Heinrich Zschokke 1771-1848

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa


DIE VIADRINA UND IHRE PROFESSOREN

Am 22. April 1790 schrieb Zschokke sich an der Viadrina ein, zusammen mit Karl Weil und fünf weiteren Studenten aus Liegnitz in Schlesien und Stargard in Pommern. Rektor während des zu Ende gehenden Universitätsjahrs war Geschichtsprofessor Carl Renatus Hausen (1740–1805), der auch die Einschreibungen vornahm. In einer Festschrift zum 300-jährigen Bestehen der Viadrina schrieb Hausen über Zschokke, er sei unschlüssig gewesen, ob er Kameralistik oder Theologie studieren solle; Kameralistik habe seiner Neigung entsprochen, aber seine Familie habe sich für Theologie ausgesprochen. «Da er von dieser allein Unterstützung erwarten konnte, so gab ich ihm den Rath: er solle sich provisorisch als Theologe einschreiben lassen. Er folgte diesem Rath.»1 Hausen berief sich in der kurzen Biografie seines Lieblingsstudenten auf «authentische Nachrichten»,2 was bedeutet, dass er die Angaben direkt von Zschokke bezog, mit dem er korrespondierte, als diese Schrift entstand.3

In der «Selbstschau» bot Zschokke eine zweite Version an. Alle Fächer hätten ihn gleichermassen angesprochen, und so habe er bei seiner Immatrikulation zu Hausen gesagt: «Erlauben Sie, daß ich einsweilen unter den neun Musen freie Wahl behalte».4 Nur der Ekel vor dem Sezieren von Leichnamen habe ihn daran gehindert, auch noch die Medizin ins Auge zu fassen. Bezeichnenderweise gab er im Juni 1789 in Landsberg noch an, dass er Jurisprudenz ins Auge gefasst habe, und im März 1790 bestätigte er: «Ich werde entweder die Rechtswissenschaft oder schöne Wissenschaften studieren.»5

Zschokke beschloss, bei Hausen und nicht bei Steinbart zu wohnen, vielleicht weil Steinbarts Zimmer schon belegt waren oder weil er weniger bezahlen musste. Die Hoffnung, Steinbart würde ihn gratis beherbergen, hatte sich als trügerisch herausgestellt. Hausen besass ein zweistöckiges Haus an der Forststrasse 1, im Oberstock mit einer Anzahl kleiner nebeneinander liegender Zimmer, die von der Hofseite über eine Holzgalerie erreichbar waren. Daneben und darunter befanden sich grössere Räume, die auch für Vorlesungen genutzt werden konnten. Zschokke verewigte sich, vermutlich als er im März 1792 Abschied nahm,6 indem er Nägel in die Brüstung der Galerie trieb, welche die Initialen J. H. Z. ergaben. Im Jahr 1886 waren die Nägel noch sichtbar.7 Solche Markierungen mit der Bedeutung «Auch ich war hier!» waren ein weit über das Studentenmilieu hinaus gängiger Brauch, wenn auch gewöhnlich nur mit Tinte geschrieben oder mit einem Messer ins Holz geritzt.

Hausen las jedes Semester über deutsche Reichsgeschichte, alle zwei Semester über europäische Geschichte der Neuzeit und, falls genügend Anmeldungen eintrafen, über allgemeine Weltgeschichte, basierend auf seinem Lehrbuch.8 Ausserdem lehrte er europäische Staatskunde, für die Juristen deutsches, preussisch-brandenburgisches und europäisches Staatsrecht, im Sommer theoretische und im Winter praktische Kameralistik und las über Staatspolizei.9 Wahrscheinlich belegte Zschokke die kameralistischen Vorlesungen Hausens nicht schon in den ersten Semestern, da sie ein starkes Interesse an Staatswissenschaften und Verwaltungsfragen voraussetzten. Als junger Student erlebte und interpretierte er die Welt noch aus der Ich-Perspektive, aus einem individualistischen Erfahrungshorizont, und war zu sehr mit persönlichen, religiösen und ideellen Fragen beschäftigt, um sich auf die Staatsverwaltung im Detail einzulassen. Auch die historischen Vorlesungen Hausens, in denen der Professor gerne und ausgiebig aus Urkunden zitierte, waren wenig geeignet, daran etwas zu ändern.

