Die Corona-Falle

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1.1.5 Auf der Suche nach der neuen Normalität

Mitte Juli, als mit Beginn der Reise- und Urlaubssaison bereits ein Großteil der Vorschriften und Einschränkungen im öffentlichen Leben wieder gelockert oder aufgehoben worden waren, musste man feststellen, dass sich die Zahlen der Neuinfektionen nicht nur insgesamt, sondern in den einzelnen Bundesländern und auch in den einzelnen Regionen im Lande sehr unterschiedlich entwickelt hatten. Infektions-Hotspots und -Cluster konnten klar identifiziert und die betroffenen Personen nachverfolgt werden. Cluster nennt man Zentren im sozialen Umfeld, von denen eine höhere Zahl von Infektionen ausgeht. Das können beispielsweise öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser, Polizeistationen oder Gottesdienste in Kirchen sein oder private Partyveranstaltungen. Das zeigt sich automatisch dann, wenn bei einer neu positiv getesteten Person nach den Menschen gefahndet wird, mit denen sie zuletzt Kontakt hatten. Wenn sich dann zeigt, dass diese Menschen, die zuletzt Kontakt hatten, etwa im selben Betrieb arbeiten, dieselben Lokale regelmäßig frequentieren oder familiären oder verwandtschaftlichen Umgang pflegen – bei Familienfeiern, Begräbnissen und Hochzeiten – zusammenkommen, dann hat man ein „Cluster“ identifiziert.

Im Zuge der Nachforschungen stellte sich auch heraus, dass diese Nachverfolgung der Kontaktpersonen („contact tracing“) von Covid-positiv getesteten Personen im regionalen Kleinbereich einfacher zu organisieren waren als im bundesweiten Modus. Die Folge waren dann zunächst Schutzverordnungen im konkreten regionalen oder lokalen Bereich. Beispielsweise wurde in einigen Kärntner Urlaubsorten mit intensiver Nachtlokal- und Ausgeh-Szene die Maskenpflicht in den Abend- und Nachtstunden von den Kärntner Behörden verhängt, oder auf den Wochenmärkten, wo die Menschen zumeist sehr eng aneinander vorbeigehen müssen und die Pflicht-Abstände nicht einhalten können. In Oberösterreich wurden die Vorschriften zum Tragen von Mund- und Nasenschutz-Masken sogar landesweit wieder eingeführt. Als es in St. Wolfgang am See zu einem Cluster kam, von dem mehrere Hotels betroffen waren, konnte man es bei einer Sperre von einigen wenigen Betrieben belassen. In Niederösterreich wurden nach dem Auftreten von Infektions-Clustern in einzelnen Betrieben – vor allem in Schlachtereien – die betroffenen Unternehmen zumindest vorübergehend geschlossen. Der wirtschaftliche Vorteil lag auf der Hand: Bei regionalen Problemen konnten Betriebsschließungen auf regionale Einzelfälle beschränkt bleiben und großflächige Wirtschaftsstörungen im gesamten Bundesgebiet mit entsprechenden Folgen somit vermieden werden.

Ob damit regional differenzierte Maßnahmen auch in der Folge – und bis hinein in den Herbst – eine gangbare Lösung sein könnten, wurde von den Experten bezweifelt, die schon zu Sommerbeginn die Wieder-Einführung der Maskenpflicht im gesamten Bundesgebiet gefordert haben. Die Hoffnungen auf die Rückkehr zur „alten Vor-Corona-Normalität“ waren längst auf ein Minimum geschrumpft. Der Übergang zu einer „neuen Normalität“ mit wechselnder Strenge bei den verfügten Schutzmaßnahmen konnte bereits erahnt werden.

