Heinrich Zschokke 1771-1848

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Hätte Zschokke noch einige Jahre ausgeharrt, so wäre an der Viadrina doch noch eine Professur in Aussicht gestanden. Nach dem Tod des Königs (1797) schlug Steinbart Zschokke zu seinem Assistenten und Nachfolger vor, und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), einflussreicher Mann im Oberkonsistorium, schrieb ihm (wie Steinbart Zschokke mitteilte), «dass jeder, für welchen ich garantierte, dass er die Erwartung des Staates erfüllen würde, unbedenklich zum Substituten und Nachfolger in meinen akademischen Ämtern angenommen werden sollte».308

Zschokke hätte sich nur regelmässig melden und um eine Stelle nachfragen müssen, so wäre er 1798 vermutlich Steinbarts Assistent geworden, 1801 statt Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) ausserordentlicher Professor der Philosophie und 1809, nach Steinbarts Ableben, in beide Professuren nachgerückt. Aber seit der ersten Absage im Januar 1794 und einer weiteren drei Jahre später309 hatte Zschokke seinen Wunsch nicht mehr erneuert, ja nicht mehr mit ihm Kontakt aufgenommen, und als Steinbart ihm im Sommer 1800 schrieb, dachte Zschokke nicht einmal im Traum mehr daran, die Schweiz zu verlassen und auf der universitären Karriereleiter an der Viadrina eine weitere Stufe zu erklimmen.

Die zu grosse Jugend, erinnerte sich Hausen später, sei der Grund dafür gewesen, wieso Woellner sein erstes Gesuch abgelehnt habe.310 Die Jugend, gewiss; Zschokke zählte noch keine 23 Jahre. Normalerweise standen Männer, die an der Viadrina eine Professur erhielten, in reiferem Alter und hatten Berufserfahrung, Zschokke dagegen hatte noch nicht einmal vier Jahre an der Universität verbracht, was normalerweise als Dauer bis zum Abschluss des Studiums betrachtet wurde und nicht schon zum Griff nach einer Professur. Dass es dazu viel zu früh war, war Konsens im Kollegium an der Viadrina wie im Oberkonsistorialrat in Berlin.

Steinbart glaubte ohnehin, «wie sehr wohltätig zur Reinigung unsrer theoretischen und speculativen Kenntnisse es ist, wenn man eine zeitlang ins Geschäftsleben hineingestossen wird», und daher meinte er auch, dass vorderhand jeder andere Aufenthalt Zschokke nützlicher sein würde als der auf Schulen.311 Gleichwohl behauptete Zschokke später, Oberkonsistorialrat Irwing selber habe ihm angeraten,312 ihn ermuntert,313 ja es schlechterdings gewollt,314 dass er sich um eine Professur bewerbe, und seine «väterlichen Freunde» Hausen und Steinbart hätten ihm beigepflichtet. Woellner dagegen habe es vereitelt, aus politischen Gründen und wegen einer Kränkung, die darin bestanden habe, dass der junge Privatdozent sich weigerte, ihm in Frankfurt (Oder) seine Aufwartung zu machen.

Schon Carl Günther zweifelte diese Behauptung an, die nur auf einer Spekulation gründete, seither aber fleissig in jeder Darstellung kolportiert wird. Günther argumentiert, erstens gebe es keinen Hinweis, dass Woellner in der fraglichen Zeit die Viadrina besuchte, zweitens wäre es ihm kaum aufgefallen, wenn sich ein Privatdozent dem Empfang des Gewaltigen entzogen hätte, und drittens sei Woellner die politische Gesinnung Zschokkes noch unbekannt gewesen, da vor 1793 noch keine politische Schrift von ihm erschienen sei.315

Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass Zschokke in «Eine Selbstschau» seine Verweigerung so realistisch schilderte, dass man fast nicht glauben kann, es sei alles nur eine nachträgliche Erfindung gewesen. Am Tag, da Woellner in Frankfurt (Oder) weilte, sei er, Zschokke, auf einem Spaziergang Steinbart begegnet, der eben von einem Besuch beim Minister zurückgekommen sei und ihm sagte, Woellner habe sich nach ihm erkundigt. Zschokke begründete sein Wegbleiben politisch, worauf Steinbart erwiderte, auch wenn er mit Woellners Grundsätzen nicht einverstanden sei, verlange es die normale Höflichkeit, an der Begrüssung teilzunehmen. Zschokke habe geantwortet, es gebe Zeiten, wo schon eine solche Höflichkeit zur Sünde gereiche. Die Mächtigen müssten spüren, dass man mit ihnen nicht einverstanden sei; nur dadurch würden sie zur Einsicht kommen. Darauf habe Steinbart ironisch versetzt: «Seine Exzellenz wird schwerlich von Ihrem Nichtbesuch dergleichen Nutzanwendung für sich machen; eher vielleicht eine unerfreuliche für Sie.»316