Mit einem 22-köpfigen Lehrerkollegium und etwa 120 Studenten war die Universität überschaubar, das Verhältnis zu den Professoren war unkompliziert und leutselig.10 Dies wog einige Nachteile und Mängel auf, welche die Viadrina hinsichtlich Forschung und Lehre hatte. Es scheint, dass die Professoren bis auf Ausnahmen gut miteinander auskamen. Bei den kleinen Fachschaften galt es, sich gegenseitig auszuhelfen und vor allem nach aussen mit einer Stimme aufzutreten. An der theologischen Abteilung lutherischer Ausrichtung ging es an der Viadrina recht beschaulich zu und her.

Von 1790 bis 1792 wohnte Zschokke mit anderen Studenten bei Professor Hausen an der Forststrasse 1, hier von der Hofseite fotografiert. Über eine Aussentreppe und die hölzerne Galerie gelangte man zu den Stuben im ersten Stock.

Die meisten Theologiestudenten zog es an die Universität Halle, es sei denn, sie waren reformiert. Der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund, der zur reformierten Konfession übergetreten war, hatte 1617 verordnet, die theologische Fakultät der Viadrina solle ausschliesslich dieser Glaubensrichtung dienen. Alle ordentlichen Professuren waren fortan für die Ausbildung reformierter Theologen reserviert.11 Lutheraner wie Zschokke mussten sich an der Viadrina mit ausserordentlichen Professoren begnügen, von denen eine einzige besoldet wurde. Hausen stellte in seiner 1800 erstmals erschienenen «Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder» aber klar, dass die theologischen Diplome der Viadrina jenen der Universitäten Halle und Königsberg gleich seien, da sie die Absolventen befähigten, in Preussen «alle geistlichen Ämter und die Predigerstellen bei den Regimentern auszuüben».12 Diese Qualifikation sagte freilich wenig über die Qualität der Ausbildung aus. Gotthilf Samuel Steinbart hatte seit 1774 eine unbezahlte theologische Professur, war aber zugleich ordentlicher Professor für Philosophie mit einem Jahresgehalt von 400 Talern.

Unter Friedrich dem Grossen konnte sich die Forschung und Lehre relativ frei entfalten, und die Theologen durften ihre Ansichten ungeniert äussern, solange sie nicht der Staatsräson zuwiderliefen. Sein Neffe Friedrich Wilhelm II. (König von 1786 bis 1797) setzte dieser monarchischen Grosszügigkeit ein Ende, indem er seinen Günstling und Berater Johann Christoph Woellner (1732–1800) zum einflussreichen Minister des Geistlichen Departements erhob, unter dessen Leitung 1788 ein Religionsedikt und ein Zensuredikt erlassen wurde, das die religiöse und theologische Aufklärung vor allem an Universitäten und Schulen bekämpfen sollte.13

Auf ausdrücklichen Wunsch des Königs wurde im gleichen Jahr an der Viadrina ein lutherischer Theologe zum bezahlten ausserordentlichen Professor ernannt, einer, der Gewähr bot, dass er «die christliche Religion rein und lauter und nicht nach dem jetzigen verwerflichen Modeton» unterrichte:14 der Pastor an der Frankfurter Marienkirche, Friedrich Nathanael From (1736–1797). Mit dem «verwerflichen Modeton» war die Neologie gemeint, eine auf Vernunftprinzipien basierende Theologie, ein Kind der Aufklärung.15 Die Ernennung war ein Schlag ins Gesicht der vom liberalen Geist geprägten Viadrina, vor allem auch für Steinbart, «den Helden der Vernunft und der Wahrheit, den lichtvollen Denker».16 Dieser trug die Hauptlast der Theologenausbildung Augsburger Richtung, assistiert vom Prediger an der Frankfurter Unterkirche J. G. Hermann, der ebenfalls 1788 zum ausserordentlichen Professor ernannt wurde, aber sein neues Amt gratis versah. Wohl wegen seiner obrigkeitlich verfügten Ernennung, seiner konservativen Einstellung und vielleicht auch wegen seines Vortragsstils, hatte From einen schweren Stand im Kollegium und unter den Studenten. Die Immatrikulationen an der theologischen Fakultät sanken 1790 um ein Drittel gegenüber 1789.17

