Heinrich Zschokke 1771-1848

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Eine Besonderheit der Viadrina waren die vielen fremdsprachigen Studenten: Sorben,56 Polen und Ungarn aus deren Stammlanden und aus Siebenbürgen. Grund dafür waren die günstige geografische Lage, die theologische Ausbildung für Reformierte und die Möglichkeit, zu einer Beamtenkarriere im östlichen Mitteleuropa ein solides rechts-, kameral- und staatswissenschaftliches Fundament zu legen. Mit einigen von ihnen schloss Zschokke offenbar Bekanntschaft. Als er nach Frankfurt kam, gab es dort vier offiziell gedultete «Kränzchen» in der Nachfolge der Landsmannschaften: ein preussisches, schlesisches, pommersches und markbrandenburgisches. Georg Friedrich Rebmann bezeichnete solche Verbindungen geringschätzig als «Schlägergesellschaften». «Ihr Hauptzweck ist Schlagen und ihr Nebenzweck Saufen.»57 Saufen mochte Zschokke nicht, aber dem Schlagen war er durchaus nicht abhold. Er übte sich im Umgang mit dem Rapier, den er wohl kaum einem der besoldeten Exerzitienmeister der Viadrina,58 sondern einem Mitstudenten verdankte. Wie geschickt er diese Waffe handhabte, erzählte er seinen Söhnen in einer Anekdote:59 Er sei an der Viadrina als ein «guter Schläger» bekannt gewesen. Fast jeden Tag habe er nach dem Mittagessen gefochten, «theils um sich zu üben, theils die Verdauung zu befördern». Eines Tages sei ein Student bei ihm erschienen, um ihm eine neue Finte zu zeigen.60 Sie bestand darin, den Gegner abzulenken, indem man mitten im Duell einen Hieb gegen den Boden führte, und während der andere dem Degen oder Rapier folgte, blitzschnell einen Streich gegen dessen Kopf machte. Zschokke habe den Trick gleich und mit Erfolg am anderen ausprobiert; Scheufelhut, wie der Mittelstudent hiess, sei darob wütend geworden und habe vorgeschlagen, diesmal scharfe Waffen zu nehmen und noch einmal zu beginnen. Zschokke habe zugestimmt, und es sei ihm gelungen, den anderen erneut zu täuschen; sein Hieb habe ihn an der Oberlippe verwundet und ihm einen Zahn gekostet. Darauf habe Zschokke Essig holen lassen, um die Wunde zu säubern. Sie seien als Freunde auseinandergegangen.

Selbst wenn in dieser Darstellung väterlicher Stolz und Prahlerei stecken sollten, ist es erwiesen, dass Zschokke gern und mit Leidenschaft focht. Er betrieb diesen Sport nicht, um Ehrenduelle zu bestehen, sondern weil es ihm Spass machte, und es gelang ihm anscheinend, sich damit einigen Respekt zu verschaffen, auch wenn er sich vom Trinken und Raufen sonst fernhielt.

In Biografien wird der Student Zschokke als zartbesaiteter Träumer beurteilt, schwärmerisch, schüchtern und unbeholfen, so, wie er sich im Nachhinein selber gern beschrieb.61 Dieses Bild muss revidiert werden. War schon der kleine Heinrich ein Wildfang, der mit Holzschwertern focht,62 so wich er auch als Student keiner Kraftprobe aus und zeigte sich draufgängerisch; er wusste sich durchzusetzen und seiner Haut zu erwehren.

Schon im zweiten Semester erhielt er Gelegenheit, sich seinen Kommilitonen und Lehrern ins Bewusstsein zu bringen. Professor Steinbart bat ihn, beim Begräbnis des Mitstudenten Johann Gustav Friedrich Toll (1772–1790), der an Nervenfieber gestorben war, eine Rede zu halten. Zschokke hielt die Traueransprache, obwohl er mit Toll nichts zu tun gehabt hatte. Er verschaffte sich damit die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Studenten und Professoren.62 Auch Ludwig Tieck war an diesem nasskalten Herbsttag unter den Trauernden und schilderte in den Worten seines Biografen Rudolf Köpke seinen Eindruck so:

«Am Grabe sprach ein Student einige Worte der Erinnerung, Heinrich Zschokke aus Magdeburg. Früher Theaterdichter bei der Schauspielertruppe in Landsberg, hatte dieser sich erst spät entschlossen, zu studiren. Seine mannichfachen Erfahrungen, sein männlich ausgebildetes Wesen und Derbheit hatten ihm unter den Studenten bedeutendes Ansehen erworben. Ludwig machte seine persönliche Bekanntschaft, doch weder die Stimmung noch der Augenblick waren zu weiterer Annäherung geeignet.»63

Es ist dies eine von wenigen Beschreibungen über Zschokke aus seiner Studentenzeit und deshalb wertvoll. Sie zeigt, dass er das Grobe, Ungehobelte, das Lehrer Koch ihm 1780 vorgeworfen hatte, zehn Jahre später noch nicht ganz abgelegt hatte, vielleicht aber auch wieder neu kultivierte. Was früher als bäuerisch gerügt wurde, galt jetzt als männlich.

