Heinrich Zschokke 1771-1848

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In einem der ersten Stücke der «Frankfurter Ephemeriden» gab er sein Debüt mit Ansichten zur Zeitgeschichte: «Über gewisse in der Revolutionsgeschichte von Frankreich merkwürdig gewordene Gegenstände».241 Mit einiger Verzögerung hatte Zschokke nun doch beschlossen, den Entwicklungen in Frankreich Rechnung zu tragen, gegen das sich Preussen seit dem Vorjahr im Krieg befand. Das Publikum interessierte sich für nichts stärker als für Neuigkeiten aus Frankreich, und Zschokke wollte diesem Umstand Rechnung tragen. Mit der Hinrichtung von Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 hatte die Französische Revolution in den Augen der meisten Deutschen ihre brutale Kehrseite gezeigt und allen Glanz verloren. Die Guillotine, dieses klinisch saubere, unerbittliche und unpersönliche Tötungsinstrument, dem vom kleinen Verbrecher über den windigen Volkstribun bis zur Königin alle zum Opfer fielen, erregte in der Öffentlichkeit Gruseln und Schrecken und wurde in den «Frankfurter Ephemeriden» gleich zweimal vorgestellt.242

Ob er dringend Geld brauchte oder Ausgleich und Erholung von seinen gelehrten Studien: Zschokke schrieb den Roman «Die sieben Teufelsproben», der im Frühling 1794 anonym bei Kaffke in Stettin erschien.243 Er behandelt die Legende des heiligen Martin (316–400), wobei Zschokke sehr freizügig mit der überlieferten Vita umging. Er beschränkte sich auf die erotischen Versuchungen, zunächst durch seine Jugendgespielin, später, als Eremit auf einer Insel, durch die niedliche Arine, die er schlafend neben seiner Hütte findet, wo sie ihm in aller Unschuld die Reize ihres mädchenhaften Körpers preisgibt. Das Titelbild zeigt ihn in frivoler Stellung, wie er unter ihrem Busentuch nach ihrem Herzschlag tastet.244

«Die sieben Teufelsproben» sind eine erotische Erzählung, angereichert durch eine Geistergeschichte, und diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass Zschokkes Urheberschaft so lange geleugnet wurde, von Friedrich Wilhelm Genthe und Carl Günther ebenso wie von Alfred Rosenbaum.245 Hayn/Gotendorf jedoch haben den Roman Zschokke bereits 1914 zugeschrieben und als «wohl die seltenste der pikanten Jugendarbeiten des Verfassers» bezeichnet.246 Es ist ein Studentenulk, ein Ausloten des Büchermarkts, wie ihn sich auch der junge Ludwig Tieck erlaubte, der in Berlin unter Anleitung seines Lehrers Friedrich Eberhard Rambach mithalf, Schundromane zu fabrizieren. Die Stammbücher der Studenten und der Austausch der alten Herren geben hinreichend Proben solcher Scherze aus ihrer wilden Jugendzeit.247 Wenn man Zschokke unter streng moralischem Gesichtspunkt vorwerfen mag, ein Roman mit solchen Schlüpfrigkeiten und Grobheiten entspreche ganz und gar nicht den Forderungen, die er in seinen «Ideen zur psychologischen Ästhetik» an den «edlen Künstler» erhebe, nur das Schöne und Anständige darzustellen, dann hat das einige Berechtigung. Aber womöglich verspottete Zschokke sein ästhetisches Programm auf diese Weise selber.248 Er spielte zu jener Zeit mit Möglichkeiten und Zukunftsentwürfen und wusste selber nicht recht, auf welche Seite sich die Waage neigte: zum Laster oder zur Tugend, zur Askese oder Sinnlichkeit.249

Zschokke bewegte sich zu jener Zeit mit verschiedenen Masken. Im Familienzirkel der Apitz, Schulz und Hausen gab er sich als Schöngeist und witziger Conferencier, zwischendurch suchte er die Einsamkeit und pflegte seine Hypochondrie. An der Viadrina und in der Sozietät der Wissenschaften galt er als ernsthafter Gelehrter, der Vorlesungen hielt und zielstrebig auf eine Professur hinarbeitete, in der Freizeit schrieb er Romane und gründete Unterhaltungszeitschriften. Unter Studenten galt er bald als scharfsinniger Denker, feuriger Redner, bald als Verfasser von Gedichten, elegischer Schwärmer und Träumer; handkehrum nahm er an Studentenstreichen teil und zeigte sich verwegen, zu Pferd oder mit dem Rapier, mit scharfer Klinge.