Dies war die unerfreuliche Situation, als Zschokke im Sommersemester 1790 sein Theologiestudium aufnahm. Welche Vorlesungen er an dieser Fakultät besuchte, ist nicht bekannt, am ehesten jene, die Steinbart in einem viersemestrigen Zyklus anbot.18 Steinbart trug seine Vorlesungen teils nach einem Lehrbuch vor, teils diktierte er sie den Studierenden. Dazu gab er Praktika, im Sommersemester 1790 homiletische Übungen, jeden Morgen von 11 bis 12 Uhr eine historisch-kritische Einführung ins Alte Testament für Lutheraner und um 3 Uhr eine Geschichte der Symbole und symbolischen Bücher der christlichen Kirche (nur montags und dienstags). Ferner hielt er zwei philosophische Vorlesungen: Ästhetik nach seinem Lehrbuch «Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack»19 (um 8 Uhr morgens) und Logik nach seinem Lehrbuch «Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken»20 (von 10 bis 11 Uhr).21 Diese beiden Vorlesungen waren propädeutisch gedacht für Hörer aller Fakultäten, also vorab für Anfänger, für die Steinbart regelmässig auch eine allgemeine Einleitung in das akademische Studium gab.

Logik war die am meisten gehörte Vorlesung an der Viadrina, da jeder Studierende, der sich examinieren lassen wollte, ein Testat brauchte, an ihr teilgenommen zu haben.22 Als Lehrender war Steinbart mindestens ebenso sehr Pädagoge wie Theologe und Philosoph, und seine Vorlesungen bezweckten «die Richtung aufs Praktische», wie er Zschokke später in einem Brief in die Schweiz mitteilte.23 Infolgedessen sollte auch seine Logik die Prinzipien der logischen Schlüsse nicht abstrakt referieren, sondern, wie der Titel seines Lehrbuches schon sagt, den Studienanfängern eine gemeinnützige Anleitung zum Selbstdenken vermitteln. Man habe ihm den Vorwurf gemacht, schrieb er in der Vorrede zur 2. Auflage, «daß es für ein akademisches Lesebuch allzupopulär abgefaßt sey, weil die zur Erläuterung der Regeln darin angeführten Beyspiele nicht aus den höhern Wissenschaften, sondern aus dem gemeinen Leben fast sämmtlich entlehnt worden sind».24

 

Steinbart, «der bedeutendste Sozialethiker der mitteleuropäischen Spätaufklärung»,25 ein Schüler des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der bis zu seinem Tod an der Viadrina gelehrt hatte, war kein Freund des kunstmässigen Spaltens und Zergliederns der Begriffe «bis in solche kleine Theile [...], die nicht mehr mit dem blossen Verstande, sondern nur vermittelst dazu ganz eigentlich zugespitzter technischer Redformeln annoch gefaßt werden können».26 Er zweifelte an der Alltagstauglichkeit von Theorien und hielt «die gesundere und practische Philosophie des Gemeinsinns» der «Unfruchtbarkeit und Unsicherheit der transcendenten Speculationen» entgegen. Sein kaum zu überschätzender Einfluss auf seine Studenten zeigt sich darin, dass Zschokke diese Haltung Steinbarts übernahm.27

Im Zschokke-Nachlass befinden sich drei Nachschriften von Vorlesungen Steinbarts, die über seinen Studienfreund Johann Gabriel Schäffer (1768–1842) Jahrzehnte später an ihn zurückgelangten.28 Die beiden philosophischen Vorlesungen zum praktischen Vernunftgebrauch und zur Frage des Geschmacks29 hatte sich Zschokke bestimmt auch nicht entgehen lassen, aber da ein Lehrbuch vorlag, brauchte er nicht mitzuschreiben. Dagegen haben wir aus dem ersten Semester seine sechzigseitige Niederschrift «Über die Symbola und symbolischen Schriften der christlichen Kirchpartheien und der lutherischen insonderheit».30