Und die kam dann auch pünktlich Mitte Juli. Die Zahlen für die täglich aktuellen Neu-Infektionen waren in den dreistelligen Bereich geklettert, lagen zuweilen über der 100er-Grenze. Es gab einige besorgniserregende Cluster in einigen Bundesländern, eine zunehmende Zahl von Neu-Infektionen, die auf Heimkehrer-Fälle aus den Ländern des Westbalkan, also den Ländern Südost-Europas zurückzuführen waren, und – das musste besonders ernst genommen werden – eine alarmierende Sorglosigkeit in der Bevölkerung, was die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen in der Pandemie-Vorsorge betraf. Es wurden die Bestimmungen über die Nasen-Mund-Schutzmasken-Pflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht konsequent eingehalten, ebenso wie auf den öffentlichen Plätzen und bei Versammlungen, aber auch das Abstandhalten nach der vielzitierten Elefantenbaby-Formel fand zu wenig Widerhall. Was aber insbesondere den Innenminister erzürnte, das war der Umstand, dass die von den Behörden an die Corona-Infizierten ausgesprochenen Quarantäne-Pflichten in steigendem Maße nicht mehr eingehalten wurden. Die Polizei, die das zu überwachen hatte, musste zahlreiche Anzeigen aussprechen.

Am 21. Juli war es dann so weit. Die Regierungsspitze trat in der bereits bekannten Formation – Kanzler, Vizekanzler, Gesundheitsund Innenminister – vor die Fernsehkameras und die Journalisten. Und wie ohnedies bereits erwartet, wurde eine Wiedereinführung der Mund- und Nasen-Schutzmasken-Pflicht in ganz Österreich verkündet. Zwar nicht generell, aber in jenen öffentlichen Orten, die alle Menschen in der Bevölkerung einfach zwangsläufig aufsuchen müssen: die Lebensmittel-Geschäfte und Supermärkte, die Bäckerstuben oder die Lebensmittel-Shops in den Tankstellen, die Filialen der Banken und der Post. Diese Einrichtungen müssten auch den als „Risiko-Gruppe“ definierten älteren und kranken Menschen ohne größeres Risiko zugänglich sein, so wie die Krankenanstalten, Ärztepraxen und Apotheken und Gotteshäuser, wo die Schutzmasken auch bisher verpflichtend waren. „Werfen Sie ihre Masken nicht weg – sie werden Sie noch brauchen“, hatte es bei der Rücknahme der allgemeinen Maskenpflicht geheißen, nun hatte sich die Voraussicht bewahrheitet. Eine Neben-Bemerkung, die dabei mehrfach gefallen ist, ließ allerdings die aufmerksamen Zuhörer aufhorchen: Über die virologische und medizinische Wirksamkeit der Maske konnten aufgrund unterschiedlicher Auslegung zwar keine verbindlichen Aussagen gemacht werden. Aber in jedem Fall würde das Tragen der Mund- und Nasenschutz-Masken das Bewusstsein für die Existenz und die Gefährlichkeit des Virus steigern und aufrechterhalten.

Gleichzeitig wurden an diesem Tag neue und strengere Einreise-Beschränkungen und Kontrollen im Grenzverkehr mit einigen Staaten des Westbalkan und bald darauf auch einigen anderen in- und außerhalb von EU-Europa verfügt. Was bereits als eine Vorbereitung auf die mit Sicherheit erwartete „Zweite Welle“ der Corona-Pandemie im Herbst angekündigt wurde, das waren eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Maßnahmen zur zeitgerechten Abwehr einer rasch ansteigenden Zahl von Neu-Infektionen und Belastungen der Krankenanstalten. Man sprach von 17 Sondermaßnahmen, in deren Zentrum die sogenannte „Corona-Ampel“ stehen sollte. Man wollte österreichweite Beschränkungen und Verordnungen – vor allem Betriebsschließungen – vermeiden für den Fall, dass in einigen Bezirken im Lande plötzlich Ansteckungs-Cluster unabhängig voneinander auftauchen würden. Ein Ampelsystem sollte den nach einheitlichen Kriterien definierten Alarmzustand in den einzelnen Bundesländern und Regionen anzeigen und in den abgegrenzten Gebieten die spezifisch notwendigen Maßnahmen transparent und nachvollziehbar machen. Damit sollte ein „Fleckerlteppich“ an Bezirks-spezifischen Verordnungen nach jeweils eigenen Kriterien vermieden werden.

