Heinrich Zschokke 1771-1848

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Diese geselligen Zusammenkünfte in Frankfurt (Oder) könnte man mit den Salons in Berlin vergleichen, obwohl der Teilnehmerkreis kleiner, familiärer und die Zusammensetzung der Gäste konstanter war. Sie ergaben sich aus dem Bedürfnis des bürgerlichen Mittelstands nach Austausch und Unterhaltung einerseits, und aus dem Bestreben von Professoren wie Steinbart, Huth, Hausen, Berends und Wünsch andererseits, Studenten um sich zu scharen und durchreisende Gelehrte und Dichter einzuladen. Alle drei Arten der Geselligkeit, die gelehrte, die schöngeistige und die familiäre, waren für den jungen Akademiker und Dichter eine sinnvolle Ergänzung. In einem Brief ihres Mannes an Zschokke umschrieb Frau Hausen im Postskriptum, welches Zschokkes Platz in ihrer Runde gewesen war: «Glauben Sie, daß in unserem kleinen Zirkel zu welchem wie Ihnen bekannt Mad. Müller, Minchen Badernoc und meine zwey Kinder gehören, die sich Alle Bestens empfehlen, ein leerer Raum ist. Bald erinnert das Fortepiano an das genossene Vergnügen, bald die Sommerstube, ersteres an Ihre angenehmen Vorspielungen, letzeres an Ihre oft muntere und scherzhafte Unterhaltungen, die wir alle so gerne hörten.»165

Der Mittwoch von fünf bis sieben Uhr war bei Zschokke für Sitzungen der Königlichen Sozietät der Wissenschaften reserviert, die bei Hausen an der Forststrasse stattfanden. Hausen hatte seit 1791 den Vorsitz der 1766 von Professor Darjes166 gegründeten «Gelehrten Gesellschaft zum Nutzen der Künste und Wissenschaften»167 übernommen. Diese Runde brachte Akademiker, fortgeschrittene Studenten und Anfänger zu wöchentlichen wissenschaftlichen Gesprächen zusammen. Kurz nach Übernahme des Präsidiums schaffte Hausen die Aufnahmegebühren und jährlichen Beiträge ab, mit der sich die Gesellschaft bisher finanziert hatte, «da unter den armen Studierenden oft die besten Köpfe seyn konnten», die solche Gebühren nicht bezahlen konnten.168 Studenten, deren wissenschaftliche Ausbildung man fördern wollte, wurden als Adjunkte aufgenommen, als erster am 7. Dezember 1791 der Kandidat der Philosophie und Gottesgelehrtheit Johann Heinrich Daniel Zschokke. Hausen schrieb über ihn: «Er besuchte die Versammlung unausgesezt und stiftete vielen Nutzen.»169 Kurz vor seiner Abreise, am 4. Mai 1795, wurde Zschokke «wegen seines in den schönen Wissenschaften sich erworbenen Ruhms und Verdienstes» zum ordentlichen Mitglied erhoben.170 Weitere Adjunkte aus Zschokkes Freundeskreis waren Gerlach, Hempel oder Marmalle.

«Von den drei Jahren, die ich nun in Frankfurt, als akademischer Privatdocent, verlebte, läßt sich wenig berichten», schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau». «Sie verflossen arm an Ereignissen, doch nicht ohne Anmuth.»171 Wenn er unter «Ereignissen» seine religiöse Entwicklung verstand, so hatte er Recht; in dieser Hinsicht fand nicht mehr viel statt. Auch in seiner akademischen Karriere kam er nicht voran, jedenfalls nicht so schnell, wie er es sich vorgestellt hatte. Was seine literarische Tätigkeit und seine Vorlesungen betrifft, die in diesen Jahren gewiss seine hauptsächlichen Aktivitäten waren, so schienen sie ihm nachträglich kaum der Rede wert. Dennoch geben sie einige interessante Einblicke in seine Biografie.