Günther hat sicher recht mit der Annahme, dass Woellner durch eine solche Respektlosigkeit, wenn er sie denn wahrgenommen hätte, höchstens momentan irritiert gewesen wäre. In den anderen beiden Punkten ist ihm nur teilweise beizupflichten. Woellner konnte sich durchaus nach Frankfurt (Oder) begeben haben, ohne dass dies aktenkundig geworden wäre. Womöglich fand das Geschilderte aber erst nach 1794 oder später statt, hatte also keinen Einfluss mehr auf die Ablehnung von Zschokkes Gesuch.

Es ist hingegen denkbar, dass der Minister sich bereits 1793 oder früher für Zschokke zu interessieren begann, da er als Dichter einen gewissen Ruf genoss, nicht wegen politischer oder theologischer Schriften, sondern durch seinen «Monaldeschi», den «Schriftstellerteufel» und die ersten beiden Bände der «Schwarzen Brüder». Vor allem die letztgenannten Werke, die, obwohl anonym erschienen, Zschokke ohne weiteres zugeordnet werden konnten, würden es begreiflich machen, wenn Woellner den Publikumsliebling, der an einer preussischen Universität dozierte, einmal persönlich hätte sehen wollen.

Auch folgende Anekdote ist kaum aus der Luft gegriffen: Irwing, mit dem Zschokke persönlich verkehrte, wenn er im Sommer sein Landgut in der Nähe von Frankfurt (Oder) bezog, habe ihm vertraulich mitgeteilt, Woellner habe sich unfreundlich über ihn geäussert und hinzugefügt, «man habe am wohlbekannten Dr. Bahrdt eine warnende Erfahrung gemacht, daß man keinem so jungen Menschen schon eine Professur anvertrauen solle. Ich müsse noch um ein Paar Jahre reifer werden.»317 Da Zschokke in Frankfurt einen untadeligen moralischen Ruf besass, keiner Studentenverbindung angehörte und sich politisch nicht hervortat, kann der Vergleich mit dem streitbaren Theologen und Pamphletisten Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792),318 falls er 1793 oder zuvor erfolgte, sich eigentlich nur auf Zschokkes belletristische Schriften oder auf seine Vorlesungen beziehen, deren Beurteilung Woellner von Professor From hinterbracht worden sein könnte. Aber selbst wenn das stimmt, wäre Zschokke die Professur nicht verweigert worden und schon gar nicht wegen angeblicher Heterodoxie,319 sondern man hätte die Entscheidung einfach hinausgeschoben. Die knapp drei Semester als Privatdozent und was Zschokke bisher geliefert hatte, waren nicht ausreichend, um seine Tauglichkeit als Professor zu erkennen.

Auch in ähnlich gelagerten Fällen baute Woellner seine Druckmittel behutsam auf. Die Basis von Professoren und Theologen, die seine orthodoxe Haltung teilten, war zu schmal, als dass er alle überzeugten Aufklärer ersetzen konnte. Bahrdt, der ins Gefängnis geworfen wurde, war eine Ausnahme und diente als warnendes Exempel. Woellner setzte auf Abschreckung und auf die Lernfähigkeit preussischer Beamter, die selber merkten, wie sie sich verhalten mussten, wenn ihr Brotkorb bedroht war. Zschokke war noch jung und unerfahren, ein viel versprechendes Talent, und man konnte abwarten, was aus ihm noch werden würde. Dafür war die Ochsentour als Privatdozent ja da.