Eine weitere Verschärfung der Maßnahmen wurde schließlich Mitte August notwendig. Zwar waren mit Beginn der Urlaubssaison die Reisebeschränkungen in die wichtigsten Feriengebiete im nahen Ausland aufgehoben worden, doch stellte sich dann doch bald heraus, dass vor allem aus den kroatischen Badeorten sehr viele infizierte Urlaubs-Rückkehrer ins Land kamen. Die Regierung musste dann fast überfallsartig neue strenge Kontrollen an den Grenzen anordnen und durchführen lassen, was zu teilweise großen Unannehmlichkeiten bei den Betroffenen führte. Für die Opposition war es hauptsächlich ein Grund für hämische Kritik.

Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher war, was noch alles im Laufe der kommenden Monate auf die Bevölkerung zukommen sollte, so konnte man schon ziemlich erahnen, wie die immer wieder zitierte „Neue Normalität“ aussehen könnte – sicher anders als normal.

1.2 Das Verhältnismäßigkeits-Prinzip setzt Grenzen
1.2.1 Geld oder Leben

Die Gesundheit und das Leben der Menschen schützen – um jeden Preis – das war der Grundsatz bei der Ankündigung der Maßnahmen im Kampf gegen das Covid-19-Virus. Es war von vornherein klar, dass die rigorosen Einschränkungen für die Wirtschaft und ein zunächst fast völliger Stillstand im wirtschaftlichen Ablauf gewaltige Schäden verursachen würde. Die Experten haben klargestellt, dass auch die zeitweilige Einstellung der Geschäftstätigkeit und der damit verbundene Ausfall an Einnahmen zu einer Vielzahl von Insolvenzen, Betriebsschließungen und damit auch zu einem Wegfall von Arbeitsplätzen führen würde. Darüber hinaus war zu bedenken, dass bei einem Verbot von Menschen-Ansammlungen und Veranstaltungen auch der gesamte Kultur- und Sportbetrieb zum Erliegen kommen würde. Einer ganzen Reihe von Branchen wie etwa der Gastronomie oder überhaupt dem gesamten Tourismus würde zeitweise der Boden entzogen werden. Keine Frage, dass dann der Staat mit Finanzhilfen würde aushelfen müssen, weil niemand im Stich gelassen werden sollte. Und das würde viel Geld kosten.

Trotzdem: Es sei keine Frage des Geldes, erklärte die österreichische Bundesregierung. Es gehe um Menschenleben. Wenn man über medizinisch bedingte Schutzmaßnahmen und das Herunterfahren der Wirtschaft eine rechtzeitige Eindämmung der Infektionszahlen und eine Überforderung des Gesundheitswesens erreichen könne, dann sei jeder Preis zu rechtfertigen. Nach einem anfänglichen Hilfspaket von versprochenen vier Milliarden Euro war alsbald klar, dass die notwendigen Auffanghilfen eher das Zehnfache kosten könnten und für 2020 ein Rückgang beim Bruttoinlandsprodukt von geschätzten 5,0 bis 7,5 Prozent zu erwarten war. Vom totalen Lockdown des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens waren aber nicht nur die größeren Unternehmen im Dienstleistungs-, Handels-, Gewerbe- und Industrie-Sektor betroffen, sondern eine ganz große Zahl von Einzel- und Klein-Unternehmern, vornehmlich aus dem Bereich persönliche Dienstleistungen, aber auch Künstler und Sportler, denen ebenfalls Hilfe in der Existenzsicherung zuteilwerden musste.

 

1.2.2 Gesundheit oder Hausarrest

Die Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte der Menschen, deren Folgen eher nicht so sehr in Geld- und Vermögensverlusten ausgedrückt werden können, das sind die Maßnahmen im Rahmen des Social Distancing. Dazu gehörten die verfügten Ausgangssperren mit nur wenigen Ausnahmen, die Verbote für das Zusammentreffen der Generationen innerhalb der Großfamilien und die generelle Ein- oder Abstufung der Menschen über 60 als eigene „Risikogruppe“. Diese „älteren Menschen“ mussten weggesperrt werden, um sie vor Ansteckung – und damit vor einer Einlieferung ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation - zu schützen, hieß es plötzlich. Die Parole dazu: Wer gesund bleiben will, muss seine Freiheit opfern!