Wir kennen etwa ein Dutzend Studenten, mit denen Zschokke sich befreundete; Carl Günther stellt einige von ihnen mit ihrem Lebenslauf vor, so dass es nicht nötig ist, dies zu wiederholen.64 Dazu gehörte zunächst der Landsberger Karl Weil, mit dem er immatrikuliert wurde, und Gottlob Benjamin Gerlach (1770–1845), Sohn eines Züllichauer Schneiders, der kurz nach ihm an die Viadrina kam und wie Zschokke bei Professor Hausen wohnte. Karl Weil wollte Jurist werden, Gerlach gab als Studienfach Pädagogik an und wurde Pfarrer. Schon 1789 eingeschrieben hatten sich Theodor Heinrich Otto Burchardt (Rechte, später Justizrat und Syndicus in seiner Heimatstadt Landsberg), Karl Friedrich Braumüller aus Strasburg in der Uckermark (reformierte Theologie) und Otto Ferdinand Lohde aus Berlin (Rechte). Im gleichen Semester wie Zschokke trug sich auch Johann Georg Marmalle (1770–1826) aus Königsberg ein, der an der dortigen Universität und unter Kant sein Studium angefangen hatte (reformierte Theologie), ein halbes Jahr danach August Ludwig Hahn aus Landsberg (Rechte, 1809 Regierungsrat, später in Magdeburg) und im Frühling 1791 der Berliner Heinrich Wilhelm Hempel (1771 bis nach 1850; Rechte, Landrentmeister in Koblenz), Enkel der gefeierten Dichterin Anna Louisa Karsch.

Schon fast am Ende ihres Studiums befanden sich Johann Gabriel Schäffer aus Berlin, eingeschrieben im Oktober 1787 (reformierte Theologie, 1799 Pfarrer in Halle und ab 1808 in Magdeburg), und Samuel Peter Marot (1770–1865) aus Magdeburg (reformierte Theologie, 1798 Pfarrer in Berlin, 1816 Superintendent, 1846 Oberkonsistorialrat). Marot war seit April 1788 eingeschrieben und mit Zschokke von der Schulzeit her bekannt.65 Die anderen Mitstudenten verliessen Frankfurt mit der Zeit, und Zschokke verlor sie aus den Augen. Ausser mit Schäffer blieb er nach seiner Abreise von Frankfurt (Oder) nur noch mit Gerlach in Verbindung, vielleicht auch mit Marmalle, der in Berlin am Joachimstaler-Gymnasium Sprachlehrer wurde, und mit den beiden Professoren Hausen und Steinbart.

Es fällt auf, dass Zschokke hauptsächlich mit angehenden Juristen und Theologen verkehrte und mit keinem Mediziner. Da er an der medizinischen Fakultät keine Vorlesungen belegte, waren die Berührungspunkte klein. Es kann auch damit zusammenhängen, dass die Zahl der Medizinstudenten an der Viadrina nach 1788 rapide sank; 1790 schrieben sich noch elf Studenten ein, davon sieben als Prüfungskandidaten. Die Mediziner stellten dennoch über vier Fünftel aller Doktoranden. Der Titel war an der Viadrina leicht zu haben, da die Professoren bei der Disputation kräftig mithalfen, wie Alexander von Humboldt bemängelte, der ein Jahr vor Zschokke hier studiert hatte.66

Ein gutes Mittel, um herauszufinden, mit welchen Kommilitonen ein Student befreundet war und welchen Vergnügungen er nachging, sind Stammbücher. Fast alle Studenten besassen ein solches Buch, in das sich Freunde bei besonderen Anlässen oder beim Abschied eintrugen, mit einem Vers, einem freundschaftlichen Gruss und «Memorabilia», gemeinsamen Erlebnissen, die man in Erinnerung behalten wollte. Neben Diplomen und öffentlichen Auszeichnungen war das Stammbuch das Kostbarste, was ein Student von der Universität mitnahm und meist ebenso gut aufbewahrte wie amtliche Dokumente, Wertpapiere und Quittungen. 1844 besass Zschokke sein Stammbuch noch, wie aus dem Briefwechsel mit Heinrich Wilhelm Hempel hervorgeht; danach wird es nicht mehr erwähnt und taucht auch in seinem Nachlass nicht auf. Zum Glück wird in den Briefwechseln zuweilen aus den Stammbüchern zitiert. In Hempels Stammbuch etwa schrieb Zschokke:

«Unsterblichkeit schnellet die Waage irdischer Minutenfreuden empor, und verspinnt unsern Namen in den Faden jedes Jahrhunderts!