Dies war eine Pflichtvorlesung für die Theologiestudenten, aber für Steinbart ein heikles Thema, um das heftige Debatten geführt wurden: Welche Aussagen und Schriften sollten als Dogmen einer Konfession gelten? Musste man sie predigen und glauben, selbst wenn sie dem gesunden Menschenverstand, den Naturgesetzen, der Lebenserfahrung und der philosophischen Ethik widersprachen? Steinbart, der vom englischen Empiristen John Locke und von der Idee des common sense, des gesunden Menschenverstands geprägt war, machte kein Hehl daraus, dass ihm dies schwer fiel. Die allgemeine christliche Kirche bedürfe keiner Bekenntnisse ausser dem Satz: «Jesus ist der Christus, auf welchen die Apostel getauft haben», und das Neue Testament sei ihre einzige Grundlage. Nur Kirchenparteien bedürften zu ihrer Abgrenzung voneinander zusätzlicher Symbole und symbolischer Schriften.31

Steinbart wich einer Konfrontation mit der Orthodoxie aus, indem er erklärte, er trage seine Ansichten historisch vor, ohne über die Richtigkeit der Grundsätze der einzelnen Kirchenparteien zu urteilen.32 Tatsächlich stellte er die Glaubenssätze der verschiedenen christlichen Kirchen einfach nebeneinander, von der evangelischen über die griechische bis zu den anabaptistischen. Es sei Sache der Pastoraltheologie, erklärte er am Schluss seiner Vorlesung, dazu Stellung zu nehmen und ausführlich von «der Autorität und dem Gebrauch der symbol[ischen] Schriften in unseren Tagen, besonders in wiefern sie das Gewissen der Protestantischen Lehrer einschränken», zu sprechen.33

Steinbart legte biblische Texte aus, ohne Rücksicht auf kirchliche Autoritäten oder Traditionen zu nehmen; er nannte Theologen, die wie er vorgingen, «exegetische Aufklärer», welche «durchaus auf den Geist des Christentums oder praktischer Gottseligkeit dringen und die hinzuphilosophierten metaphysischen Lehrbestimmungen des Systems von der Lehre Christi unterscheiden, übrigens jedem es überlassen, in solchen spekulativen Dingen zu denken, wie er es zur Ehre Gottes und Christi nach seiner Philosophie am gemäßesten findet».34 In diesem Sinn hielt er auch seine Vorlesungen. Was er als Irrtum betrachtete, wollte er nicht als Wahrheit ausgeben, auch wenn es von einer Kirche mit dem Siegel des göttlichen Ursprungs versehen wurde. Damit stellte er sich quer zur orthodoxen Strömung in der Theologie, die nach dem Tod von Friedrich II., der jeden nach seiner Façon selig werden lassen wollte, die Politik beherrschte.

Im Wintersemester 1790/91 und im darauf folgenden Sommersemester belegte Zschokke täglich um zehn Uhr Steinbarts zweiteilige Vorlesung «Einführung in die christliche Theologie für Lutheraner». Auch hier liegt, in zwei Quartbänden, Zschokkes Mitschrift vor. Es war Steinbarts theologische Grund- und Hauptvorlesung, die er alle zwei Jahre wiederholte. Darin vermittelte er einen Überblick über die Geschichte der christlich-jüdischen Theologie. Die griechische Philosophie behandelte er ausführlicher als die hebräische Bibel, wie das Alte Testament damals oft genannt wurde. Theologie in einem weiteren Sinn war für Steinbart die Beschäftigung mit den Grundfragen der Existenz. Antworten darauf gab das Leben Jesu’. Nach einem Streifzug zur Entstehung des Christentums und quer durch die Kirchengeschichte bis zur Gegenwart beendete Steinbart den ersten, historischen Teil mit einer Charakteristik der für den aufgeklärten Theologen wichtigsten Denker der unmittelbaren Vergangenheit, darunter auch die französischen Freigeister Voltaire, Diderot, Helvetius und Rousseau.

Steinbart wusste, was seine Studenten von seinen Vorlesungen erwarteten. Obwohl er angeblich keine eigene Lehrmeinung vertrat und sich auch in der Philosophie nicht in Streitigkeiten der verschiedenen Schulen einmischen wollte, besass er doch eine deutliche Vorstellung von der Wahrheit: seine Glückseligkeitslehre. Also baute er sie auch hier ein. Bereits im ersten Abschnitt, vom Zweck der Religionen überhaupt, erklärte er die Religion zur höheren Glückseligkeitslehre. Zschokke folgte ihm darin und machte sich Steinbarts Ansicht für seine Weltanschauung zu eigen, hatte aber einen Vorbehalt, den er als Anmerkung in seine Vorlesungsnotizen eintrug: Falls die Existenz Gottes und ein Leben nach dem Tod die notwendigen Voraussetzungen waren, um die Menschen der höchsten Glückseligkeit zu versichern, wie können wir dann zuversichtlich sein, dieses erstrebte Ziel wirklich zu erreichen, solange wir von Gott und vom Jenseits keine positive Gewissheit haben?35