Jedes Semester bot Zschokke von elf bis zwölf Uhr morgens eine Vorlesung über Kirchengeschichte an, nicht an der theologischen Fakultät, wo er nicht zu lehren berechtigt war, sondern bei den Philosophien in der Unterabteilung «historische Privatlektionen». Weiter las er im Sommer über christliche Altertümer.172 Als philologische Privatlektionen gab er eine Auslegung von Büchern des Alten und Neuen Testaments: einmal der vier Evangelien, ein andermal der katholischen Briefe, der Apokalypse und der Briefe von Paulus an die Römer. Auch philosophische Privatlektionen kündigte er an: in seinem ersten und in seinem letzten Semester zur Ästhetik – das zweite Mal nach seinem Buch «Ideen zur psychologischen Ästhetik» (1793)173 –, ferner zur Moralphilosophie nach Schmid174 und zur natürlichen Theologie. Im Sommer 1793 gab er eine Vorlesung über Rhetorik und Dichtkunst175 und im Winter 1793/94 eine weitere zur Philosophiegeschichte von der ältesten bis zur neueren Zeit.

Zschokke kündigte jedes Semester als Dozent drei einstündige tägliche Vorlesungen an, im ersten Semester 1792/93 sogar vier. Ob er sie tatsächlich hielt, hing vom Interesse der Studenten ab; offenbar bestand durchaus eine Nachfrage. Zschokkes Vorlesungen waren beliebt, was an seiner Jugendlichkeit und der Frische des Vortrags, am Inhalt, der strikt rationalen Sicht auf die Religion und der Kritik an der Kirche lag. Wenn Zschokke in «Eine Selbstschau» behauptete, er habe alles vermieden, um den Gemütsfrieden der Jünglinge nicht durch Zweifel zu erschüttern,176 so meinte er damit wohl nur Zweifel am Glauben, nicht aber an der Kirche und ihren Dogmen.

Bei Zschokke wussten die Studenten, dass er gegenüber Woellner und dem Religionsedikt kein Blatt vor den Mund nahm. Sie bekamen Wahrheiten über die Kirche bei ihm zu hören, die andere Dozenten nicht oder nur verblümt zu äussern gewagt hätten. Als ihn Behrendsen nach seiner Abreise in die Schweiz fragte, ob ihn diese kritische Einstellung zur Kirche seine Professur gekostet habe, widersprach er: «Daß mich meine Heterodoxie vom Catheder gebracht hat, ist ein Mährchen, sie hat mich vielmehr hinauf gebracht.»177 Später behauptete er allerdings das Gegenteil,178 was seither in alle Darstellungen perpetuiert wurde. Erst Carl Günther begann aufgrund der Aktenlage diese Version wieder in Frage zu stellen,179 leider ohne dass seine Erkenntnis in der Zschokke-Literatur Spuren hinterliess.

Der Studienführer von Rebmann,180 der 1794 unter dem Titel «Katheder-Beleuchtung von Justinus Pfefferkorn» erschien, stellte an der Viadrina neun ordentliche Professoren und als einzigen Privatdozenten Heinrich Zschokke vor.181 Über ihn ist zu lesen:

«Ein junger talentvoller Mann, der sich zu einem guten akademischen Lehrer mit vielem Fleiß und Glück bildet. Er ist weit entfernt, seinen ehemaligen Lehrern nur geradezu nachzubeten, wie bey angehenden Dozenten nur allzuoft der Fall zu seyn pflegt, sondern er denkt selbst sehr scharfsinnig über jeden Gegenstand, den er ergreift, besizt eine für seine Jahre außerordentliche Belesenheit in verschiedenen Fächern der Gelehrsamkeit, womit er einen durch das Studium der schönen Wissenschaften gereinigten Geschmak verbindet. Er ist selbst Dichter, und eines seiner kleinen frühern Werke ist zur Lieblingslektüre der Deutschen geworden. Seinem Vortrag weiß er aus dem üppigen Reichthum seiner Fantasie vieles Interesse zu geben; es fehlt ihm nicht an Würde, Praezision und Deutlichkeit, nur daß er zuweilen durch das ihm eigene Feuer verleitet wird, zu schnell zu sprechen, ein Fehler, für den er seine Zuhörer schadlos zu halten weiß.»182

Rebmann, der als Zeitungsredaktor in Dresden lebte, konnte die Daten über die sieben berücksichtigten Universitäten nicht alle selber erheben; er hatte Zuträger, vermutlich fortgeschrittene Studenten oder Dozenten, und jener, der von der Viadrina berichtete, ergänzte zu Zschokke: «Im gesellschaftlichen Leben ist er freundschaftlich und gefällig, und eine gewisse sanfte Schwermuth, die ihm eigen ist, leiht seinem Umgange manchen Reiz, der dem Herzen wohl tut.»183