Aber dazu liess Zschokke es nicht kommen. Er brachte das laufende Semester im Frühling 1794 zu Ende und reichte die Themen seiner Vorlesungen für das Sommersemester noch ein, führte sie aber nicht durch. Im Geheimen Staatsarchiv in Berlin befindet sich eine Tabelle der von Ostern 1794 bis Ostern 1795 gehaltenen Vorlesungen, die vom 2. April 1795 datiert ist, und hier taucht Zschokke nirgends auf.320

Auch andere Indizien zeigen, dass Zschokke im Sommersemester 1794 mit seinen Vorlesungen pausierte. Kurz nach Semesterbeginn zog er aufs Land und etablierte sich auf dem Rittergut Lichtenberg, «eine kleine Meile»321 von Frankfurt (Oder).322 Dort, schrieb er einer Bekannten, wolle er «meinen ganzen Sommer verschwärmen um die Natur recht ungefesselt, in ihren täglichen und nächtlichen Reizen geniessen zu können; um wieder aufzuleben und an Geist und Körper wieder zu genesen, da mich die Stadtluft schon um Farbe und Heiterkeit der Jugend betrog und mich drei und zwanzig iährigen Knaben zum Greise umwandeln wollte».323

ABSCHIED VON FRANKFURT

Von den letzten Monaten Zschokkes in Frankfurt (Oder) wissen wir wenig. Mitte Januar 1795 war er in Berlin, erhielt Zutritt zu Gelehrten- und Familienzirkeln, lernte Theatermänner wie Johann Friedrich Ferdinand Fleck kennen und hielt in einer gelehrten Gesellschaft einen Vortrag zur Verdeutschung fremdsprachiger Literatur, der von Ernst Adolph Eschke in der Zeitschrift «Olla Potrida» kommentiert wurde.324 Viel mehr erfahren wir darüber leider nicht. Er hatte engen Kontakt mit dem Verleger Friedrich Maurer und dem Kupferstecher Johann Friedrich Bolt (1769–1836), bei dem er wohnte. Zurück in Frankfurt (Oder) schrieb er Bolt: «Seit meiner Wiederkunft in Frft. behagts mir hier wenig. Berlin hat mich wirklich noch nie so intressirt, nie so wirklich gefallen, als das leztemahl. Fast alle meine Vorurtheile wider diese Residenz hab’ ich fallen lassen.»325

Sein Entschluss war gereift, Frankfurt (Oder) und die akademische Laufbahn zu verlassen, wenigstens solange die bleierne Zeit unter Woellner andauerte.326 Er beabsichtige, schrieb er Bolt, Italien und Dalmatien aufzusuchen, um «Ardinghellos Vaterland zu durchschwärmen».327 Da Bolt ihn nicht begleite, habe er sich einen früheren Freund zum Reisegefährten genommen. Er meinte Wilhelm Burgheim,328 der sich noch immer in Landsberg aufhielt, dort malte, gärtnerte und sich im Glanz seiner kryptoadeligen Abstammung sonnte. Aber trotz der romantischen Entführungsgeschichte, die er Zschokke damals in Schwerin erzählt hatte, war er zum Ardinghello nicht ganz geeignet.

 

Zschokke schrieb viel und plante seine Reise, die ihn durch Deutschland in die Schweiz und von dort nach Frankreich führen sollte, falls bis zu diesem Zeitpunkt mit Preussen Frieden geschlossen war,329 oder sonst, und wenn Burgheim einwilligte, nach Italien. Dies teilte er Oberkonsistorialrat Karl Franz von Irwing mit, den er um einen Reisepass bat. «Der Aufenthalt in der Schweiz soll eigentlich für mich allein sein, der Aufenthalt in Frankreich, oder wenn dies nicht sein darf, in den unbekannten, wüsten Gegenden des venet[ianischen,] österreichischen und türkischen Dalmatiens für die Welt sein, damit ich doch auch mit meiner Reise zur Vermehrung der Länder- und Völkerkunde Nuzzen einbringe.»330 Nach zwei Jahren wolle er zurück sein und sich in der Zwischenzeit «zu einem nüzlichen und glüklichen Mann» bilden.

Aus anderen Briefen geht hervor, dass die Schweiz nicht nur Durchgang nach dem Süden oder Westen für ihn war, sondern ein Hauptziel. Seiner Schwester Christiana schrieb er, dass er sich damit einen seiner ältesten Lieblingswünsche erfülle,331 und Gottlieb Lemme bekannte er: «Nichts in der Welt, die Liebe meiner Verwandten und meiner hiesigen Freunde ausgenommen, intressirt mich mehr, als der Gedanke die Schweiz zu sehn.»332 Darüber, woher dieser Wunsch kam und wie er sich äusserte, wird noch zu reden sein.

Zschokke arbeitete die Etappenziele seiner Reise aus und bemühte sich, von Bekannten Empfehlungen zu erlangen, die ihm in der Fremde nützlich sein konnten. Er erhielt bereits einige Einladungen von «Freunden meiner Muse»,333 darunter eine bedeutsame von Johann Christoph Gottlieb Lübeck (1766–1811), der seit 1793 in Bayreuth unter der Bezeichnung «Johann Lübecks Erben» den Verlag seines Vaters führte. Lübeck löste bald Apitz als Zschokkes Verleger ab.