Ewig Dein Heinr. Zschokke

Doct. der Phil»

Und darunter:

«Frft. a/O. d. 25. März 92.

am Abschiedstage.

Symb. Bleib mir ewig hold!»67

Das war der Tag, als Zschokke nach seiner Promotion von Frankfurt (Oder) abreiste, um in Küstrin sein theologisches Diplom, die «licentia concionandi», zu erwerben und dann ein halbes Jahr in Magdeburg zu verbringen. «Symb[olum]» – Marke, Kennzeichen – bezieht sich auf die anschliessende Bemerkung, die beiden als Erkennungszeichen diente, eine Formel, die Zschokke so oder ähnlich oft in Briefen benutzte. In einem weiteren Brief teilte Zschokke Hempel mit, was sich in seinem Stammbuch von Hempels Hand befand,68 zunächst ein schwärmerisches Zueignungsgedicht, dann ein paar Memorabilia:

«3. Die witzigen Impromtü’s meiner Grosmutter in Betreff Deiner, beim Abendessen in der Sommerstube des Prof. Hut

4. Unser Spatziergang nach deiner Stube und unser Brüderschaftstrunk NB. ein Citronenwasser

5. Meine Muse verbeugt sich vor der Deinigen.

6. Die herrlichen Kallenbachschen Lieder: Er ist dahin! – O wein, Mädchen, wein!»

Nicht alle Anspielungen lassen sich klar deuten. In einem späteren Brief brachte Zschokke weitere Memorabilia von Hempel aus seinem Stammbuch: dass sie sich an Sonntagen gegenseitig besuchten oder ein Pastor in vollem Ornat bei Zschokke einmal einen wohlschmeckenden Kaffee getrunken habe – Banalitäten, die aber gerade dadurch die Intimität des Gemeinsamen konservierten.69

Soweit wir die Memorabilia Zschokkes und seiner Freunde kennen,70 spielen die üblichen studentischen Streiche kaum eine Rolle. Neben sonntäglichen Ausritten in die Neumark oder in die Lausitz, nach Pommern oder Polen,71 kleinen Zwischenfällen mit peinlichen oder gut gemeisterten Situationen und Andeutungen auf Gefühle und Liebschaften thematisierten die Studenten ihre Gespräche. Carl Günther gibt einige Memorabilia Zschokkes aus Marmalles Stammbuch wieder: In Erinnerung an die Neujahrsfeier 1790/91 stand da: «Schmerzliche Nachwehen!» Während einer Bootsfahrt sei es zum Streit über das Prinzip der Ästhetik gekommen. «Öftere Fehden unter uns, welche übrigens die Würze der Freundschaft bleiben müssen.» Ferner: «Eine alte polnische Dame wird von mir für die neuankommende Geliebte gehalten. Oh!» In Sommer 1791, nach einem Ritt zu Burgheim nach Landsberg: «Wir bitten Mr. Lichtenfeld und Mamsell D** noch um ein paar Schritte. Es geht ein Herz verloren.»72

 

Zschokkes erster Eintrag in Marmalles Stammbuch, datiert vom 10. Juni 1791, steht unmittelbar neben jenem von Immanuel Kant vom 22. April, der Marmalle zum Abschied von Königsberg einen sinnigen Spruch von Plautus mitgab: «Tu, si ex animo velis bonum, / Addas operam. Sola cadaver est voluntas.» Zschokke schrieb denselben Vers hin wie bei Hempel und fügte die Frage hinzu: «Bruder bin ich dir so unvergeslich, als Kant der Nachwelt?»73 Weiter hinten in Marmalles Stammbuch hielt Zschokke noch einige triviale Vorgänge fest, die zeigen, dass auch diese Freundschaft nicht nur von gewichtigen Themen bestimmt war.