Er habe sich, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», um dem «Schattenreich der Metaphysik» zu entkommen, in seiner Dozentenzeit «mit ganzer Macht auf das Studium der sogeheißenen Realwissenschaften; auf Naturkunde, auf Finanz-, Polizei-, Forstwesen und neueste Zeitgeschichte» gestürzt.184 Es gibt kaum unmittelbar Zeugnisse – Briefe, Aufsätze, Vorlesungsskripten oder Aussagen Dritter –, die belegen, dass Zschokke sich in Frankfurt (Oder) tatsächlich ernsthaft mit ökonomischen und staatspolitischen Themen befasste. Nachweisbar ist einzig seine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass in der zweiten Periode an der Viadrina sein Interesse an der Kameralistik erwachte und eine teilweise Umorientierung von der Metaphysik und Theologie zu den Realwissenschaften stattfand, die aber erst in der Schweiz manifest wurde.

IDEEN ZUR PSYCHOLOGISCHEN ÄSTHETIK

Über ästhetische Fragen hatte Zschokke schon längst Ideen entwickelt. Unter dem Eindruck von Steinbarts Vorlesung über Ästhetik im Sommersemester 1790 schrieb er für den «Theaterkalender auf das Jahr 1791» einen Aufsatz über relative Schönheit, worin er darlegte, dass es sich bei der Beurteilung des Schönen um eine Geschmacksfrage handle, also eine subjektive Angelegenheit, und es daher von Intoleranz zeuge, wenn Kritiker ihre Meinung anderen als die einzig richtige aufdrängten. Besonders treffe dies bei Theaterstücken zu. «Ich wünschte diesen Zeilen die allgemeine Beherzigung der Kritiker und Kenner und man würde aufhören die Journale zu Tummelplätzen der aus Irrthum sich hassenden Schönheitsbeurtheiler zu machen!»185

Andererseits hatte sich Zschokke selber als Beurteiler und Verfasser von Dramen um Kriterien bemüht, nach denen die Qualität eines Theaterstücks und einer Theateraufführung bemessen werden konnte, und das hiess, ästhetische Massstäbe anzulegen. Man kann das Zeitalter der Aufklärung auch als eines der Ästhetik sehen und die Ästhetik neben der Geschichtswissenschaft und der Anthropologie als dritte grosse neue Disziplin im System der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts.186 Ästhetik ist dabei zunächst in einem weiteren Sinn zu verstehen, als eine Wissenschaft der Wahrnehmung oder der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitiva), wie Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der Begründer der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin, sie in seiner «Aesthetica» von 1750 definierte.

 

Im engeren Sinn war Ästhetik mit der Frage verknüpft, wieso etwas als schön oder hässlich empfunden werde, und welcher Mittel es bedurfte, um diese Wirkung zu erzeugen. Darum ging es auch Zschokke, als er 1793 sein Buch «Ideen zur psychologischen Aesthetik» schrieb, das zur Herbstmesse im Buchhandel erschien.187 Er konnte sich dabei weitgehend auf das Lehrbuch von Steinbart abstützen, den er bald als «mein grosser Lehrer»,188 bald als «würdiger Mann» oder «achtungswürdiger Weltweiser»189 bezeichnete, ohne sich inhaltlich aber stark auf ihn zu beziehen.

Zschokke umschrieb das Prinzip der Ästhetik mit der Formel «freie Mittheilung schöner Empfindungen»190 und setzte sich als Ziel seiner Untersuchung die Beantwortung der Frage: «Wie und wodurch werden schöne Empfindungen mitgetheilt?»191 Gerade diese Frage nach der Produktion des Schönen vermochte er aber nicht zu beantworten, da ihn die Hauptfrage der ästhetischen Philosophie, was das Schöne sei und wie die Menschen darauf reagierten, zu lange aufhielt.192

Zschokke führte in seinen «Materialien für eine künftige Ästhetik»,193 wie er sein Buch bescheidenerweise nannte und zu dessen Vollendung er «eine Meisterhand» wünschte,194 eine beachtliche Anzahl von Autoren und Werken an, beinahe hundert, die er teils nur als Literaturangabe heranzog, teils einzelne Punkte herausgriff, um ihnen das für ihn Wichtige zu entnehmen. Er entwickelte seine eigene Theorie des Schönen und der Schönheit, «die, was sie in einer psychologischen Ästhetik sein mus, praktisch ist für den edeln Künstler, fruchtbar ist an Gesezzen für ihn, die ihn nie irren lassen».195 Das war ein Anspruch, den er in keiner Weise einlöste. Immerhin gelang es ihm, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen ein Kunstwerk als solches gesehen werden konnte, und die Wirkkräfte auf die Rezipienten herauszuarbeiten.