Zum Semesterabschluss und Abschied veranstalteten die Studenten am 18. April einen Umzug für Zschokke, um ihn hochleben zu lassen; eine Ehrenbezeugung, die «noch nie hier einem Magister widerfahren, und nur selten den Professoren, geschieht. Lieblinge der Studierenden müssen es wenigstens sein.»334 Zschokke war also an der Viadrina noch sehr präsent, auch wenn er, wie wir annahmen, seit einem Jahr keine Vorlesungen mehr hielt. Seine Beliebtheit mag zum grössten Teil auf «Die schwarzen Brüder» und «Abällino» zurückzuführen sein, der in Frankfurt (Oder) erst neulich aufgeführt worden war. Zschokke wurde aber auch als Vertreter des Mittelbaus der Universität wahrgenommen und von Studenten und Professoren als Redner geschätzt. So verfasste er noch vor seiner Abreise im Namen der Studierenden ein Festgedicht für Prof. Berends, das er vermutlich auch vortrug.335

Schon fast in den Reisekleidern wurde er am 4. Mai zum Mitglied der Sozietät der Wissenschaften und schönen Künste ernannt, «wegen seines in den schönen Wissenschaften sich erworbenen Ruhms und Verdienstes». Gemeint waren damit sicherlich auch seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik», die so eine indirekte Würdigung erfuhren. Unterzeichnet ist das Dokument von Prof. Hausen und Dr. Dettmars.336 Hausen, der selbstverständlich von Zschokkes Abreise wusste, wünschte, ihn durch diese Ernennung an die Viadrina zu binden, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, «daß Er für den Zweck und den Ruhm dieser Gesellschaft durch Seine gelehrten Beiträge thätigst sorgen werde». Er erteilte ihm den Auftrag, sich im Ausland nach Gelehrten umzusehen und sie der Gesellschaft als korrespondierende Mitglieder zuzuführen, was in einem Fall auch geschah,337 und sicherlich erwartete er auch, dass er ihm interessante Informationen aus den Gegenden, die er durchstreifte, mitteilte. Auch dies machte Zschokke wahr, wenngleich nur mittelbar, in seinem zweibändigen Reisebuch «(Meine) Wallfahrt nach Paris», das auch politische und kameralistische Betrachtungen enthält, wie Hausen sie wünschte.

Zschokke mit Künstlermähne und selbstbewusstem Blick im Zenith seines Ruhms als Dichter des viel gespielten «Abällino». Um seinen Freunden beim Abschied von Frankfurt (Oder) ein Geschenk zu machen, gab er im Frühling 1795 dem Berliner Freund, Kupferstecher Johann Friedrich Bolt, diese Kreidezeichnung in Auftrag, von der er eine grössere Anzahl Drucke bestellte. Bolt hatte ihn schon im Jahr vorher gezeichnet, und Zschokke verbot ihm, sein Porträt für eines seiner Bücher zu verwenden.

Am 2. Mai liess sich Zschokke als Lehrling in die Freimaurerloge «zum aufrichtigen Herzen» (au cœur sincère) in Frankfurt (Oder) aufnehmen,338 und am 8. Mai, einen Tag vor seiner Abreise, stieg er zum Gesellen und Meister auf. An diesen Daten kann kein Zweifel bestehen; sie stammen aus dem Logenarchiv und sind in einer Logengeschichte zu ihrem 150-jährigen Bestehen enthalten;339 selbst die Ernennungsurkunde ist noch vorhanden.340 Zschokke war die Frankfurter Loge schon längst vertraut; mehrere seiner Kommilitonen, darunter zwei seiner engsten Freunde, Samuel Peter Marot und Johann Gabriel Schäffer, gehörten ihr an, Marot seit 1790.341

Die Mitgliedschaft der Sozietät der Wissenschaften wurde an Zschokke herangetragen; um jene der Loge musste er sich selber bemühen. Wenn man bedenkt, wie kritisch er sich in jener Zeit gegenüber Orden und Geheimbünden äusserte, fragt man sich, was ihn zu diesem Schritt bewog. Weltanschaulich fühlte er sich der Freimaurerei verbunden; sie vertrat jene Vorstellungen, die er sich für die Menschheit der Zukunft wünschte: religiöse Toleranz, Beseitigung nationaler, konfessioneller und ständischer Schranken, Aufklärungsdenken, Einsatz für die sozial Schwachen und Armen. Alle Freimaurer waren Brüder, und als solche spielte es keine Rolle, ob einer Fürst war oder Bettler, wenn Leumund, Sittlichkeit und Gesinnung ihn zum wahren Menschen erhoben.