Im zweiten, dogmatischen Teil behandelte Steinbart die Lehre von der heiligen Schrift als Erkenntnisquelle der christlichen Theologie, ging aber nicht auf die verschiedenen Bücher im einzelnen ein, sondern referierte auch hier über grundsätzliche Fragen und den Umgang mit der Bibel. Da er sich darin auch mit der Lehre von Gott, den Beweisen seiner Existenz und seinen Eigenschaften befasste, sprach man von Dogmatik, und so ist dieser zweiteilige Vorlesungszyklus auf dem Buchrücken von Zschokkes Notizen mit «Steinbarts Dogmatik I» und «Steinbarts Dogmatik II» beschriftet.

Dass diese Vorlesung über die Fakultätsgrenzen hinaus Beachtung fand, belegt ein Brief von Zschokkes Studienfreund Theodor Heinrich Burchardt, dem Landsberger Justizrat, der sich noch 1845 erinnerte, Steinbarts Dogmatik mitverfolgt zu haben, zwar nicht als Hörer – dazu fehlte ihm die Zeit –, sondern nach der Mitschrift eines Kommilitonen.36 Viel von seiner religiösen Denkweise, die damals von Steinbart mitgeprägt wurde, schrieb er, habe er auch in Zschokkes «Selbstschau» wieder gefunden. Man kann behaupten, dass Steinbart einer ganzen Generation von Studenten an der Viadrina seinen Stempel aufdrückte.

Das ehemalige Kollegienhaus der Viadrina, wo sich auch die Universitätsbibliothek befand. Hier ging Zschokke ein und aus. Heute ist hier das Frankfurter Stadtarchiv.

Dass der Mensch das, was er tun solle, auch wolle, da es seinem innersten Wesen entspreche, war Steinbarts Botschaft an die Studierenden. Alle Tugend müsse williger innerer Trieb sein. Im Satz «Du sollst gern wollen!» liege die Idee unseres Strebens, schrieb er Zschokke in seinem einzigen noch vorhandenen Brief.37 Steinbart, der sich eher am Leben orientierte als an absoluten Begriffen, bemerkte zu Kants moralischem Gesetz ironisch: «Der Magen hat auch seinen kategorischen Imperativ: Befriedige mich!»38

Was die Studenten an Steinbart überzeugte, war nicht nur sein Vortrag, sondern die Übereinstimmung von Lehre und Person. Er wird als «liebenswürdige, gesellige Natur» geschildert, schon vom Äusseren als einnehmender Mann. «Auf seiner Stirne sitzt der Verstand und auf seinen Lippen sanfte Beredsamkeit», meinte eine Durchreisende,39 und in Justinus Pfefferkorns Beurteilung der Professoren wird er als «ein wahrer Redner, der seine Zuhörer ganz zu lenken, zu belehren, zu rühren, zu erheitern weiß, ohne daß man Kunst dabey gewahr zu werden glaubt», gerühmt.40 Zschokke verehrte ihn und klebte Steinbarts Schattenriss auf das Titelblatt vom ersten Band der «Dogmatik», selbst wenn er philosophisch eher zu Kant neigte, mit dem Steinbart nicht viel anfangen konnte.41

