63 An seinen Leser gewandt, meinte Zschokke: «Vielleicht charakterisiren Ihnen diese kleinen Züge das arkadische Völkchen – wenigstens zeugen sie Ihnen treulich, wie angenehm, von hundert kleinen Vorfällen gewürzt, meine einsame Wanderung war.»64

Johann Gottfried Ebel, dessen «Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweitz zu reisen» 1793 in erster Auflage in zwei handlichen Bänden herausgekommen war, machte den Vorschlag, von Schaffhausen über Stein am Rhein nach Konstanz zu wandern, dann über Arbon nach Rorschach (insgesamt 16 Stunden) und weiter entweder dem Bodensee entlang nach Rheineck, von dort südwärts nach Altstätten, Appenzell, Gais, Trogen, Speicher nach St. Gallen (noch einmal 14 Stunden) oder direkt von Rorschach südwärts nach St. Gallen.65

Zschokke, der den Ebel noch nicht kannte oder nicht benutzte (in der «Wallfahrt» wird er nie aufgeführt), zog es vor, auf einem Schiff über die ganze Länge des Bodensees nach Bregenz zu segeln. Diese Stadt und das Hinterland gefielen ihm gut, aber er hatte nicht bedacht, dass er sich auf österreichischem Hoheitsgebiet bewegte. Er musste sich häufigen Passkontrollen unterziehen, und als bekannt wurde, woher er stammte, begannen die Leute, über Preussen zu schimpfen, das sich aus der Koalition gegen Frankreich zurückgezogen und Österreich im Stich gelassen habe.66 Man erwartete von Zschokke, der sich doch auch aus politischen Gründen aus Preussen entfernt hatte, dass er die preussische Haltung erkläre, und er beschloss, sich fortan als Sachse und nicht mehr als Preusse auszugeben.67 Als er bei St. Margrethen wieder in der Schweiz war, wo Politik keine Rolle mehr spielte und keine Polizei ihn mehr behelligte, atmete er auf. Auf dem Weg über Rheineck und Rorschach nach St. Gallen konnte er sich wieder ganz seinen Tagträumen von einer ländlichen Idylle überlassen, in die sich Bilder aus dem archaisch-mythologischen Griechenland mischten.68

In St. Gallen besuchte Zschokke die Stiftsbibliothek mit ihren alten Handschriften und machte Bekanntschaft mit einem ehemaligen Adjutanten des polnischen Freiheitskämpfers Tadeusz Kosciuszko (1746–1817), wobei unvermittelt doch wieder Politik ins Spiel kam und sich Zschokke noch deutlicher von Preussen distanzierte. Polen hatte 1795, als Zschokke seinen «Bathori» schrieb, als Staat zu existieren aufgehört: Am 3. Januar teilten Österreich, Preussen und Russland das einst mächtige Königreich unter sich auf, nachdem ein Volksaufstand unter Kosciuszko brutal niedergeschlagen worden war. Diese rücksichtslose Annexion erschütterte die übrige Welt. Den Polen wurde viel Mitgefühl entgegengebracht; sie galten fortan als jenes freiheitsliebende, tapfere Volk, das sich gegen die rohe Unterdrückung durch die Grossmächte gewehrt hatte, und Kosciuszko wurde ihr Nationalheld. Zschokkes Biografie von Báthory trug dieser Stimmung Rechnung und war eine Hommage an das glorreiche Polen von einst. In – wahrscheinlich fiktiven – Gesprächen mit dem Polen, an denen auch ein venezianischer Emigrant beteiligt war, wurde die Schweiz gepriesen, weil sie sich aus der internationalen Politik heraushalte, aber den verfolgten «Freydenker[n] und Märtyrer[n] der Wahrheit» Zuflucht biete.69 Bekanntlich starb Kościuszko 1817 in Solothurn im Exil.