Er bediente sich ähnlicher Begriffsdefinitionen und Gedankenabfolgen in Paragrafenform, wie er sie von Steinbarts «Grundbegriffen zur Philosophie über den Geschmack» und Platners «Philosophischen Aphorismen» kannte. Auch sonst profitierte er viel von diesen beiden Autoren, stützte sich wie Steinbart auf die beiden Klassiker der deutschen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Georg Sulzer, zusätzlich auf Immanuel Kant, Karl Heinrich Heydenreich, Henry Home, Carl Christian Erhard Schmid und andere, ging aber sonst seinen eigenen, man könnte sagen, eigenwilligen Weg. Sein Ausgangspunkt war eine Anregung Kants in der zweiten Auflage seiner «Kritik der reinen Vernunft», die Ästhetik teils transzendental, teils psychologisch aufzufassen.196

Zschokke wollte die psychologische Ästhetik zu einer eigenständigen Disziplin werden lassen, zu der er «Ideen» oder, wie er an anderer Stelle meinte, «kleine aphoristische Abhandlungen und einzelne Bemerkungen über Gegenstände der Kritik des Geschmaks» beitrug, «welche theils beim Lesen verschiedner Schriftsteller der Ästhetik, theils während meines Aufenthalts in Meklenburg, durch Betrachtung der Natur- und Kunstschönheiten, woran dieses glückliche Land so reich ist, und die dort in mir zu allererst das Gefühl des Schönen entwickelten und bildeten, theils durch meine Vorlesungen über Herrn Prof. Eberhards Theorie der schönen Wissenschaften veranlaßt wurden».197

Er postulierte ein Grundbedürfnis aller Menschen, anderen ihre Empfindungen mitzuteilen. Empfindungen sinnlich mitzuteilen und darzustellen sei auch die Quelle der schönen Künste,198 und die «freie Mittheilung schöner Empfindungen» sei der wesentliche Zweck jedes Kunstwerks aus der Sicht des Künstlers.199 Daraus ergebe sich aber sofort die Frage, was als schön zu bezeichnen sei. Zschokke versuchte sie anthropologisch zu beantworten, dabei griff er damals noch neue Erkenntnisse über die menschliche Natur auf. In der anthropologischen Forschung hatte man begonnen, nach den physiologischen Vorgängen zu fragen, die dem Empfinden und den Aktivitäten der Menschen zugrunde lagen, und war auf Triebe, Nerven und Reize gestossen.

Begriffe wie Kunst, Schönheit oder Vollkommenheit, wie sie von der philosophischen Ästhetik untersucht wurden, waren gemeinhin objektbezogen, ideell und kunstimmanent definiert worden. Es gab auch andere Ansätze, die das menschliche Empfinden stärker betonten, und Zschokke dachte sie konsequent weiter. Es brauche keine kunsttheoretischen Überlegungen, wenn man sich mit dem Empfindungsvermögen befasse, als die er das griechische «aisthesis» übersetzte. Etwas werde schön empfunden, weil es gefalle.200 Gefallen bedeute aber nichts anderes, als angenehme Empfindungen auslösen. Der Mensch besitze Nerven, die gereizt würden, habe Triebe, die nach Betätigung drängten. Wenn die Nerven harmonisch gereizt, die Triebe befriedigt würden, dann entstehe eine Empfindung von Wohlbehagen und Lust, andernfalls von Abneigung und Unlust.

Jetzt müsste man nur herausfinden, welche Reize diese Empfindungen auslösten und welche Mechanismen daran beteiligt wären. Man müsste die Maschine, als welche der Mensch sich in dieser Hinsicht darbot, verstehen lernen. Zschokke war kein Mediziner; er orientierte sich bei seinen Ausführungen über die Nerven und Triebe an Platner und Karl Franz von Irwing (1741–1801), dessen «Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen»201 er sehr schätzte.