Die Ausbildung der lutherischen Theologen an anderen Universitäten mochte raffinierter, umfassender, forschungsintensiver sein;42 der Umstand, dass an der Viadrina die theologische mit der philosophischen Fakultät verknüpft war, war aber auch ein Vorteil: So konnte man Ansichten vertreten, die von der Doktrin eines Luther oder Melanchthon und der darauf aufbauenden Orthodoxie oder auch von Woellners Edikten meilenweit entfernt lagen. Steinbart lehrte, in der Nachfolge seines Lehrers und Vorgängers Johann Gottlieb Toellner (1724–1774) auf dem doppelten Lehrstuhl für Philosophie und Theologie an der Viadrina, auch die «natürliche Religion». In der Natur, so war Steinbart überzeugt, spreche Gott ebenso zu den Menschen wie in der Heiligen Schrift. Damit vertrat er die Idee der doppelten Offenbarung, die auch Menschen den Zugang zu Gott ermögliche, die «den herrschenden Vorstellungen und Regeln, welche die Christen in der Bibel zu finden glauben», nicht folgen könnten oder wollten. Die natürliche Theologie beantwortete auch die durch Römerbrief 1, 18 ausgelöste Streitfrage, ob Menschen, die mit der christlichen Lehre nicht in Berührung kämen, dennoch Gott erkennen und seiner Gnade teilhaftig werden könnten.43 Im Wintersemester 1790/91 las Steinbart explizit über theologia naturalis; bezeichnenderweise wurde diese Vorlesung in der philosophischen Fakultät angekündigt, war also ebenfalls für alle Studenten zugänglich.

Von dieser Vorlesung ist uns kein Exzerpt Zschokkes überliefert, aber die dahinter steckende Idee, dass Gott in der Natur, ja in der ganzen Weltordnung sichtbar sei, wurde ein Eckpfeiler seiner eigenen religiösen Weltanschauung. 1819 erschien erstmals Zschokkes Buch «Gott in der Natur. Ein Andachtsbuch in Betrachtungen der Werke des Schöpfers», eine Ausgliederung aus den achtbändigen «Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung». Darin stellte er die Betrachtung der Natur als spirituelles Erlebnis dar und verband Barthold Heinrich Brockes’ gefühlvolle religiöse Gedichte, die ihm seit Kindheit vertraut waren, mit Steinbarts Religionsphilosophie und eigenem Naturerleben. Im Sommer 1794 kündigte er als Privatdozent an der Viadrina selber eine Vorlesung zur natürlichen Theologie an.

Es gibt kein Indiz dafür, dass Zschokke neben den Vorlesungen und Übungen Steinbarts noch andere theologische Veranstaltungen besuchte. Hätte Zschokke sein Theologiestudium gründlich betrieben und sich auf die Ausbildung zum Pfarrer konzentriert, hätte er wohl alle zu diesem Zweck angebotenen Veranstaltungen und Hilfestellungen benutzt. Aber das wollte er gerade nicht. Bei Steinbart fand er bereits den für ihn einzig gangbaren Weg, eine auf philosophischen Grundlagen beruhende Theologie, und da Steinbart das ganze Curriculum der theologischen Lehre und Ausbildung abdeckte, fühlte er sich ausreichend versorgt. Oder anders gesagt: Die Einsichten, die er bei Steinbart gewann, weckten keine Neugier nach theologischen Sophistereien anderer Professoren. Es ist immerhin denkbar, dass er sich an Professor Hermanns Anleitungen und Übungen zum praktischen Kanzelvortrag beteiligte, vielleicht nicht so sehr aus theologischen Gründen, sondern weil ihn die Frage der wirkungsvollen Rede interessierte.

Im kurzen Lebensabriss Zschokkes schrieb Carl Renatus Hausen: «In der Theologie und Philosophie war der Ober-Schul-Rath und Professor Steinbart sein Lehrer, in der leztern auch der Doctor und Professor Berends. Beide verehrt derselbe[,] wie er mir in mehrern Briefen schreibt. Er hatte vielen Trieb und Talent zur Geschichtskunde und wählte mich in den historischen Studien zum Lehrer.»44

 

Carl August Wilhelm Berends (1759–1826) war Arzt des Kreises Lebus und der Stadt Frankfurt (Oder) und seit 1788 Professor der Medizin. Er hielt im Wintersemester jeweils eine philosophische Vorlesung, gewöhnlich zur Logik, wobei er auch die empirische Psychologie miteinbezog und seinen Ausführungen die «Philosophischen Aphorismen» Ernst Platners (1744–1818) zugrunde legte, seines Berufskollegen in Leipzig. Im Wintersemester 1790/91 hielt er eine Vorlesung über Metaphysik, ebenfalls nach Platner, die er im Jahr darauf modifiziert als «Transzendentelle Philosophie (ehemals Metaphysik)» ankündigte. In der Anzeige dazu erklärte er, er werde die «Kritik der reinen Vernunft voranschicken, um die Zuhörer zur Beurteilung geschickt zu machen, ob diese wohl über jene transcendentellen Gegenstände etwas ausmitteln oder lehren könne? Er wird zugleich die alten Systeme der sogenannten Metaphysik vor der Kantischen Reformation der Philosophie erklären, und deshalb Platner’s philosophische Aphorismen zum Grunde legen».45 Das ist insofern von Bedeutung, da Minister Woellner darüber wachte, dass an seinen Universitäten kein Theologe über Kant las, dem der König 1794 per Kabinettsbeschluss ein Publikationsverbot erteilte.46