Hempel, wiewohl für die Juristerei bestimmt, wetteiferte mit Zschokke im Dichten. Seine zwölf Jahre jüngere Schwester Helmina von Chézy, Dichterin wie ihre Mutter Caroline Louise von Klenke und ihre Grossmutter Anna Louisa Karsch, schrieb in ihrem autobiografischen Werk «Unvergessenes» über Hempel und Zschokke:

«Beide Jünglinge waren poetisch, geistvoll, feurig, beseelt. Ihre Treue hat sich bis in das Greisenalter glänzend bewährt. Nur ihre Laufbahn war verschieden, nicht ihr Gefühl, noch ihre Gesinnung. Mein Bruder hätte seinem Talent zur Poesie vertrauen sollen; er hielt sich nicht ausschließlich genug an Zschokke: er gerieth auf abirrende Bahnen, weil er sein Ziel aus den Augen verloren hatte.»74

Die «abirrenden Bahnen» sollten vielleicht das Bedauern ausdrücken, dass Hempel als Beamter das Dichten aufgab und seine Begabung verkümmern liess. Hempel sah es offenbar anders, wie aus dem fünften Memorabilium hervorgeht: Die Einsicht, dass ihm Zschokke hierin überlegen war, musste ihn entmutigen. Das sechste Memorabilium von Hempel bezieht sich auf zwei Gedichte Zschokkes, von denen Zschokke das eine, einen Gruss an einen (weggezogenen? verstorbenen?) Freund, veröffentlichte: «Nach dem Abschiede, an Sanft.»75 Die Innigkeit, die darin zum Ausdruck kommt und durch die Melodie von Zschokkes Magdeburger Freund Kallenbach wahrscheinlich verstärkt wurde,76 lässt erahnen, wie emotional Freundschaften unter Studenten damals sein konnten, zu einer Zeit, da Männerfreundschaften die Beziehung zum anderen Geschlecht ersetzen mussten.

Unverheiratete bürgerliche junge Frauen waren für arme Studenten nahezu unerreichbar; sie lebten in der Obhut ihrer Eltern, bis sie standesgemäss verheiratet wurden. Das Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit wurde auf Männer übertragen, in der Steigerung Freundschaft, Blutsbruderschaft und Leidenschaft, verbunden mit Eifersucht, wobei bis auf die Sexualität alles da war, was zur Intimität gehört. Man ging Arm in Arm durch die Strassen, vertraute sich Geheimnisse an, umarmte sich, küsste sich auf den Mund, weinte gemeinsam, tröstete sich und schwor sich Treue und Liebe bis in den Tod. Man darf das jugendliche Alter – die Studenten waren oft nicht älter als 18 bis 22 Jahre –, die Unaufgeklärtheit und mangelnde Reife nicht ausser Acht lassen. Da die Sexualität bei jungen Männern keine Rolle spielte oder spielen durfte, konnte sich die Zuneigung zueinander enger und unbefangener gestalten als in unserer hedonistischen, übersexualisierten Welt. Gefühle unter Burschen standen in ihrer Intensität und Innigkeit Mädchenfreundschaften in nichts nach. Zschokke ging einige solcher Busenfreundschaften ein, die nach der gemeinsamen Studienzeit ausliefen. Was blieb, waren Erinnerungen, Stammbucheinträge, Gedichte und zärtliche Briefe.

Nachdem man sich ein halbes Jahrhundert lang aus den Augen verloren hatte, trat Zschokke in den 1840er-Jahren mit einigen Kommilitonen wieder in einen Briefwechsel, wobei die Initiative meist von den Freunden ausging, da sie Zschokkes Werdegang und Itinerar leichter verfolgen konnten als umgekehrt. Sein Ruhm hatte jetzt den Zenit erreicht. Aber nicht deshalb knüpfte man wieder Kontakt, sondern im Bewusstsein, dass es eine der letzten Gelegenheiten war, sich gegenseitig der unverbrüchlichen Freundschaft zu versichern, bevor der Tod sie für immer schied. Man zog also das Stammbuch hervor und schwelgte in den früheren Gefühlen und Narreteien, ohne Scham, dafür mit Wehmut.