Im Herbst oder Winter 1793 schrieb Zschokke die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit», die im Venedig des beginnenden 16. Jahrhunderts spielt.250 Venezianische Nobili planen den Sturz des Dogen und heuern Meuchelmörder an, um seine Entourage auszuschalten. Zu den Mördern gehört ein Abällino, der sich durch Tollkühnheit, Intelligenz und aussergewöhnliche Kraft auszeichnet und mit Respektlosigkeit, heiserer Stimme und abstossendem Äussern allen Angst, ja sogar Grauen einflösst. Sein Gegenspieler ist der gut aussehende und liebenswürdige Flodoardo aus Florenz mit vollendeten Manieren, der sich an die Spitze der Sbirren setzt, ins Schlupfloch der Mörder eindringt und sie bis auf Abällino alle ausschaltet. Jetzt ist Abällino unangefochtener Chef der Banditen. Einen nach dem anderen führt er die Auftragsmorde der politischen Verschwörer durch und verhöhnt die Polizei auf Zetteln, die er an Hausfassaden klebt. Beide, Abällino und Flodoardo, lieben Rosamunde, die Nichte des Dogen. Der Doge will sie Flodoardo zur Frau geben, falls er Abällino, den grössten Schrecken Venedigs, zur Strecke bringt. Abällino seinerseits erhält von den Verschwörern den Auftrag, Flodoardo zu töten.

Im Saal des Dogenpalasts soll das Finale stattfinden, denn Flodoardo hat versprochen, Abällino zu einem bestimmten Zeitpunkt herbeizuschaffen, tot oder lebendig. Viele Schaulustige finden sich ein, die vereinbarte Zeit verstreicht, und es geht schon das Gerücht um, Flodoardo habe den Kampf mit seinem Erzrivalen verloren. In derangiertem Zustand taucht er plötzlich auf und behauptet, Abällino befinde sich im Palast. Der Doge will ihn sehen. Flodoardo geht zur Tür, wirft den Mantel ab, dreht sich um und ist in Abällino verwandelt, mit Augenbinde, einem entstellenden Pflaster und widerlichem Grinsen. In der Gestalt des Abällino überführt er die überrumpelten Verschwörer und verlangt vom Dogen grob die Hand von Rosamunde, da er sein Versprechen erfüllt habe. Für den Dogen, dessen beste Freunde Abällino umgebracht hat, kommt das nicht in Frage. Abällino geht noch einmal zur Tür, reisst sie auf und draussen stehen die vermeintlich toten Venezianer. Rosamunde wirft sich Abällino schluchzend an die Brust, mit dem Aufschrei: «Dieser – dieser ist kein Mörder

«Abällino, der grosse Bandit», der fünf Jahre vor «Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann» von Goethes Schwager Christian August Vulpius erschien,251 wird zuweilen als erster deutscher Räuberroman bezeichnet,252 als ein «Mantel- und Degenstück».253 Das sind zweifelhafte Zuschreibungen, zumal es sich, auch nach Zschokkes Begriffen, um eine Erzählung und nicht um einen Roman handelt, da ihr der Anfang und das Ende fehlt. «Abällino» steht mit der Thematisierung von Verschwörungen und Staatsintrigen eher in der Nachfolge von Schillers «Verschwörung des Fiesko zu Genua» und ist eine psychologische Studie um das Wesen des Menschen und die ihn beeinflussenden Lebensumstände.254 Den beiden Dramenfassungen von 1795 und 1796 setzte Zschokke das Motto «Verhältnisse bestimmen den Menschen» voran. Auf dem Theater gibt sich «Abällino, der grosse Bandit» als ein Spiel mit Masken und Maskeraden, des sich Verhüllens und Entlarvens, passend zur Vorstellung, die man mit Venedigs Karneval verbindet. All diese Aspekte zusammen trugen dazu bei, dem Werk seine Beliebtheit zu verleihen, im deutschen Kulturraum als Drama, im englischen als Erzählung, in einer fast wörtlichen Übersetzung von Matthew Gregory Lewis (1775–1818), dem sie unter dem Titel «The Bravo of Venice» lange Zeit zugeschrieben wurde.255 Es ist das Verdienst von Josef Morlo, die Erzählung in der Reihe «Kleines Archiv des 18. Jahrhunderts» wieder zugänglich gemacht,256 und das von Holger Dainat, sie literaturgeschichtlich eingeordnet zu haben.257