«Die in uns wohnenden Triebe sind das, was die Gewichte der Uhr sind. Beide reizen zur Bewegung in der Thätigkeit; fehlen iene, so hört der Mensch auf zu denken und zu empfinden, fehlen diese, so hemmt das ganze Räderwerk im Lauf. – Handeln mus der Mensch; er ist gezwungen; die Triebe suchen Befriedigung – in der Rüksicht ist er ganz Maschine. Er kann auch nicht darüber disponiren, was ihm mehr oder weniger gefallen soll; durch die Verschiedenheit der Triebe, ihrer Lebhaftigkeit, Stärke oder Schwäche, als auch durch die grössre oder mindere Ausbildung der höhern Vermögen und die Organisation seiner Sinnlichkeit wird das Wolgefallen nothwendig bestimmt. Auch in der Rüksicht ist er Maschine. – Jezt kömmt es endlich noch auf die Verhältnisse an, in welchen der Mensch lebt, und wie diese Verhältnisse dem einen, oder dem andern Trieb mehr Stärke und Lebhaftigkeit geben. Diese Verhältnisse hängen aber schlechterdings, ihrem grössern Theil nach, nicht von unsrer Willkühr ab; wir können sie uns nicht geben; wir müssen jeden Eindruk von aussen aufnehmen – und sind auch in der Hinsicht Maschinen.»202

Dies ist eine Schlüsselstelle zum Verständnis von Zschokkes Psychologie, die aber nur scheinbar materialistisch und deterministisch ist. Der Mensch kann zwar nicht frei entscheiden, wer er ist, was er empfindet und wie er sich verhält, aber er besitzt mit seinen Trieben Kräfte, die zur freien Entfaltung drängen.

Der Mensch sei ein «wunderbares Amphibion», das in zwei Welten lebe: der Sinnlichkeit und Nichtsinnlichkeit, und zwei Naturen besitze: Vernunft und Gefühl.203 Für die Erkenntnis benötige er die theoretische Vernunft, für die Handlung die praktische Vernunft. Um eine Handlung als sittlich richtig oder falsch zu bewerten, brauche er eine moralische Natur. Das Empfinden geschehe mit seiner sinnlichen Natur. Diese Naturen, denen entsprechende Triebe zugeordnet seien,204 widerstritten sich in ihren Zielen. Die vernünftige Natur strebe Harmonie, Wahrheit, Nützlichkeit, Zweckmässigkeit an, die moralische Natur Sittlichkeit und Tugend, die sinnliche Natur aber Wohlsein, Vergnügen und Glückseligkeit.205

Der Künstler, indem er die Empfindungen der Menschen beeinflusse, greife tief in ihr Inneres ein, und daher kämen ihm grosse Macht und Verantwortung zu.206 «Der Künstler ist ein Gewaltiger über die Herzen des Volks.» Er könne «unaussprechlichen Nutzen stiften, den kein Erdengott mit seinen Millionen und Tonnen Goldes allein zu bewirken im Stande ist, den keine Wissenschaft leistet, keine Gewalt hervorbringt, sobald er sich zur Maxime macht, wahre Schönheit, nach unsrer Angabe, darzustellen».207

Was von Zschokke als grundsätzliche Erforschung der Ästhetik angelegt war, wurde ihm unter seinen Händen zu einer pädagogischen und moralphilosophischen Abhandlung, in deren einem Brennpunkt der «edle Künstler» stand mit seinem Bemühen, das Schöne darzustellen und vollkommene Kunstwerke zu schaffen. Nicht dass er dies erreichte, aber er sollte mindestens danach streben. Dies bezeichnete Zschokke als ästhetischen Imperativ,208 in Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ, den er aber nicht näher ausführte.