Dabei wird ein zweites Element solcher Freundschaften deutlich: der Gleichklang der Seelen durch übereinstimmende Gedanken, glühende Ideale, das schwärmerische Weltbild. Es war die Zeit überwallender Empfindungen und grosser Empfindsamkeit. Das Leben hatte sich im Laufe der langen Jahre verflacht und versachlicht, man dachte gern an die leidenschaftliche Jugend zurück. Der im Juni 1791 geschlossene Bund zwischen Zschokke, Lohde und Marmalle wurde bei aller Überspanntheit – man brachte sich beim Ritual der Blutsbruderschaft einen Schnitt am Handgelenk bei, dessen Narbe sichtbar blieb77 – bereits damals ironisch reflektiert. Ein Memorabilium Zschokkes im Stammbuch von Marmalle erinnert daran: «Der Bund für die letzte Lebensstunde und irdisches Wohl, geschlossen bei unserm Bluttrank und einer Schüssel grüner Erbsen!»78

Ein Kreis um Zschokke erhielt oder gab sich den Namen «Chocolatebrüder», da er sich mit flüssiger Schokolade oder Zitronenwasser begnügte, statt den Brauch deutscher Verbindungsstudenten an den Tag zu legen, die Freundschaft mit Bier zu besiegeln. Mit einigen Studenten, vielleicht gerade mit diesen Schokoladebrüdern, ging Zschokke ein besonders enges Verhältnis ein. Man dachte sich neue Welten oder Abenteuergeschichten aus oder spekulierte über philosophische und religiöse Fragen, über Utopien; hier durfte die Phantasie überborden, ohne Anstoss zu erregen. Zschokke war Mittelpunkt dieses Kreises, der auf ihn befruchtend zurück wirkte. Ideen und Konzepte, die hier entstanden, arbeitete er zu Aufsätzen oder Romanen aus; die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit» scheint hier ihren Ursprung zu haben.79 Liest man Zschokkes auf Fortsetzung angelegte zweibändige Publikation «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», so findet man vieles davon wieder, was diesen Freundeskreis damals beschäftigte.

Ein Thema, mit dem Zschokke sich damals intensiv auseinandersetzte, blieb die Frage des Lebens nach dem Tod. Wenn es ihn schon irritierte, dass die Existenz Gottes sich nicht zweifelsfrei beweisen liess, so verstörte ihn der Gedanke erst recht, dass mit dem Tod alles zu Ende sein sollte. Also begann er nach Alternativen zur naiven jüdisch-christlich-muslimischen Vorstellung einer physischen Wiederauferstehung zu suchen. Gefunden hat er sie in der Idee der Seelenwanderung bei den Pythagoräern, Brahmanen, Buddhisten und in der christlichen Gnosis. Die Ergebnisse seines Nachdenkens und der Gespräche mit Freunden legte Zschokke im Aufsatz «Vergangnes Seelendasein und dereinstiges» unter dem Pseudonym Johannes von Magdeburg nieder.80

Dieser Aufsatz ist ein Schlüsseltext zum Verständnis von Zschokkes religiöser Entwicklung, und wenn er auch die Vorstellung einer Wiedergeburt bald wieder aufgab, so hielt er doch noch länger an der Idee der Vervollkommnung des Menschen im diesseitigen Leben fest, in der Beglückung der Mitmenschen und in der Freude am Dasein. Der irdische Genuss, die intellektuelle und moralische Bildung und nicht das Versprechen auf ein Jenseits war die Genugtuung, die Gott dem Menschen schenkte. Der eigentliche Sinn des Lebens sei Freundschaft, Weisheit und Menschenliebe. In zwei Gesprächen – schwärmerisch mit einem Fräulein von Z. und philosophisch mit Myron – erläuterte Zschokke seine Idee der Seelenwanderung weiter und hob ihre Vorteile gegenüber anderen Theologien hervor.81 Auch wenn sie nicht mehr als eine Mutmassung sei, habe sie eine «wohlthätige Stärke»82 und müsse schon deshalb verfochten werden, da sie Plausibiliät besitze und «den vortheilhaftesten Einfluß auf Sitten und Karakter des Volks» haben könne.83

Otto Ferdinand Lohde (1770–1851), später Jurist und während vierzig Jahren Bürgermeister in Hildesheim, erinnerte ihn 1841 an jenen «Bunde ewiger Treue und unverbrüchlicher Freundschaft», der vor fünfzig Jahren, «bei Gelegenheit unsrer Unterhaltung über Entstehn, Seyn und Tod – Prae und Post Existenz der Seele unter uns geschloßen und mit Blut unterkreuzet wurde», und er führt ausser seiner und Zschokkes Unterschrift auch die von Johann Georg Marmalle an.84 Als Gottlieb Lemme, der die Schule beendet hatte und sich in der Tuchherstellung betätigte, im Sommer 1791 einmal nach Frankfurt (Oder) kam, führte Zschokke ihn in den Freundeskreis um Marmalle, Lohde, Gerlach und Braumüller ein und liess ihn an Gesprächen über die Seelenwanderung teilhaben.85