«Abällino» sei «das Produkt einer angenehmen, flüchtigen Laune» gewesen, schrieb Zschokke in der Vorrede zur ersten Dramenfassung. «Das Gemälde war ohne Sorgfalt hingeworfen, nur skizzirt, selten hie und da ausgearbeitet, und eigentlich wohl nur angelegt, als Stoff zu einem Drama.»258 In der «Selbstschau» schrieb er, er habe im Studentenkreis eine alte venezianische Anekdote vorgetragen, die er «mit poetischer Freiheit fantastisch genug ausschmückte».259 In dem Fall war ihm mit leichter Hand ein grosser Wurf geglückt, ein Werk, das seine Faszination aus dem schillernden Charakter einer Doppelpersönlichkeit bezog, in welcher Zschokke Eigenschaften ins Spiel brachte, die er in sich selber spürte: Ungestümheit, Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Gier.260

Für die Bühnenfassung straffte Zschokke die Dialoge und akzentuierte die Charaktere. Er vermied es, für Abällino Mitleid zu erwecken, liess ihn nicht erst bittere Erfahrungen als Bettler machen, sondern gleich als Mörder ins Geschäft steigen. Er brauchte jetzt nicht mehr in Hamlets Manier zu zaudern und mit seinem Schicksal zu hadern. Auf der Bühne ist Abällino ein Tatmensch, der das Geschehen vorantreibt und kontrolliert, unzimperlich, direkt, fordernd. Nichts und niemand kann sich ihm entziehen. Das Finale wird sorgsam vorbereitet: Er darf seinen Coup landen, die Verschwörer entlarven, sich von aller Schuld reinwaschen und Rosamunde aus der Hand des Dogen empfangen. Sein Brigantentum ist von Anfang an auf Verstellung angelegt, kühl kalkuliert, um den politischen Bösewichten ihr Handwerk zu legen und des Dogen schöne Nichte zu gewinnen. Rosamunde bezieht im Drama deutlicher Stellung als in der Erzählung: Sie verabscheut Abällino, während sie Flodoardo liebt.

Dies zerstört zwar die Komplexität der Erzählung, verstärkt aber den Theatereffekt in der Stunde der Enthüllung. Im Publikum hinterliessen die Aufführungen das wohlig-gruselige Gefühl, brutalen Banditen bei der Arbeit zuzusehen und am Schluss die Genugtuung zu haben, dass Venedig durch die mutige Tat des Helden vor der Anarchie gerettet wird. Der Bezug zur politischen Lage Deutschlands war mit den Händen zu greifen: Die allgegenwärtige, auch propagandistisch geschürte Angst vor Revolutionen und vor Versuchen, deutsche Fürsten zu stürzen, wird in Zschokkes Stück geschickt benutzt, dramaturgisch verstärkt und im befreienden Schluss aufgelöst.

 

Der Januar 1794 begann für Zschokke mit einer neuen Zeitschrift, die wiederum bei Apitz erschien. Sie war ganz auf Zschokkes Bedürfnisse zugeschnitten und trug den Namen «Litterarisches Pantheon», weil er sich inhaltlich nicht festlegen wollte: Wie der griechische Tempel sollte sie allen Göttern oder Musen dienen, mit denen er sich gerade herumschlug: Sie enthielt Essays, Gedichte, Dramen, Märchen, Versepen und anderes. Es war eine Fortsetzung der «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», in monatlicher Stückelung zu 96 Seiten in Oktav (sechs Bogen), und die einzige Zeitschrift Zschokkes, in der er sich an kein klar definiertes Publikum mit einem fest umrissenen Programm wandte. Er liess es darauf ankommen, ob die Zeitschrift Anklang fand. Der Plan, sei «so gut als gar keiner», rügte die «Allgemeine Literatur-Zeitung».261 Gerade das gibt dem Zschokke-Biografen eine gute Ausgangslage, um Einblick in die schriftstellerische Werkstatt und gedanklichen Schwerpunkte Zschokkes zu erhalten. Leider fehlen in den Beständen im Stadtarchiv Frankfurt (Oder) die beiden mittleren Quartalsbände.262 Carl Günther hatte noch Zugriff auf alle vier Bände, als letzter und vielleicht einziger Benutzer, der sie auswertete.263