Breiten Raum gab Zschokke in seiner «Selbstschau» der Stellung der Freimaurerei als Mittlerin zwischen Staat und Kirche; als ihr eigentliches Ziel betrachtete er die «Verbrüderung der in Rechten, Pflichten und Hoffnungen, ursprünglich Gleichgebornen, ohne Rücksicht auf Menschenstämme, Vaterlande, Nationalreligionen u. s. w.; die Wiederanknüpfung der heiligen Bande, welche durch gesellschaftlichen und kirchlichen Zwang, durch Vorurtheile und Leidenschaften zerrissen worden sind».342 Diese Rolle konnten die Freimaurer aber keinesfalls unbehelligt spielen, da vorab die Kirche, aber auch der Staat, ihnen gegenüber Misstrauen hegte und nicht bereit war, ihnen einen politischen Einfluss oder die ihnen oft angedichtete Macht zuzugestehen. Zschokkes Idee war ein Wunsch, eine Vision, die zu den politischen Tatsachen in krassem Widerspruch stand und nur in der idealen Welt, wo er sich damals gern bewegte, realisierbar gewesen wäre.

Zudem entsprachen die Logen selber und ihre Arbeit nicht oder nur selten den Idealen Zschokkes. Es macht den Anschein, dass er der Frankfurter Loge hauptsächlich beitrat, um die Freimaurergemeinschaft von innen her zu reformieren, ihre Symbole und Rituale den höheren Zielen eines allgemeinen Menschenbundes anzupassen, auf dass demagogische und alchimistische Schwindeleien, theologische Geheimnisse und Scharlatanerien343 – die Eskapaden des Grafen von Cagliostro lagen noch nicht so lange zurück – darin keinen Platz fänden. Eine Woche nachdem er der Freimaurerloge «zum aufrichtigen Herzen» beigetreten war, einen Tag nach seiner Erhebung in den dritten Grad, verliess er Frankfurt (Oder) und nahm während der kommenden 15 Jahre an keiner Sitzung mehr teil, bis er im Herbst 1810 mit einigen Freunden in Aarau selber eine Loge gründete.

Johann Gabriel Schäffer erhielt von dem abgereisten Bruder Zschokke einen Aufsatz über den Ordenszweck zugeschickt, mit der Bitte, ihn in einer Meisterloge vorzulesen, was er aber nicht tat, da man erstens in diesen Sitzungen nicht viel über das Wesen der Freimaurerei spreche, sondern genug damit zu tun habe, die Aufnahme neuer Brüder durchzuführen, zweitens der Aufsatz manchem Meister unverdaulich sein könnte, «und endlich möchte ich nicht gern, daß Seidels Prophetie die er mir einmal in Rüksicht deiner gab: nehmlich daß nicht ein Jahr ins Land gehen würde, so würdest du reformiren wollen, jezt schon in Erfüllung gehen möchte».344 Er werde mit dem Vorschlag Zschokkes also noch zuwarten und den Aufsatz zuvor um eine Kleinigkeit ändern.

Schäffer, der Zschokkes Vorschlägen Sympathie entgegenbrachte, schätzte die Situation wohl richtig ein. Er hätte noch hinzufügen können, dass man sich in Frankfurt (Oder) (und anderswo) von einem jungen Bruder wohl nicht vorschreiben lassen wollte, wie und nach welchen Prinzipien eine Loge zu führen sei. Zschokke aber, unbekümmert um Traditionen und Realitäten, nahm seine Idee vom Wesen der Freimaurerei mit in die Schweiz und legte sie in verschiedenen Abhandlungen nieder.345

Traurig über Zschokkes Abschied waren vor allem die Frauen Apitz, Schulz und Hausen und ihre Freundinnen, die in ihren Salons verkehrten: die Ehepaare Görtz und Deutsch (beide Männer waren Apotheker), die Wilkes, Schades, Jachmanns (zwei Juristen, Brüder, die beide eine Tochter von Schulz heirateten), Kaufmann Harttung mit Familie, Madame Müller, Demoiselle Zimmerle, Minchen Badernoc. Das waren die Menschen, die Zschokke aus der Ferne grüssen liess oder die sich ihm in Antwortbriefen empfahlen, wobei er von Apitz, Schulz und den Frauen keinen einzigen Antwortbrief erhielt, was ihn sehr bedrückte. Die Freundschaften in Frankfurt (Oder) erwiesen sich, bis auf jene mit Professor Hausen und Johann Gabriel Schäffer, als brüchig. Bei dem Ehepaar Schulz lag das Verstummen vielleicht daran, dass Zschokke auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter Johanna drängte, die in ihrer Ehe unglücklicher war, als Zschokke ahnte, und von ihren Eltern nicht mit Erinnerungen an ihn belastet werden sollte.