1.2.3 Die Verfassungsrichter setzen neue Maßstäbe

Nicht alles was eine Regierung an Gesetzen erarbeitet und im Parlament beschließen lässt, ist dann in der Praxis auch verfassungskonform und kann auf Dauer so durchgesetzt werden – auch wenn es im Prinzip dazu gedacht ist, die Bevölkerung vor Schaden zu bewahren. Dem steht nämlich das Verfassungsprinzip der „Verhältnismäßigkeit“ entgegen, das auch beim Covid-19-Maßnahmengesetz berücksichtigt werden musste.3 Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip dürfen persönliche Grund- und Freiheitsrechte nur dann beschränkt werden, wenn feststeht, dass diese „persönlichen Rechte nicht höher zu bewerten sind als das Interesse der Öffentlichkeit“. Geprüft werden muss vor der Gesetzwerdung auch, ob das Gesetz einen „legitimen Zweck erfüllt, ob es zur Erreichung des angestrebten Zieles wirklich taugt, und ob das geplante Gesetz auch notwendig und angemessen ist“. Auf diese Weise sollen die Menschen vor einem Zuviel an staatlichen Eingriffen auf ihre Rechte geschützt werden – auch wenn das im Grunde gut gemeint war.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ist naturgemäß vor allem eine sehr politische Frage – eine Frage, die von ideologischen Werthaltungen bestimmt ist und die erst im Nachhinein wirklich konkret beantwortet werden kann. Die Frage, ob es denn wirklich notwendig war, wochenlang fast alle österreichischen Betriebe zu sperren und damit Einnahmenausfälle, Firmenzusammenbrüche und Schäden in Milliardenhöhe zu verursachen, „nur um den Corona-bedingten Tod von einigen hundert Menschen zu vermeiden“, wird wohl von Vertretern der unterschiedlichen

Interessensgruppen unterschiedlich bewertet werden. Die Verfassungsrichter müssen aber jeweils ganz konkret und direkt auf Klagen vor dem Verfassungsgerichtshof eingehen, die von Einzelpersonen und Interessensvertretern aus allen Bevölkerungsgruppen eingebracht werden.

Es war daher auch nur eine Frage der Zeit, bis die teilweise überfallsartig vorgelegten Bestimmungen im Covid-19-Maßnahmengesetz und die darauf beruhenden Verordnungen zumindest in einigen, aber sehr wichtigen Punkte als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Zunächst war es vor allem die Verordnung über das generelle Verbot zum Betreten des öffentlichen Raumes. Damit war es dann auch nicht strafbar, sich im Freien aufzuhalten oder Besuche von Freunden oder Verwandten in den eigenen privaten Räumen zu empfangen. Aufgehoben wurden auch die Bestimmungen, wonach für die Öffnungserlaubnis von Handelsbetrieben eine 400-m2-Grenze eingezogen wurde, oder die Öffnung der Garten-Center-Betriebe nicht erlaubt worden war. Im Falle der Ausgangssperre wurde von den Verfassungsrichtern die Verhältnismäßigkeit der Verordnung verneint, bei der unterschiedlichen Aufsperr-Erlaubnis nach Größe der Verkaufsflächen oder des Handelsgegenstandes hat das Ministerium gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Sehr wohl als verfassungskonform wurden hingegen die Bestimmungen anerkannt, wonach Entschädigungsansprüche der Unternehmen gegen den Staat im Falle von Betriebsschließungen nicht möglich sind. Dies mit Hinweis auf die umfangreichen Angebote des Staates zur Abwendung von großen Vermögens- und Existenznachteilen an alle Bereiche in der Bevölkerung.

1.2.4 Regierung und Behörden müssen umdenken

Für eine Regierung, welcher Partei oder Parteienkoalition auch immer, ist es meist etwas peinlich, wenn Gesetze aufgehoben und außer Kraft gesetzt werden. Ebenso unangenehm ist es auch für das jeweils zuständige Ministerium, wenn Verordnungen aus seinem Bereich wegen einer Verfassungswidrigkeit außer Kraft gesetzt werden.