Was Zschokke an Gedankenschärfe bei Steinbart vermisste, fand er bei Berends in hohem Grad. Justinus Pfefferkorn war über ihn des Lobes voll: «Er ist Philosoph, und was bey einem Arzt vorzüglich zu schäzzen ist, Skeptiker; besizt ausserordentliche Belesenheit, gründliche Sprachkenntnisse, feinen Scharfsinn und glänzenden Wiz.»47 In seiner Dissertation, eine erkenntnistheoretische Studie, die sich mit der Hypothesenbildung befasst, bezeichnete Zschokke Berends als «vir intelligentissimus, et quem praeceptorem summa pietate colo» (einen sehr intelligenten Mann, den ich als Lehrer mit höchster Ehrfurcht verehre). Dieses Lob war keine blosse Schmeichelei, sondern entsprach persönlicher Zuneigung und Bewunderung.

An der Viadrina brach Zschokkes alte Wunde wieder auf, sein Zweifel an Gott, an der Bestimmung des Menschen und an der Weiterexistenz nach dem Tod. Luthers Wort, ihm vom Vater mit auf den Weg gegeben, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», konnte diese Ungewissheit nicht mehr überdecken, denn studieren hiess forschen, Fragen stellen, Widersprüche aufdecken. Es bedeutete, konträre Hypothesen zuzulassen und liebgewordene Ansichten allenfalls zu verwerfen. Die Frage nach der Existenz Gottes konnte in dem rationalistischen Geist, der an der Viadrina herrschte, nicht ausbleiben. Steinbarts System der höchsten Glückseligkeit setzte voraus, dass ein «höchster Anordner» alles plane, überwache und zum Besten richte; falls dies nicht stimmte, verlor das Lehrgebäude seinen Halt.

Zschokke wollte Steinbart, den er ausserordentlich schätzte und um dessen Anerkennung er warb,48 in dieser intimen Angelegenheit offenbar nicht um Rat fragen. Also wandte er sich an Berends, den Skeptiker, was er sicher nicht getan hätte, wenn er nicht sein Wohlwollen empfunden und ihm Vertrauen entgegengebracht hätte. Berends riet ihm: «Hören Sie keine Philosophika. Das Philosophiren läßt sich nicht lernen; so wenig, als das Dichten. Thun Sie, wie ich gethan habe; studiren Sie Geschichte der Philosophie, und zwar das Wesentliche der Philosopheme, in den Werken der Denker selbst. Ein jeder muß sein Glauben und Wissen in sich selber aufbauen, wenn er nicht in fremdem Hause wohnen mag.»49

Den Rat, auf das Philosophieren zu verzichten, konnte Zschokke nicht umsetzen; dass er seinen Weg zur Wahrheit selber suchen musste, ahnte er schon. Wahrscheinlich legte er Berends diese Aussage nachträglich in den Mund, die als Frucht eigener Erkenntnis langsam in ihm reifte. Hinter seinen Wissensstand zurückgehen konnte er nicht. Der Rat zur Umkehr kam zu spät.

Berends war ein sehr beliebter Dozent, und Zschokke hatte die Ehre, ihm zu einem nicht bekannten Anlass 1795 im Namen der Studierenden an der Viadrina ein Festgedicht zu überreichen. Obschon er sich während seines Studiums hauptsächlich auf ihn und Steinbart stützte, bemühte sich Zschokke doch stets, seine eigene Wahrheit zu finden und sich von Doktrinen fernzuhalten. Dies gibt seinen wissenschaftlichen Bemühungen oft etwas Improvisiertes und Autodidaktisches, auch wenn er sich an einer Lehrstätte bewegte. In einem frühen philosophischen Werk, den «Philosophischen Nächten» (1794), die er als «Plaudereien» bezeichnete, schrieb er:

«Ich erkenne keine Schule, keinen Meister. Betrachte mich, lieber Leser, als einen Laien, oder wenn du lieber willst, als einen Partheigänger. Zwar hört’ ich bei einem sehr berühmten Manne über Baumgarten dogmatisiren, bei einem weniger berühmten über Kant und Plattner skeptisiren, aber weder der Glaube des einen, noch der feine Zweifel des andern vollendete mich zu dem, was ich bin, wenn gleich beide ihren Theil dazu beigetragen haben können.»50

Damit waren Steinbart und Berends gemeint.51 Es scheint, dass Zschokke sein Pensum nicht mit Veranstaltungen überlud. Da er mit Zeit und Geld sparsam umgehen musste, auf einen raschen Studienabschluss hinarbeitete und daneben anderen Beschäftigungen nachging, überlegte er es sich genau, wen er hörte und woran er sich orientierte. Die zweieinhalb Jahre nach seiner Promotion benutzte er dazu, sich umfassenderes Wissen anzueignen. Das eigentliche Studium und die Zeit als Privatdozent werden in der Biografie Zschokkes zuweilen miteinander vermischt, da er sich selber dazu nur knapp und unklar äusserte.52

STUDENTENLEBEN AN DER ODER

Er habe, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», zunächst den Umgang mit Studenten bis auf jene gemieden, die er von Landsberg her kannte; den anderen Studenten sei er mit Distanz begegnet. Aus der Warte des 70-Jährigen formulierte er: «Der vollen Freiheit längst gewohnt, waren mir ihre sogenannten akademischen Freiheiten und Renomistereien lächerlich; ihre Landsmannschaften, Konstantisten-, Unitisten- und andre Orden kindische Spielerei.»53

Diese Zurückhaltung galt also dem damals üblichen Studententreiben und den Verbindungen, die man grob in Landsmannschaften und Orden einteilen konnte. Die traditionelle Korporation der Studenten erfolgte nach ihrer Herkunft oder Nation. An der Viadrina bestanden seit Beginn eine märkische, fränkische, schlesische und preussische Landsmannschaft; sie wurden trotz ihrer Harmlosigkeit 1732 verboten.54 Die Gründe dafür waren zunächst nicht politisch; das Verbot war als Massnahme gegen «alles ungesittete Betragen der studentischen Jugend» gedacht. So begründete Friedrich der Grosse 1782 seinen Erlass gegen «die unter den Studenten zeithero übliche Verbindungen von Landsmannschaften, Orden und dergleichen».55

Eine Alternative zu diesen national oder sprachlich gegliederten Landsmannschaften waren Studentenorden, wie die seit den 1770er-Jahren in Jena, Halle, Göttingen und Erlangen aufschiessenden Bünde der Unitisten, Constantisten, Confidentisten, Harmonisten oder Independisten, die zum Teil auch an der Viadrina Mitglieder hatten. Das Renommieren, der Kommers oder auch das öffentliche Absingen von Liedern und das Zurschautragen von Uniformen stand nicht im Zentrum dieser Gruppen. Viel eher waren es klandestine Zirkel, in denen sich Studenten über gesellschaftspolitische oder esoterische Themen unterhielten, und, in Nachahmung der Freimaurerlogen, sich zu Tugend-Idealen und Verschwiegenheit verpflichteten.

Vielleicht wurde in solchen studentischen Gemeinschaften über die neusten Ereignisse in Frankreich gesprochen: der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, die Abschaffung der feudalen Standesrechte oder anderer Privilegien durch die Nationalversammlung, die Absetzung und Verhaftung des Königs am 10. August 1792. Aktuelle Zeitungsberichte waren an der Viadrina offiziell kein Thema, aber es liess sich nicht vermeiden, dass darüber privat debattiert wurde und man sich für die Französische Revolution und ihre Helden begeisterte. Es gibt allerdings keine Anzeichen dafür, dass Zschokke sich im ersten Jahr in Frankfurt (Oder) mit der Französischen Revolution und ihren Folgen befasste, geschweige denn in Diskussionen darüber eingelassen hätte. Er verhielt sich unpolitisch und versuchte, Stellungnahmen auszuweichen. Vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass er sich von anderen Studenten fernhielt.