BILDUNGSREISE MIT PAUSEN

Aus einem Brief Zschokkes an Lemme1 erfahren wir, wohin er sich zunächst wandte: Nicht in den Süden, sondern nach Berlin, um sich dort ebenfalls von Freunden zu verabschieden, so von Bolt, wo er die ganze Zeit wohnte. Er sei in den drei Tagen von Gesellschaft zu Gesellschaft gereicht worden, berichtete er, ging zu Irwing und machte die Bekanntschaft von Oberkonsistorialrat Teller (1734–1804), einem Veteran der Aufklärungstheologie, der sich mutig gegen die Zumutungen Woellners zur Wehr setzte.

Auch wenn der Aufenthalt nur kurz war, so meldete sich Zschokke sicherlich auch bei Friedrich Maurer, um Verlagsfragen zu diskutieren. Der erste Teil des «Kuno von Kyburg» war in den Buchhandel gekommen, und es galt zu erwägen, wie es weitergehen sollte. Maurer bot ihm (falls er es nicht schon früher getan hatte) bestimmt seine neue Monatsschrift «Berlinisches Archiv der Zeit und des Geschmacks» an, wo Zschokke einige Reiseberichte veröffentlichte. Vermutlich lernte Zschokke auch die beiden Redaktoren Friedrich Eberhard Rambach und Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer kennen, und über Rambach könnte ein Kontakt zu Ludwig Tieck entstanden sein, dem Zschokke von ihrer flüchtigen Begegnung am Grab des Studenten Toll (im Herbst 1790) noch in Erinnerung war. Über Tiecks neuerlichen Eindruck von Zschokke liest man in der Biografie von Rudolf Köpke:

«Sein Wesen war hart, schroff, vierkantig. Er zeigte sich als demokratischer Parteimann bis auf die schweren, mit eisernen Nägeln beschlagenen Schuhe, welche er trug. Auf Tieck machte er einen abstoßenden Eindruck. Die demokratischen Grundsätze, welche er [Tieck, W. O.] selbst hin und wieder vertheidigt hatte, erschienen ihm hier in unangenehmer Form. Er konnte ein völliges Aufgeben des Vaterlandes wegen augenblicklicher Übelstände und einiger persönlicher Unbilden weder für politisch noch patriotisch halten. Nur im Vaterlande selbst könne der Mensch auf eine volle Entwickelung seines Wesens rechnen, war seine Ansicht.»2

Diese Beschreibung, eine der wenigen Aussensichten auf Zschokke aus jener Zeit, ist gleich wieder zu relativieren. Zunächst muss man sich fragen, in welcher Stimmung die beiden sich antrafen und ob nicht Missverständnisse beteiligt waren. Die Nagelschuhe jedenfalls waren Zschokkes Reisevorbereitung geschuldet und nicht einer demokratischen Parteinahme. Zschokke war bis 1798 in keiner Weise ein Verfechter der Demokratie. Tiecks Missbilligung entstand viel später, lange nach Zschokkes Niederlassung in der Schweiz; sie war wohl auch Ausdruck seines Ärgers darüber, dass er Preussen den Rücken gekehrt hatte. Aber keiner konnte 1795 ahnen, nicht einmal Zschokke selbst, dass er nie wieder zurückkommen würde. Andererseits ist nicht auszuschliessen, dass Zschokke sich in privatem Kreis kritisch über die gegenwärtige preussische Politik äusserte und dadurch einen glühenden Patrioten vor den Kopf stiess, gerade wenn er als Kontrast und politisches Vorbild die Schweiz pries, wohin er sich als nächstes wenden und wo er sich womöglich niederlassen wollte.