Das gilt erst recht, wenn aufgrund solcher Verordnungen Strafen für deren Übertretung verhängt und bereits kassiert wurden. Und da mussten sich Regierung und Behörden einiges einfallen lassen.

Strafen die noch behördenanhängig waren, konnten relativ einfach nach den geltenden Bestimmungen umentschieden werden – ohne Strafe eben. Bei Strafbescheiden, die zwar zugestellt aber noch nicht bezahlt worden waren, konnte die Angelegenheit durch Berufung und Nichtbezahlung im Nachhinein bereinigt werden. Schwierig war es lediglich bei allen jenen unzähligen Fällen, wo Polizistinnen und Polizisten gleich vor Ort und Stelle Strafmandate ausgestellt und kassiert hatten.

Es gilt dasselbe wie bei den Strafmandaten im Auto: Wer gleich bezahlt, bekennt eine Schuld ein – egal ob man schuldig ist oder nicht, verzichtet man so auf Einspruch. Hier wurde auf politischer Ebene von der Opposition eine General-Amnestie mit automatischer Rückzahlung der zu Unrecht bezahlten Strafen gefordert. Eine Umgehung der bestehenden Gesetzesregelungen, die dagegensprechen, wird man wohl noch finden müssen.Für die Regierung und die jeweils zuständigen Ministerien bedeuten diese Vorkommnisse mit den verfassungswidrigen Gesetzen und Verordnungen ganz sicher einen Auftrag für mehr Sorgfalt und Einsatz von spezifischem juridischem Sachverstand. Vor allem das Gesundheitsministerium hat mit seinen Beamten eine ganze Reihe von Verordnungen verbockt, weil man anscheinend nicht wie vorgesehen, ausreichend eng mit dem Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt zusammenarbeiten oder sich gar belehren lassen wollte.

Mitte August wurden dann auch bereits jene Neufassungen im Covid-19-Maßnahmengesetz und die Verordnungen, die vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben wurden, zur Begutachtung ausgeschickt. Die Begutachtungsfrist wurde extrem kurzgehalten, da man damit rechnen musste, dass schon in wenigen Wochen oder Monaten wieder neue und strengere Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus gesetzt werden müssten. Ein diesbezügliches Szenario hatte sich ohnedies bereits abgezeichnet, nachdem mit den Rückkehrern aus den Urlaubsländern auch viele Corona-Infizierte ins Land gekommen waren, und die Statistiken stark belastet haben. Da mussten viele Staaten wieder neu auf die Krisenliste gesetzt werden, die Kontrollen bei der Einreise verschärft, und die Corona-Test-Raten erhöht werden.

2. Angst als Kommunikationsprinzip
2.1 Das Spiel mit der Angst

Die Strategien der verantwortlichen Regierungen zur Eindämmung der Infektionen mit dem Covid-19-Virus waren weltweit teilweise recht unterschiedlich, vor allem im Tempo bei der Umsetzung, sowie in der Radikalität und Strenge bei der Kontrolle und Durchsetzung der getroffenen Maßnahmen. Entsprechend unterschiedlich waren dann auch die berichteten „Erfolge“. Und vermutlich wurden die Fakten auch nicht immer ganz vollständig an die Menschen weitergegeben, die davon betroffen waren. Das Hauptproblem ist wohl darin zu sehen, dass es, wie in allen Bereichen der Wissenschaft, Experten mit sehr unterschiedlichen Meinungen und Ergebnissen ihrer Studien gibt.

Wie gefährlich sind die Viren im Hinblick auf den Krankheitsverlauf, wie groß ist das Sterblichkeitsrisiko, wie werden die Viren am ehesten übertragen, wie kann die Ausbreitung der Krankheit am effizientesten gebremst oder gestoppt werden? Und: welche Maßnahmen garantieren den besten Schutz der Bevölkerung? Welche sind besser geeignet – und welche eher nicht? Besonders heikel und vor allem politisch brisant waren Einschätzungen über die Folgen des Lockdown für die Wirtschaft, wenn es um die komplette Stilllegung ganzer Branchen mit der Schließung von Betrieben ging. Hier sahen sich dann die einzelnen Interessengruppen, aber noch mehr die politischen Parteien berufen, sich bei der Meinungsbildung in der Bevölkerung in Stellung zu bringen. Oft ging es dann sogar nur um politisches Kleingeld in der Auseinandersetzung zwischen den Regierungen und ihrer Opposition. Das ging in Einzelbeispielen in Österreich so weit, dass die Sprecher der Oppositionsparteien tagelang die Wiedereinführung einer Mund-Nasen-Schutz-Masken-Pflicht mit Nachdruck und Polit-Getöse verlangt haben, um am Tag nach der Bekanntgabe der Maskenpflicht die Regierung genau dafür zu kritisieren.