Der zweite Brennpunkt in dieser Ästhetik ist das Volk, auf welches die Kunst einwirkt. Es besitze ein Bedürfnis nach schönen Empfindungen, also Kunst, gleichgültig, wie roh oder verfeinert sein Kunstgeschmack sei. Es könne ein gutes und ein schlechtes Kunstwerk unterscheiden, indem das erste ihm gefalle und angenehme Empfindungen auslöse, das zweite nicht. «Das Schöne ist mit einem nothwendigen Wohlgefallen verknüpft.»209 Gefallen könne dem Menschen nur, was drei Kriterien erfülle: seine Sinne anspreche, seine Vernunft nicht beleidige und seine Sittlichkeit nicht verletze.210

Zwar muss Zschokke einräumen, dass auch das Unvernünftige und Unsittliche gefalle, aber nur bei von ihren Affekten gesteuerten Menschen, welche die Vernunft oder die Moral ausser Kraft gesetzt hätten. Ihr Wohlbehagen gegenüber einem unsittlichen Gemälde oder Buch, das «dem Tugendhaften, dem Vernünftigen» nicht gefallen könne,211 sei von Leidenschaft getrübt.212 Auch Künstler, die so etwas schufen, ohne auf einen höheren Zweck abzuzielen, seien unfrei. «Freiheit bezieht sich auf Vernunftüberlegung, [...] auf Gehorsam gegen die Gesetze der Vernunft, in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauche.»213

Man kann aus diesen Ausführungen nicht schliessen, Zschokke habe seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik» als Moralapostel und Sittenwächter verfasst. Ebenso verhängnisvoll, wie die sittliche oder erkennende Natur der Menschen zu missachten, sei es, die Sinnlichkeit zu vernachlässigen. «Die Sinnlichkeit leihet der theoretischen und praktischen Vernunft Empfindungen.»214 Und: «Das für den Verstand regelmäßigste, für die sittliche Vernunft beste Werk ist nicht schön, sobald es an sich den Forderungen der Sinnlichkeit widerstrebt.»215

Zschokke stellte Prinzipien dar, ohne den Blick für Realitäten zu verlieren. Die Welt war nicht vollkommen, nicht jeder Künstler edel, kein Mensch frei von Leidenschaft. So war das Leben, und Zschokke hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, er selber sei als Dichter nur an der sittlichen Bildung der Leser interessiert. An seinem Wunsch nach einem «thebanischen Gesetz», das darauf achte, dass in der Kunst nur «das Schöne und Anständige dargestellt werde»,216 ist abzulesen, wie ernst es ihm um diese Forderung für die Zukunft war. Über die Einhaltung dieses Gesetzes sollte aber nicht die Polizei, sondern «Kunstrichter und Kenner» wachen.

In der neusten Literatur zur Geschichte der Ästhetik wird Zschokkes Buch gewürdigt, und es wird bedauert, dass es so rasch in Vergessenheit geriet, da es durch «die Identifizierung des Ästhetischen mit der Subjektivität des Fühlens» einen «durchaus originellen Ansatz» biete und mit dem ausdrücklichen Anspruch der Gründung einer psychologischen Ästhetik verbinde.217

Entscheidender als die kunsttheoretische Originalität Zschokkes oder seine etwas eigenartige Terminologie218 sind für den Biografen seine Ausführungen über die menschliche Natur. Die Triebkräfte seien bei allen Menschen gleich gestaltet. Niemand, weder Fürst, Priester, Adliger noch Gelehrter oder Künstler könne sich von dem ausnehmen, was auch für den einfachsten Bauern und Taglöhner gelte: dass er in sich einen Drang nach Freiheit im Denken und Handeln, nach Ehre, Freundschaft, Liebe, Reichtum und Menschlichkeit besitze,219 den Wunsch nach Schönem und Vollkommenem, der sich genauso Geltung verschaffen wolle wie der ebenfalls ubiquitäre Geschlechts- oder Lebenserhaltungstrieb.220

Zschokke hatte ein allgemeines Prinzip zur Bildung des Menschen gefunden, das von seiner Natur ausging und insofern die schönen Künste berührte, weil der «edle Künstler» auf das Gemüt, «das Empfindungsvermögen vermittelst der Vorstellungen und Gefühle» einwirke, was für die Erziehung des Menschengeschlechts viel bedeutungsvoller sei, als was der Philosoph leisten könne, der «allein für Verstand und Vernunft, der Moralist für die praktische Vernunft, und der niedrige Künstler für die Sinnlichkeit allein arbeitet».221 Schiller habe beispielhaft gezeigt, wie der Künstler die Menschen durch das Theater rühren und verbessern könne:

 

«Durch die Gewalt des Kontrastes [...] in seinen Trauerspielen hebt er Vorstellungen und Empfindungen in uns zu einem hohen Grad der Lebhaftigkeit, wodurch der sympathetische Trieb rege wird. Nun zittern und schaudern wir mit seinen Helden vor der anrückenden Gefahr, wir weinen, oder fühlen uns kühn und stolz und athmen Rache, nach seinem Geheis.»222