Nicht nur die Kommilitonen, sondern auch die Professoren schätzten Zschokke, so dass man ihn zu Anlässen und in Salons einlud. In der «Selbstschau» wird der Hauskreis der Professoren Hausen, Steinbart, Berends und des Astronomen Huth erwähnt.86 Die Dichterin Anna Louisa Karsch (1722–1791) reiste im August 1790 nach Frankfurt (Oder), um dafür zu sorgen, dass es ihrem Enkel, der sich im Mai eingeschrieben hatte, an nichts gebrach. Hempel nahm Zschokke zu einem Treffen ins Sommerhaus von Professor Huth mit. Beruhigt kehrte sie nach Berlin zurück und starb im folgenden Jahr.87 Was Anna Louisa Karsch Geistreiches zu Zschokke sagte – siehe das dritte Memorabilium von Hempel –, ist nicht festgehalten, aber sie lobte Professor Huth als «einen jungen vortrefflichen Mann».88

Im März 1791, noch vor Ende seines zweiten Semesters, verliess Zschokke für sechs Wochen Frankfurt (Oder), um nach Magdeburg zu fahren. Wahrscheinlich versuchte er, die Vormundschafts- und Erbschaftsangelegenheit zu beenden, denn er war gerade 20 Jahre alt geworden. Auch Friederike Ziegener zog ihn hin, und diesmal wollte er ausgiebig auch seine Freunde und Verwandte besuchen. Wir wissen dies aus seinem Brief an Gottlieb Lemme, dem er nach seiner Rückkehr nach Frankfurt schrieb, und erfahren daraus, dass er wie im Jahr zuvor herzlich empfangen worden war und seinen Aufenthalt länger ausgedehnt hatte als geplant.89 Etwas verärgert teilte er Gottlieb mit, dass sich seine Arbeit häufe und er in seiner Abwesenheit viel versäumt habe. Er hatte sich mit den Lemmes versöhnt und wollte von Frankfurt aus einen Auftrag für die Schwester erledigen, schickte Friederike Ziegener Klaviernoten, seinem Neffen Gottlieb sein Gedicht «Bundeslied der Freundschaft», der Nichte Dorothea Lemme die Melodie dazu und seinen Geschwistern insgesamt einen weiteren, ausführlichen Brief, den er unter allen zirkulieren zu lassen bat. Seine Beziehung zu Friederike hatte sich intensiviert. «Empfiehl mich Rikchens Liebe und bleib mir gut», schloss er den Brief an Gottlieb.

DIE SCHWARZEN BRÜDER

Ende 1790 hatte Zschokke einen Roman angefangen, der als Trilogie mit dem Titel «Die schwarzen Brüder» zwischen 1791 und 1795 erschien.90 Eine Kostprobe daraus gab er bereits im «Schriftstellerteufel»: den spannenden Anfang, der mit einem Pistolenknall im Zimmer des Helden und dem Ausruf seines Freundes: «‹Gottlob!› und wild und glühend – – –»91 abbricht.

Er knüpfte damit an die Geheimbundromane an,92 die bereits vor Schillers «Geisterseher» (1787–1789)93 und Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre»94 in Deutschland ihr Publikum gefunden hatten. Die Leserschaft liebte das wohlige Gruseln, das die Erzählungen von geheimnisvollen Mächten hervorriefen, welche aus einem Versteck die ganze Welt ausspionierten und manipulierten und nach Belieben Menschen formten und beeinflussten. Es waren profane Allmachtsphantasien mit moralischem Einschlag, wenn die Ordensführer und ihre Emissäre als Rächer zugange waren, um das Böse zu bestrafen, die Welt neu zu ordnen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Umgekehrt liessen sich mit etwas Phantasie und Umbiegung der Kausalitäten politische Umstürze, ja sogar Revolutionen mit dem Wirken von Geheimgesellschaften erklären. Durch das Verbot und die Enthüllung der Pläne der Illuminaten zwischen 1784 und 1787 in Bayern und die herumschwirrenden Verdächtigungen und Verschwörungstheorien bezüglich der Jesuiten, Freimaurer und Rosenkreuzer wurde das Interesse mächtig angeheizt.95

 