Das «Litterarische Pantheon» war die Publikation eines jungen Gelehrten und Dichters mit einem Hang zum Philosophischen, kam in wesentlichen Teilen monologisch daher und dürfte knapp die Aufmerksamkeitsschwelle einer gebildeten Öffentlichkeit überschritten haben. Zschokke verfasste den grössten Teil der Beiträge selbst, aber er schrieb seine Zeitschrift nicht ganz allein.264

Alle Aufsätzen im «Litterarischen Pantheon», wie auch das meiste, was Zschokke später schrieb, haben einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart oder zu einer aktuellen Auseinandersetzung, als Vorgeschichte, Materiallieferant, Spiegel, Vor- oder Gegenbild. Geschichte, auch Philosophiegeschichte, besass für Zschokke die Aufgabe, den Zeitgenossen lehrreich zu sein. Es gab für ihn keinen Elfenbeinturm des Gelehrtenwissens; stets versuchte er, ihn zu verlassen, um anschaulich zu werden, pädagogisch zu wirken, nützlich zu sein.

Wenn man die Aufsätze aneinanderreiht, so lesen sie sich wie ein Plädoyer und eine Kampfansage gegen den Woellnerschen Geist, der auf den Kathedern und in den Amtsstuben Einzug nehmen sollte. «Der Geist des Zeitalters beugt sich weder vor Gesetzen noch Armeen!» heisst einer von ihnen.265 Der Geist des Zeitalters – die Aufklärung – lasse sich nicht rückgängig machen. Es ist dies der Schlüsselaufsatz der Zeitschrift, die Quintessenz von Zschokkes naturrechtlichen und staatsphilosophischen Überlegungen aus der Frankfurter Zeit. In Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung meinte Zschokke, der Mensch habe sich in Europa von seiner geistigen, politischen und theologischen Unmündigkeit emanzipiert, glaube sich «dem Gängelbande der Monarchen und Priester entwachsen, und groß genug zu seyn, ohne Vormund agiren zu können»,266 dulde keine Fesseln des Geistes mehr, keinen anderen Kanon als jenen, den seine eigene Vernunft ihm diktiere.267 In einem geschichtlichen Überblick zeigte er auf, wie der Mensch in einem langen Prozess seine Vernunft erlangt habe, wie die Reformation der Theologie der Reformation der Philosophie vorausgegangen sei und vorausgehen musste.268 Auf die Forderung nach Gedankenfreiheit folgte die Forderung nach Freiheit des Handelns,269 und dies habe zu den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts geführt, aus der noch immer der Geist der Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts spreche.270

Die Freiheit, so Zschokke, habe positive und negative Auswirkungen, da die Menschen noch über keine «wirksame, geläuterte, praktische Vernunft» verfügten, «die nur auf ihre erhabnen Gesetze hinzeigt», sondern als sinnliche Wesen ihren Affekten und Leidenschaften nachgäben und verführbar seien.

«Es ist eine heilige Pflicht, die Menschen im Allgemeinen auszubilden und zu veredeln; die Fürsten selber müssen, als Freunde ihres Geschlechts, hierzu die Hand bieten, müssen stolz darauf seyn, Oberherren einer denkenden Nation zu heissen, statt Regierer einer trägen, dummen, gefühllosen Marionettenversammlung genannt zu werden.»271

Dagegen vermöge die «Polizierung», die äusserliche Zivilisierung, nichts, wie das Beispiel Frankreichs zeige; sie schütze nicht vor gewaltsamen Staatsrevolutionen. Es gebe auf die Frage, «welches ist das beste, unfehlbarste Mittel, gewaltsamen Revolutionen vorzubeugen?», eine Antwort: «Leget dem Volke keine Ketten an, so hat es keine zu zerbrechen; presset dem männlichen Geist der Nation nicht den eisernen Kinderschuh des Gesetzes auf! – Seht auf Friedrich den Einzigen und seinen weisen Nachfolger!»272

Dieser groteske Schlusssatz, der Kniefall vor dem neuen preussischen Herrscher, ist ein hässlicher Missklang in der sonst stolzen Rede, eine Geste der Huldigung, aber auch der Hoffnung, Friedrich Wilhelm II., der ja eines Sinns mit Woellner war, im gleichen Ausmass Werkzeug und Herr, werde sich von seinen Beratern lösen, seinen Platz an der Seite des Volks suchen und Adel und Kirche vom Hof verjagen. Diese Überzeugung, die noch ein Vierteljahrhundert später, während der Metternichschen Restauration, Zschokkes Haltung gegenüber Monarchen prägte, gibt seinen politischen Aufsätzen nicht selten einen Anflug des Bizarren.273