Zschokke hätte sein Buch auch «Ideen zur ästhetischen Erziehung» nennen können, selbst wenn ihm noch nicht bewusst war, dass die pädagogische Seite ihn einmal stärker beschäftigen würde als die Theorie der Kunst oder die Lehre von den Empfindungen. Er schickte sein Werk Schiller, mit der Bitte um ein Urteil und die Erlaubnis, seine Ideen in der Zeitschrift «Thalia» näher erläutern zu dürfen.223 Den Brief verband er mit der Bezeugung seiner grossen Verehrung für den Dichter; er endete mit dem Satz: «Ihrer gütigen Antwort entgegenharrend, bleib ich bis an mein Grab mit ungeschminkter Hochachtung Ihr Verehrer M. Heinr. Zschokke.»224 Auch dieser Brief, wie der frühere an Wieland, blieb unbeantwortet. Stattdessen veröffentlichte Schiller in den «Horen» seine gleichzeitig mit Zschokkes entstandenen Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen».225 Beide beziehen sich auf Kant, und beide versuchen, der Gefahr der politischen Anarchie ein Bollwerk der moralischen und ästhetischen Veredelung des Volks entgegenzusetzen.226 Zschokke hoffte, dass sein Buch für akademische Vorlesungen Verwendung fände227 und wollte es seiner eigenen Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1794/95 zugrunde legen; es kam aber nicht mehr dazu.

DICHTER UND PUBLIZIST IN DER FRANKFURTER ZEIT

Zschokkes fünf Jahre in Frankfurt waren reich an literarischem und publizistischem Schaffen. Es entstanden fünf teils mehrbändige Romane (und ein Romanfragment), vier Dramen, drei Bände mit Aufsätzen und Erzählungen, zwei eigenständige Zeitschriften und verstreute Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften, die hier nur im Überblick dargestellt werden können.

Am 5. Januar 1793 erschien das erste Stück von Zschokkes Wochenzeitschrift «Frankfurter Ephemeriden für deutsche Weltbürger» bei Christian Ludwig Friedrich Apitz.228 Es war sein erstes selbständiges, nach eigenem Konzept entworfenes und realisiertes Periodikum, ein Einmannunternehmen mit dem Anspruch, zu unterhalten und gleichzeitig zu nützen, letzteres durch Aufklärung und Bekämpfung des Aberglaubens.229 Die eigentliche Ankündigung, die im Dezember 1792 in Frankfurt (Oder) und über Buchhändler und Postämter in weiteren Städten von Braunschweig bis Breslau und Schwerin bis Magdeburg verteilt wurde, ist nicht mehr greifbar. Eine Liste der Abonnenten wurde nach Abschluss des ersten Semesters der Zeitschrift beigelegt und gibt uns wertvolle Aufschlüsse über die soziale und geografische Streuung der Leser.230 Sie hatte 450 Subskribenten oder Pränumeranden gewonnen, eine stattliche Zahl für eine neue und noch unbekannte Publikation.

Anstelle einer Vorrede lässt Zschokke eine fiktive Kaffeegesellschaft in einem Provinzstädtchen über die neue Zeitschrift diskutieren:

«‹Wir haben seit vielen Jahren kein Wochenblatt gehabt;› sagte der dikke Herr Amtmann, und sezte seine Tasse hin: ‹ich wills doch mithalten; es pflegt unterweilen schnurriges Zeug darin zu stehen, darüber man sich krank lachen mögte. Zum Beispiel so recht trollige Anekdötchen; Sie wissen ia wohl, Frau Gevatterin, wie wir neulich lasen! he, he, he!›

Die Frau Gevatterin wurde roth, und warf ihm einen halb verschämt, halb drohend sein sollenden Blick zu.