Es war für den Romancier um 1787 schon beinahe Pflicht, einen Geheimbundroman verfasst zu haben, je irrwitziger die Konstruktion, desto besser. Der Unsinn, den Denunzianten wie Baron von Mändl und andere gegen die Illuminaten verbreitet hatten, war sowieso kaum noch zu überbieten.96 Das Endziel der Illuminaten sei gewesen, hatte er behauptete, die Welt zu beherrschen, alle einträglichen Posten mit Ordensmitgliedern zu besetzen und wer ihnen hinderlich war, mit Gift und Dolch aus dem Weg zu räumen. Auch Zschokke, sein Magdeburger Mitschüler Carl Friedrich August Grosse und der junge Ludwig Tieck benutzen diese Motive für ihre Romane «Der Genius» (Grosse), «Geschichte des Herrn William Lovell» (Tieck), «Die schwarzen Brüder» und «Die Männer der Finsterniß» (Zschokke). Nachdem im ersten Band der «Schwarzen Brüder» allerlei Machenschaften, Verschwörungen, der Sturz eines despotischen Fürsten und die Initiation des Helden Florentin in den Geheimbund der Schwarzen Brüder abgehandelt sind, werden Florentin und Holder im dritten Band mit einem Schlafmittel ins Jahr 2222 versetzt, wo es Luftschiffe, elektrisches Licht und Deckenlampen («Krystallsonnen» oder «Zimmersonnen») und eine rein philosophische Religion gibt, den «Salomonismus», der, ausgehend von Kant, in seinem Urteil alles Irrationale meidet.

Die Beobachtungen, Abenteuer und Diskussionen in dieser Welt füllen den dritten Band aus. Es ist eine Vorschau auf die Zukunft mit utopischen und dystopischen Elementen. Die Menschen haben alle sie beschränkenden Institutionen und Regeln hinter sich gelassen und fühlen sich frei, zu denken und zu glauben, was sie wollen. Doch diese Freiheit macht sie nicht glücklich; sie befinden sich in einer Sinn- und Orientierungskrise. Damit stellt Zschokke eine mögliche Folge der geistigen Emanzipation des Menschen dar. Bezeichnenderweise fehlt in diesem dritten Band ein Erziehungskonzept, das seit Thomas Morus eine zentrale Rolle in Utopien einnimmt. Die Welt im Jahr 2222 besteht aus einer mehr oder minder statischen Gesellschaft, die mit Neid auf die Vitalität der Menschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts blickt, wo vieles noch machbar schien und grosse Veränderungen bevorstanden.

Man kann die «Schwarzen Brüder» als phantastischen Roman lesen und kommt auch dabei auf seine Rechnung. Diese Sichtweise schlägt Zschokke selber vor. Er habe stets die wundervollen Märchen des Orients geliebt und statt eines orientalischen Märchens ein deutsches geschrieben, statt Zauberer und Elfen «den geheimen Bund einer ausgebreiteten Gesellschaft» gezeigt und «wo mir der Wunder noch nicht genug waren, schuf ich neue».97

Den Roman voreilig auf den Trivialaspekt zu beschränken, wird vorab dem utopischen dritten Teil nicht gerecht, der voller philosophischer Überlegungen steckt und der Frage nachgeht, wie es Menschen erginge, die eine agnostische Weltanschauung lebten.98 Florentin schaudert es: «Religion und Moral, bürgerliche Glückseligkeit, Ruhe der Seelen – alles wird von diesem Ungeheuer verschlungen. [...] Es ist eine Philosophie, die zur Verzweiflung führt.»99 – Zschokke musste es wissen, kämpfte er doch selber damit. Der Glaube von einst sei zwar nur Ammenmilch gewesen, aber eine Milch, auf die man schwer verzichten könne.100 Auch in die ersten beiden Bände streute Zschokke Überlegungen und Argumente ein: zu sozialen Problemen, politischen Machenschaften, längst fälligen Reformen; sie enthielten auch eine veritable Kritik der Woellnerschen Edikte, die er aber stets als subjektive Meinung von Personen in der Romanhandlung darstellte. Die bedenklichsten Aussagen schob er dem Geheimbund der Schwarzen Brüder in den Mund: Gründe, die es rechtfertigten, dass ein Volk seinen Herrscher stürze.

«... soll der zertretne Wurm sich nicht krümmen dürfen unter den eisernen Fersen der Grausamkeit? soll das freigebohrne Volk seine geraubte Freiheit nicht wiederfodern dürfen?

O, es müssen viele Szenen vorangehn, ehe die Nazionen sich auflehnen, ehe die Liebe zu ihren Beherrschern ausgetilgt wird! Nur die Verzweiflung wagt erst einen solchen Schritt, aber dieser ist dann auch desto fürchterlicher!