Zschokkes letzter Beitrag im «Litterarischen Pantheon» ist ein philosophischer tour d’horizon zur Frage nach der Rolle des Menschen im Universum, seiner Natur und seinem Erkenntnisvermögen.274 Die Quintessenz ist, dass es keine Gewissheit gebe von dem, was wir über die Welt und von uns selber zu wissen meinten: «es ist nicht mehr, als wir aus dem Kerker unsers Leibes durch die fünf Fenstern, welche wir Sinne heißen, zu erblicken im Stand sind».275

«Wir tappen also in jener sonderbaren Dunkelheit, und weiden uns an einer ewigen Täuschung. Dämmernd und unbekannt ist, was da draußen wohnt; aber wir nehmen die Kinder unsrer Sinnenorganisation auf, wie das Wirkliche, welches uns zu umringen scheint, oder umringen mag. – Wir philosophiren alsdann nicht über die Welt, sondern immer über unsre eigne Natur; wir kennen keine Welt, sondern nur die Erzeugnisse unsers Sensoriums. Diese sind unsre Welt.»276

Der Mensch glaube, von Gott ausgezeichnet, zum Herr der Welt bestimmt, kraft seines Geistes, der Künste und Wissenschaften über alle anderen Geschöpfe erhaben zu sein. Und doch sei er nur ein Bündel von Nervenfasern, hilflos und sterblich, Naturkatastrophen, Seuchen und Kriegen und seiner eigenen Sinnlichkeit preisgegeben.

«Das sichtbargewordne Strumpfband unterm Knie eines Mädchens, die unwillkührliche Verrückung eines Busentuches, ein Gläschen Weins über die alte Regel – bläst Aufruhr durch die Adern, treibt das rastlose Spiel der Nerven schneller, sezt die Einbildungskraft in helle Flammen, und das Produkt der ganzen Bagatelle ist – nach wen[i] gen Monden ein Mensch, an welchen Vater und Mutter beim Strumpfband, Busentuch und Weinglase am wenigsten gedacht hatten.»277

Mit diesem trostlosen Ausblick auf die menschlichen Schwächen, die so gar nicht dem Bild von der Krone der Schöpfung entsprachen, ging der Aufsatz und der einzige Jahrgang des «Litterarischen Pantheons» zu Ende.

Um ein Haar wäre es das Letzte gewesen, was wir von Zschokke gehört und gelesen hätten, und er hätte das gleiche Schicksal genommen wie der junge Student Johann Gustav Friedrich Toll, dessen Grabrede Zschokke gehalten hatte. Anfang Dezember 1794 wurde er Opfer einer Kohlenmonoxidvergiftung. Das Stubenmädchen hatte am Ofen manipuliert, in der Nacht waren Gase in sein Zimmer geströmt, und er verlor im Schlaf das Bewusstsein. Hätte man den Rauch nicht entdeckt und ihn herausgeholt, so wäre er nie mehr erwacht.

Im Frühling 1794 hatte er sein Revolutionsdrama, «Charlotte Corday oder die Rebellion von Calvados», beendet, das er als republikanisches Trauerspiel in vier Akten bezeichnete, mit dem Untertitel «Aus den Zeiten der französischen Revolution». Die ersten drei Akte erschienen von Februar bis April im «Litterarischen Pantheon»,278 das ganze Drama Anfang Mai im 2. Band von «Schwärmerey und Traum»279 und mit gleichem Drucksatz gleichzeitig oder etwas später bei Kaffke in Stettin.280

Am 11. Juli 1793 hatte Marie-Anne Charlotte de Corday d’Armant aus Caen den Revolutionär und Herausgeber der Zeitung «L’Ami du peuple» Jean-Paul Marat ermordet. Sie wurde noch am Tatort verhaftet, am 17. Juli vor das Revolutionstribunal gebracht und noch am gleichen Tag hingerichtet. Vor ihrem Tod wurde sie porträtiert; ihr Bildnis ging um die Welt. Sogleich setzte auch eine Literarisierung ihres Schicksals ein.281