 

Nach seiner Ankunft und nachdem er seine Freunde begrüsst hatte, begab sich Zschokke in der Nikolaikirche und am folgenden Abend ins Schauspielhaus, wo er in der königlichen Loge den Erbprinzen und dessen Frau Luise bemerkte. Berlin stand im Zeichen des gerade erfolgten Friedensschlusses mit Frankreich. Damit war das Land preussischen Reisenden wieder zugänglich; es bot sich für einen Reisenden an, der den inneren Zustand dieses Landes als Augenzeuge kennen lernen und darüber berichten wollte. Zwar war Zschokke kein Journalist und sollte nie einer werden; er erklomm gern eine höhere Warte, um über Politik zu philosophieren und die allgemeine Sicht im Auge zu behalten. Aber das konnte ihn nicht daran hindern, genau zu beobachten und für eine Zeitung oder Zeitschrift zu schreiben, was er sah. Von Frankreich aus wollte er sich nach Italien wenden. Er konnte nicht ahnen, dass General Bonaparte schon seit einiger Zeit plante, das Piemont zu erobern, während Österreich sich überlegte, die Franzosen aus Italien zu werfen. Der kommende Kriegsschauplatz würde Zschokke den Weg in den Süden versperren.

Wir sind über Zschokkes Bewegungen der nächsten Monate sehr gut unterrichtet, da er ein ausführliches Reisetagebuch anlegte, das er, komplettiert mit Auszügen aus Briefen an Freunde, zu einer zusammenhängenden Erzählung ausarbeitete und 1796 unter dem Titel «Meine Wallfahrt nach Paris» veröffentlichte.3 Der Titel entstand erst in Zürich, als sich Zschokke die Gelegenheit bot, mit Konrad Oelsner, einem glänzenden Kenner der Französischen Revolution und politischen Korrespondenten mehrerer deutscher Zeitungen, nach Paris zu reisen. Die «Wallfahrt nach Paris» zielt auf ein grösseres gebildetes Publikum und erhält zugleich einen fast intimen Charakter, weil sich der Leser durch die Briefe, die sich an verschiedene Adressaten wenden und zuweilen von einem Kapitel zum nächsten vom Sie ins Du übergehen, unmittelbar angesprochen fühlt.

Subjektive Erlebnisse und Beobachtungen werden genauso geboten wie Angaben über Reiseroute, Land und Leute, Institutionen und Kultur. Geschickt integriert sind Überlegungen zum Koalitionskrieg oder Religionszwang (in Berlin), zur Existenz Gottes (im Vogtland), zum Niedergang der preussischen Universitäten (in Erlangen), zum Los von Kindern in Waisenhäusern und zum Stand der Geistlichkeit (in Bayreuth), zum katholischen Glauben (in Dinkelsbühl), zur Lage des Bauern (in Württemberg) oder zum Schicksal der Tiere und des Menschen auf Erden (angesichts der Pferdeschinderei eines Kutscher), und er zieht eine Parallele zwischen Herzog Karl Eugen von Württemberg und dem Dichter und Publizisten Christian Friedrich Daniel Schubart (in Stuttgart). Vieles hat kaum mit den genannten Städten oder Gegenden zu tun; irgendeine Begegnung, ein Ereignis oder auch nur ein Impuls gab Anlass zu einem Aperçu, einer kleineren philosophischen Abhandlung. Eingestreut sind Gemäldebetrachtungen, die Beschreibung von Landschaften oder Ortsbildern, Städten, Brauchtümern, historische Exkurse, Anekdoten, Erzählungen und Gedichte, die offensichtlich später eingearbeitet wurden. Der Leser sieht sich durch die geschickte Montage verschiedenster Motive angenehm unterhalten und sicher geführt, zuweilen auch zum Mitdenken herausgefordert. Der Vergleich des Herzogs mit dem Dichter, der für seine kühne Sprache zehn Jahre im Kerker schmachtete, stellte die Macht des Wortes der brutalen Herrschermacht entgegen. Zschokke hatte mit seinem Reisebuch eine Literaturform gefunden, die ihm erlaubte, über alles und jedes zu schreiben, das ihm unterwegs durch den Kopf ging. Was er früher in seinen Zeitschriften und Sammlungen niederlegte, findet sich auch in der «Wallfahrt nach Paris», nur dass er sich kürzer fassen, eine Aussage rascher auf den Punkt bringen musste. Die Reise förderte den Perspektivenwechsel und die Themenvielfalt. Das Buch wurde von den Rezensionsorganen wohlwollend aufgenommen.4