Nur erst, wenn jede andre Hoffnung dem bedrängten Volke entschwindet, wenn eine ganze Reihe von Tyrannen und Tyranneien die Geduld desselben ermüdete, wenn neue Neronen zum Ruin des Landes ausgebildet, die traurigste Aussicht in die Zukunft darstellen, nur dann erst ist das Volk berechtet, eigenmächtige Veränderungen in seiner Regierung vorzunehmen.»101

Was bei Zschokke als Warnung an die Regierungen gedacht war, die Unterdrückung des Volks nicht auf die Spitze zu treiben, es nicht in Verzweiflung zu stürzen, aus der heraus sich seine Natur gegen den Herrscher auflehnen müsste, wurde im Roman zum Programm der Schwarzen Brüder. Ihre Absicht, insgeheim dem Volk zu helfen, seine Unterdrücker loszuwerden, gipfelt im Ausruf: «Es lebe republikanische Freiheit.»102 Ohne selber Stellung zu beziehen, arbeitete er in seinen Geheimbundroman aktuelle politische Fragen und Auseinandersetzungen mit ein, die sich im Zusammenhang mit der Revolution in Frankreich und der Stimmung in der Ära Woellner in Frankreich ergaben.

Zschokke erklärte in der Vorrede zum zweiten Band, er sei missverstanden worden, wenn man in den «Schwarzen Brüdern» versteckte Anspielungen auf Personen oder gar einen Schlüsselroman suche. «Viele denken sich unter den schwarzen Brüdern nichts geringers, als die Herrn Freimäurer, andre wieder einen Orden aus Kagliostros Fabrik; und beide Theile habens doch nicht getroffen!»

Das Buch wurde Zschokkes erster Bestseller, mit drei Auflagen und verschiedenen Raubdrucken bis 1802.103 «Es wird mit Ungestüm gelesen und verschlungen», schrieb Zschokke an Behrendsen.104 Er hatte sich den Ruf eines viel versprechenden jungen Romanciers erworben, der sich dadurch auszeichnete, dass er jedes Jahr zwei bis drei erfolgreiche Bücher zu produzieren in der Lage war. Seine Verleger versahen das Titelblatt seiner nächsten Romane mit dem empfehlenden Zusatz «vom Verfasser der schwarzen Brüder».105 Er hatte seinen ersten (und für viele Jahre einzigen) Roman in voller Länge geschrieben, durchkomponiert und zum Abschluss gebracht, ohne dass viele Fragen offen blieben, und, vor allem wichtig: Sein Buch konnte die Leser bis zum Schluss bei Laune halten.

Dennoch war Zschokke damit nicht zufrieden, vielleicht gerade weil sein Erfolg so gross war. Zeitlebens hatte er ein ambivalentes Verhältnis zu seinen belletristischen Werken, vor allem wenn er spürte, dass sie nur der Unterhaltung wegen gelesen wurden. Er sah sich als Aufklärer und Beweger, nicht als Entertainer. Dieser mentale Vorbehalt war sicherlich ein Grund dafür, dass er sein grosses Talent als Erzähler nie richtig zu schätzen wusste, es nie so pflegte, dass er auch stilistisch zu den gewichtigeren Schriftstellern seiner Zeit hätte aufschliessen können. Nach seinem Abschied aus Deutschland wurde für Zschokke das Erzählen mehr und mehr ein Mittel zum Zweck, Tendenzliteratur, so dass sein Talent immer seltener aufblitzte und schliesslich verkümmerte. Er sah später keinen Sinn mehr darin, dem Eskapismus Vorschub zu leisten. Aber in dieser frühen Periode seines Dichtens lebte Zschokke seine Lust am Fabulieren, Fantasieren und Philosophieren noch ungehemmt aus.

DOKTOR DER PHILOSOPHIE, MAGISTER DER SCHÖNEN KÜNSTE

Es könnte den Anschein haben, dass Zschokkes Studium über dem Dichten nicht vorangekommen sei. Aber er erwog nie, nur noch zu schreiben. Dazu schien ihm die Lage des Schriftstellers zu prekär. Ein Dichter war von der Laune des Publikums und des Literaturmarkts abhängig und seinen Verlegern ausgeliefert. War ein Buch erfolgreich, so konnte man darauf wetten, dass kurz darauf ein Raubdruck erschien. Ein Urheberrecht gab es nicht, auch keine Literaturpreise, die einen Dichter über Wasser halten konnten. In der Öffentlichkeit begegnete man den Schriftstellern mit Misstrauen und Geringschätzung. Sie galten als wenig kreditwürdig. Wie nüchtern Zschokke die Lage des freiberuflichen Schriftstellers einschätzte, zeigt sein Roman «Der Schriftstellerteufel».