Die Sensation war nicht der Mord, sondern die Täterin: eine 25-jährige Adlige aus der Provinz stieg in eine Postkutsche nach Paris, wurde ohne weiteres zu Marat vorgelassen und erdolchte ihn in der Badewanne, kaltblütig und ohne irgendeine sichtbare Unterstützung. Sie behauptete, sie habe ihren Entschluss gefasst, als sie gemerkt habe, dass sich kampfwillige Bürger rüsteten, um die Jakobiner militärisch zu bekämpfen. «Ich dachte, es sey unnöthig, daß so viele brave Leute nach Paris giengen, den Kopf eines einzigen Menschen zu suchen, den sie vielleicht verfehlen konnten, oder der viele gute Bürger mit sich zum Untergang gerissen hätte. Ich glaubte, die Hand eines Weibes sey dazu hinreichend.»282 Sie habe die Republik gegen die Anarchie verteidigt, sagte sie vor Gericht. Hocherhobenen Hauptes liess sie sich zum Schafott bringen, im Bewusstsein, für eine gerechte Sache zu sterben.283

Viel mehr wusste Zschokke von ihr nicht, als er mit seinem Drama begann. Er rekonstruierte aus Zeitungsmeldungen ihre Tat und bettete sie in die politische Situation ein. Das Stück beginnt im Juni 1793, als die Jakobiner die Girondisten entmachtet und ihre Anhänger im Nationalkonvent verhaftet hatten. In der girondistisch gesinnten Heimat der Familie Corday rüstet man sich zum aktiven Widerstand gegen die Jakobinerherrschaft und in Caen werden Truppen angeworben, um gegen Paris zu ziehen. Zschokke will glaubwürdig erklären, wieso Charlotte Corday zu ihrer Tat schreitet: Alle sind sich einig, dass Marat kaltgestellt werden soll, aber jeder Mann scheut den nächsten Schritt: sowohl der hypochondrische Vater als auch Corbigni, der sie liebt. Ihm wäre sie bereit, die Ausführung ihres Entschlusses zu überlassen und ihn dafür zu heiraten. Aber er zaudert und verliert so ihre Achtung.

In der Vorrede zur Prosafassung des «Abällino» schrieb Zschokke: «Ich nehme gewisse Karaktere und führe sie durch eine Reihe von Situazionen, und beobachte, wie sie sich in all diesen Verhältnissen ausnehmen.»284 Bei Charlotte Corday ist es genau umgekehrt: Die Situationen und Handlungen waren vorgegeben, und er versuchte, daraus die Charaktere zu erfassen. Zschokkes Corday ist eine psychopathologische Studie zur Erfahrungsseelenkunde.

Gerne wird in der Literatur hervorgehoben, Zschokke habe in seiner Charlotte Corday eine emanzipierte Frau dargestellt.285 Dabei wird übersehen, dass er ihr zwar die Freiheit zubilligt, nach eigenem Willen und Ermessen zu handeln, ihr die Fähigkeit zur sachlichen Abwägung ihrer Handlungen und deren Konsequenzen aber abspricht. Es geht nicht um eine «neue Weiblichkeitskonzeption als Erfüllung bürgerlicher Freiheitswünsche»,286 sondern um eine Wiederaufnahme der Kontroverse, die seit mindestens 1775 geführt wurde: die Kontroverse um politische, religiöse und künstlerische Schwärmerei.287

Zschokke bezeichnete Charlotte Corday als schöne philosophische Schwärmerin,288 weil sie utopische, nicht realisierbare Ziele vertrat: die Freiheit der Menschen in einer freien Nation. Der junge Zschokke sah sich selber als Schwärmer und war sich der Ambivalenz seines Tuns bewusst, wenn er sich einer ungezügelten Phantasie und Spekulation überliess, statt sich auf streng wissenschaftlichem oder philosophischem Boden zu bewegen. Schwärmerei, soweit sie sich nicht in einen Gegensatz zur Vernunft stellte, verband Zschokke in seiner Frankfurter Zeit mit Kreativität und Subjektivität, mit der Möglichkeit, sich ganz den Träumen und Gefühlen hinzugeben, Eigenschaften, die er bei seinem literarischen Schaffen und im nichtakademischen Philosophieren gern für sich in Anspruch nahm. Schwärmen und Schwärmerei war eine Domäne, die er auch und gerne Frauen zugestand.