Von Berlin aus hatte Zschokke es eilig: In zwei Tagen und Nächten fuhr er bei schlechtem Wetter über Wittenberg nach Leipzig, «verfolgt von Wind, Regen, Schnee und Hagel».5 Magdeburg liess er links liegen, um sich und seinen Verwandten ein schweres Herz zu ersparen, wie er schrieb,6 wohl auch, weil er so bald nicht von dort weggekommen wäre, ebenso Oschatz in Sachsen, wo die einzige noch lebende Schwester des Vaters, die 62-jährige Barbara Sophie Krumphart-Zschucke, über dieses Versäumnis gekränkt war, als sie davon erfuhr.7 Stattdessen suchte er in Leipzig Fritz auf, seinen Neffen, Kindheitsfreund und Leidensgenossen am Pädagogium, wohnte bei ihm, ging in eine Aufführung des «Abällino» und ins Beygangsche Museum, ein Leseinstitut, wo die wichtigsten Zeitschriften auslagen und Zschokke sich auf den neusten Stand brachte. Verärgert las er einen Verriss seines «Litterarischen Pantheons»,8 der ihn so empfindlich traf, dass er in der «Wallfahrt» seinerseits über das Rezensionsorgan lästerte.9 Es war das erste und einzige Mal, dass er so harsch auf Kritik reagierte.10

Titelblatt des erstens Bandes von Zschokkes unterhaltsamem Reisebericht von Berlin nach Schaffhausen und durch die Schweiz.

Bei schönstem Wetter und «im Flug» eilte er durch das Vogtland und Oberfranken, was ihn nicht daran hinderte, die Ruinen von Berneck am Fuss des Fichtelgebirges in Augenschein zu nehmen. Entzückt von der italienischen «Ardinghello-Stimmung», die sich ihm darbot, schrieb er an Bolt:

«Seitdem ich das Altenburgische und das Erzgebirge hinter mir hatte, seitdem ich auf fränkischem Grund und Boden stand, athmete ich eine schönere Luft, wölbte sich über mir ein lächelnderer Himmel, umringten mich reizendere Landschaften. O Bolt! wären Sie doch hier bei mir gewesen, wie glüklich wären Sie, und ich durch Sie gewesen! – Bei uns suchten wir nach einer mahlerischen Eiche, hier ist iede Staude unterm und überm Felsstück zeichnenswerth.»11

Berneck war eine Stätte archaischen Rittertums, deren ursprünglicher Zauber Zschokke aus den alten Gemäuern mit der romantischen Wildnis als Kulisse zu erspüren suchte.12 Landschaften und Ruinen hatten für ihn, den Historiker mit philosophischem Blick, einen allegorischen Bezug, hätten aber auch Schauplatz eines neuen Romans werden können. Jedenfalls bot ihm seine Reise einiges an Anregung und Stoff für literarische Arbeiten.

Genau zwei Wochen waren seit seiner Abfahrt aus Frankfurt (Oder) vergangen, als er in Bayreuth eintraf; einen Monat wollte er dort verweilen, um Burgheims Ankunft zu erwarten. Es wurden beinahe drei Monate daraus, ohne dass sein Reisebegleiter auftauchte. Kaum im Gasthof zum goldenen Anker abgestiegen, wurde er um Mitternacht von Verleger Johann Christoph Gottlieb Lübeck (1766–1811) abgeholt und bei sich einquartiert. Er fand Musse, die Stadt und ihre Bürger, Freizeitvergnügungen, ihre 99 Gärten, die Gebäude, Künste und Wissenschaften,13 das Waisenhaus, das Zuchthaus und das Irrenhaus kennen zu lernen und zu beschreiben.

Am Tag nach seiner Ankunft wurde Zschokke zur Eremitage geführt, einem nahe gelegenen Schloss mit Orangerie, Eremitenhaus, Sonnentempel, Ruinentheater und anderen Gebäulichkeiten, die einem früheren Markgrafen, seiner Gattin und ihrem Hof als Spielfeld dienten, um ein pompöses Einsiedlerleben zu inszenieren. Besser als diese im Umbruch befindliche Bühnenlandschaft, deren Widersinn ihn empörte, gefiel ihm die Parkanlage von Fantaisie, eine Stunde von Bayreuth entfernt, die er mit jener von Wörliz verglich: «Die Gärten von Wörliz sind schöner, doch mehr durch die Hand der Kunst als die der Natur. Hier hat die Natur aber fast alles gethan; die Kunst half ihr nur wenig nach.»14 In der Umgebung der Fantaisie, die in Jean Pauls «Siebenkäs» zum ersten Himmel Bayreuths deklariert wird, falls die Eremitage der zweite Himmel sei,15 brachte Zschokke fast zwei Wochen zu.