‹Hm!› sagte eine lange hagre Dame und warf den Kopf etwas zurück: ‹Wochenblatt hin, Wochenblatt her! wir haben ia Lesegesellschaften und Lesebibliotheken, wozu noch ein Wochenblatt? – Man giebt ia doch Geld genug fürs leidige Lesen aus, und unter zehn Blättern taugt öfters kaum ein Blatt etwas; da wird entweder moralisirt, oder satyrisirt, oder poesirt, und dann bekömmt man endlich einmahl so eine kleine Liebesintrigue zur Entschädigung für die Langeweile.›

‹Da haben Sie nicht unrecht,› flüsterte ihr der dürre Postmeister zu: ‹für das Geld ein paar Spiel l’Hombrekarten.› ‹Oder einen neuen Floraufsaz!› lispelte des Postmeisters Tochter. ‹Und überdies,› hub der Pastor loci an und strich die buschichten Augenbraun seitwärts: ‹das Avertissement verspricht so viel, als gar nichts. – Für Weltbürger! ia, ia, die Weltbürger kenn’ ich schon; Indifferentisten, Religionsspötter sollts heißen; das muß ich wissen!›»231

Das anwesende Fräulein von M.* schlägt schliesslich vor zuzuwarten, was die Zeitschrift bringen möge, wohl «nichts mehr und nichts weniger, als von iedem Wochenblatt, das für Herz und Kopf geschrieben sein soll». Die Anwesenden «horchten und waren galant genug, die Zähne zusammen zu pressen, und mit einem schmeichlerischen Lächeln ein tiefes Kompliment zu machen».232

Mit dieser Jean-Paulschen Szenerie traf Zschokke das Milieu, von dem seine Ephemeriden wohl gelesen wurden und für das er sie schrieb: der gehobenere Mittelstand kleiner und mittlerer Städte, der sich auf der Jagd nach Gesprächsstoff für seine Zusammenkünfte befand. Zschokke bildete in der Vorrede, wenn auch satirisch verfremdet, die Salons ab, die er selbst frequentierte, und die «Frankfurter Ephemeriden» waren sein Beitrag zu ihrer Unterhaltung, mit ihrem Erscheinen am Samstag gerade rechtzeitig für die sonntäglichen Treffen. Von diesen Kreisen kannte Zschokke die Interessen und stimmte den Inhalt darauf ab.

Friedrich Wilhelm Genthe machte als erster nach Zschokkes Tod auf diese Zeitschrift aufmerksam, von der nur 24 Ausgaben im Umfang von einem Bogen oder 16 Seiten in Oktavo erschienen, schrieb den Titel aber falsch.233 Auf seine Angaben stützten sich nolens volens Alfred Rosenbaum in Goedekes «Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung in Quellen»234 und Carl Günther, der die Zeitschrift nie zu Gesicht bekam, da sie jahrzehntelang verschollen blieb.235 Um 1963 tauchte sie wieder auf, als Geschenk an das Stadtarchiv, und Klaus Barthel, dem langjährigen Leiter der Kleist-Forschungsstätte in Frankfurt (Oder), gebührt der Verdienst, in einer Publikation 1983 wieder darauf hingewiesen zu haben.236 Auch wenn von Mitarbeitern dieser sehr aktiven Kleist-Forschungsstätte seither gelegentlich mit den «Frankfurter Ephemeriden» gearbeitet wird,237 steht eine gründliche Auswertung dieser nicht nur für die Zschokke-Forschung, sondern auch kulturhistorisch interessanten Zeitschrift noch aus.

Der bemerkenswerteste Beitrag in den «Frankfurter Ephemeriden» sind die sich über mehrere Folgen erstreckenden «Wanderungen einer philosophischen Maus»,238 in denen es eine «Kirchenmaus» überdrüssig ist, in einer Kirche von kargen Brosamen zu leben, eine Reise durch die Stadt unternimmt und dabei in ein menschliches Narrenhaus gerät. Die schon im «Schriftstellerteufel» angelegte Satire über das Menschlich-Allzumenschliche wird hier um Eitelkeit, Heuchelei, Neid, Missgunst, üble Nachrede, Egoismen und andere Unzulänglichkeiten erweitert. Reumütig kehrt die Maus in ihr altes Heim zurück, nachdem sie festgestellt hat, «daß unter allen Thieren, die der Herr erschaffen hat unterm Monde ihr Futter zu suchen, kein Thier sich selber und unter einander mehr betrügt als der Mensch».239 Es ist eine moralische Erzählung, wie sie für die moralischen Wochenblätter des 18. Jahrhunderts bezeichnend war,240 geprägt von Zschokkes pessimistischem Menschenbild, das sich im Übrigen auch in seiner politischen Einstellung zeigte.