 

Zschokke hatte nicht die Absicht, einen «embryonalen Feminismus einer republikanischen Schwärmerin» vorzuführen, die «der Männermacht trotzt», wie Arnd Beise meint,289 sondern die gefährlichen Folgen einer aus Schwärmerei begangenen politischen Handlung aufzuzeigen. Er bezeichnete sein Trauerspiel als «Miniatürgemählde», von dem er zweifle, dass es je auf die Bühne komme.290 Man wundert sich, dass er die Form des Dramas wählte, da die tatsächlichen Ereignisse seine künstlerischen Möglichkeiten stark einengten. Offenbar hatte er nach einem fast vierjährigen Unterbruch Lust, sich wieder einmal an einem Theaterstück zu versuchen, moralisierend auf ein breiteres Publikum einzuwirken. Man muss Zschokke zubilligen, dass er sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, der Aufbau des Stücks eine in sich schlüssige Handlung voranbringt, die Dialoge stimmig sind und viel Liebe in den Details steckt. Das Drama ist mit grosser Sorgfalt abgefasst und in Blankverse gesetzt,291 aber es wäre besser gewesen, Zschokke hätte es als Fragment belassen, so, wie es im «Litterarischen Pantheon» abgedruckt ist.

Anna Bütikofer, Mitorganisatorin des Zschokke-Symposiums vom Herbst 2005 in Aarau, hatte die gute Idee, zum Abschluss der Tagung in einer szenischen Lesung Auszüge aus der «Charlotte Corday» vortragen zu lassen. Der alte Saal des Geschworenengerichts im Ratshaus war gefüllt, und das Publikum genoss sichtlich den Charme dieses über zweihundert Jahre alten Werks, dessen sprachliche Kraft in der schauspielerischen Leistung von Marianne Burg und Hansrudolf Twerenbold ausgezeichnet zur Geltung kam – vermutlich handelte es sich um die Uraufführung des Stücks.

Noch in einem weiteren Drama befasste sich Zschokke mit der Französischen Revolution, im Bauernschwank «Der Freiheitsbaum»,292 der um 1793 in einem deutschen Dorf an der französischen Grenze spielt, an einem einzigen Morgen vor dem Haus des reichen Bauers Blum. Bedauerlicherweise wurde dieser unterhaltende Einakter voller Situationskomik und witziger Dialoge bisher kaum zur Kenntnis genommen. Gerhard Steiner nimmt ihn zwar in seine Sammlung «Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater» auf,293 schrieb ihn aber Nikolaus Müller zu.294 Obwohl er nach einer Korrektur durch Holger Böning295 den Irrtum in einer zweiten Auflage richtig stellte,296 beharrte er darauf, dass man das Stück «für eine Arbeit des Mainzer Jakobiners und Theaterdichters Müller» halten konnte»,297 und dass sich die revolutionäre Mainzer Bühne diesen Stoff sicher nicht habe entgehen lassen, sondern sie aus dem Manuskript spielte.298 Es ist zu wünschen, dass in einer dritten Auflage diese Vermutungen gestrichen und der Text des Stücks noch einmal sorgfältig mit dem Original in der Staatsbibliothek Berlin verglichen wird. Wie hätten die Mainzer ein Stück aufführen können, das erst ein Jahr nach dem Ende ihres politischen Experiments entstand?

Ganz sicher war es nicht als Revolutionsdrama gedacht. Politisch bezog Zschokke einmal mehr nicht Stellung. «Der Freiheitsbaum war eine Farce für eine Familiengesellschaft, die ich doch auch ausspielen wollte; ich verschenkte es an Apitz. Ob’s behagt, weis ich nicht», schrieb er im Februar 1796 an Behrendsen.299 Auf keinen Fall kann man Zschokke wegen dieses Dramas als Sympathisanten oder Anhänger der Französischen Revolution sehen. Hans-Wolf Jäger, der sich auf die Interpretation Steiners stützt, hält Zschokkes «Freiheitsbaum» aber für «das beste Erzeugnis jakobinischer Schauspieldichtung, [...] geradezu für diesen Zweck verfaßt».300 Das Gegenteil ist der Fall, und das lässt sich mit einer Fülle von Aussagen Zschokkes belegen: Er betrachtete die Revolution der Franzosen in jener Zeit als eine Revolte, hervorgerufen durch eine erhitzte Einbildungskraft.301 Die Zauberworte Freiheit! Gleichheit! hätten die Köpfe verwirrt; die Forderung entspringe nicht Idealen, sondern der Eigensucht; allgemeine Gleichheit komme in der menschlichen Gesellschaft nicht vor, sei eine Chimäre.302 Zschokkes politisches Engagement hatte zu jener Zeit ganz andere, persönliche Gründe.

POLITISCHE REBELLION

Im Dezember 1793 reichte Zschokke ein Gesuch an den preussischen König ein, dass man ihm entweder eine Bezahlung als Dozent gebe oder doch wenigstens zum ausserordentlichen Professor der Philosophie ernenne, mit der Option, «binnen Jahr und Tag» in Frankfurt oder an einer anderen preussischen Universität ein Gehalt zu beziehen.303 Er begründete seinen Antrag mit seinem geringen Vermögen, das er während seines akademischen Lebens teilweise aufgeopfert habe, zumal er sich bemühe, mittellosen Theologiestudenten behilflich zu sein.

Karl Franz von Irwing, der als Mitglied des preussischen Oberschulkollegiums Zschokkes Antrag bearbeitete, setzte den Entwurf zu einer Antwort auf, die, von ihm und Minister Woellner als Oberkurator der Universitäten unterzeichnet, am 7. Januar 1794 ausgefertigt und nach Frankfurt (Oder) geschickt wurde. Zschokke solle sich bis zur Verleihung des Titels eines ausserordentlichen Professors der Philosophie noch einige Zeit gedulden, zumal seine Bitte um Zusage eines Gehalts angesichts der fehlenden Mittel in der Universitätskasse nicht erfüllt werden könne. «Wenn aber derselbe in seinem bisherigen Fleiß fortfahren, und sich fernerhin wie bisher um das Beste der studirenden Jugend verdient machen wird, so könne er versichert seyn, daß bey vorkommender thunlicher Gelegenheit, auf ihn Bedacht werde genommen werden.»304

Man hat nicht den Eindruck, dass diese Zurückweisung aus politischen Gründen erfolgte, wie Zschokke später immer behauptete.305 Da sich sein hauptsächliches Begehren auf eine Geldentschädigung richtete, hatte er sich die abschlägige Antwort selber eingebrockt: Es gab dafür schlicht keine Mittel. Die ordentlichen Professoren erhielten an der Viadrina einen nur mageren Lohn, die ausserordentlichen Professoren oft gar keinen, waren also darauf angewiesen, eine zweite, bezahlte Stelle zu haben, als Schulrektor, Pfarrer oder Arzt. Die Schlange von Dozenten, die um ein Gehalt oder eine Gehaltsverbesserung anstanden, war lang, und Zschokke hätte sich weit hinten anstellen müssen, um an die Reihe zu kommen.

Im Sommer 1794 etwa, als die Witwe von Professor Darjes starb, bewarben sich mit Steinbart, Heynatz, Pirner, Madihn, Borowski, Meister und Huth sieben Professoren um die nun hinfällig gewordene Pension von 289 Taler jährlich, und selbst Berends bat im Namen der Frankfurter Sozietät der Wissenschaften um das Geld. Der König willigte zwar ein, die Rente umzulenken, aber nicht nur für die dort tätigen Lehrer, sondern auch für den alten Kanonikus Peine in Magdeburg.306 Ein weiterer Dürstender am tröpfelnden Geldhahn war ausgerechnet Woellners Liebling Friedrich From, ausserordentlicher Professor für Theologie, dessen Gesuch um eine ordentliche Philosophieprofessur – eine seit 1788 erledigte Stelle – im Mai 1795 nach fast siebenjähriger Wartezeit endlich genehmigt wurde, aber nur als Professor ordinarius supernumerarius ohne Emolumente (Nebeneinkünfte), um die anderen Professoren finanziell nicht zu schädigen.

Zschokke hatte diese Geduld nicht; er brauchte jetzt Geld. Also wandte er sich an Steinbart und bat ihn um eine Stelle als Lehrer in seinem Institut in Züllichau oder um «einige Aufmunterung und Unterstützung als akademischer Lehrer».307 Vermutlich bot er ihm auch an, ihn bei den Vorlesungen zu entlasten – Steinbart litt schon lange unter der Doppelprofessur an der theologischen und philosophischen Fakultät –, und Steinbart, der Zschokkes Fähigkeiten als Dozent ebenso schätzte wie Hausen, hätte ihm bestimmt gern geholfen, konnte ihn aber nicht aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Theologieprofessur trug ihm ja selber nichts ein, und er hatte drei Söhne, die studierten oder noch studieren sollten.