Da ging es oft auch ganz einfach um die Auswahl der „richtigen“ Experten durch die politischen Entscheidungsträger. Dass dabei im Einzelfall auch Fehlgriffe bei der Auswahl von Expertenmeinungen passieren können, haben Veröffentlichungen gezeigt, die unerlaubt und heimlich über Beamte oder beteiligte Regierungsmitarbeiter an kritische Medien gelangt sind. Viel Aufsehen haben etwa die „Leaks“ eines Sicherheitsreferenten im deutschen Innenministerium erregt, der seinen Ressortchef vor falschen Strategien warnen wollte, die nicht auf den Gesundheitsschutz der Bevölkerung, sondern eher auf die konkrete Überwachung der Bundesbürger im persönlichen Verhalten zielten. Sein Vorgesetzter soll ihn von der Weitergabe an den Minister abgehalten haben. Also hat er „geplaudert“. Die österreichische Wochenzeitschrift „Falter“ hat von diesem peinlichen Vorfall in Deutschland ausführlich berichtet.

Einiges Aufsehen hat in den Medien auch ein „Missverständnis“ bei der Zusammenarbeit einer speziellen Arbeitsgruppe der österreichischen Regierung mit Universitäts-Experten ausgelöst.4 Eine ausführliche Darstellung der Gründe für das Zustandekommen und die realen Folgen der Fehleinschätzungen einiger österreichischer Universitätsprofessoren wurde am 15. Mai 2020 auch auf orf.at veröffentlicht.5 Fünf österreichische Wissenschafter hatten auf Einladung der Regierung Ende März eine Studie verfasst, die eine realistische Einschätzung über die künftige Entwicklung der Covit-19-Infektionen, den Bedarf an Intensivbetten und mögliche Todeszahlen ermöglichen sollten. In dem von ihnen am 30. März zunächst als „Tischvorlage“ zur Diskussion vorgelegten Papier („Stellungnahme zur COVID19 Krise“) wurden „etwa 100.000 zusätzliche Tote“ für Österreich vorausgesagt, allerdings unter Annahme bestimmter Infektions-Voraussetzungen. Die Annahmen waren vermutlich nicht realistisch genug gewählt, denn im Gesundheitsministerium verfügte man zu diesem Zeitpunkt bereits über wesentlich optimistischere Zahlen über den Verlauf der Pandemie. Immerhin hatten die am 13. März verkündeten drastischen Verordnungen über den Lockdown in der Wirtschaft und das Verhalten der Menschen im Privatleben bereits positive Wirkungen erzeugt. Es gab keine Hinweise auf eine Überbelastung der Intensivbetten in den Spitälern. Dennoch haben sowohl der Bundeskanzler als auch sein Vizekanzler in ihrer Pressekonferenz am 30. März die Zahl von „100.000 Toten“ aus dem Expertenpapier wörtlich übernommen, das ein „Worst-Case-Szenario“ hochgerechnet hatte.

In der Pressekonferenz, in der auch die Pflicht zum Mund-Nasen-Schutz bekanntgegeben wurde, erklärte der Bundeskanzler wörtlich: „Viele können sich nicht vorstellen, was da in einigen Wochen auf uns zukommt. Aber die Wahrheit ist: Es ist die Ruhe vor dem Sturm.“ Und in einer ZiB-Spezialsendung weiters: „Die Zeit, in der die Intensivstationen überlastet sein werden, liegt noch vor uns.“6 Was die ohnedies stark sensibilisierte Bevölkerung an diesem Abend aber wahrscheinlich am meisten beunruhigt hat, das waren nicht nur die Zahlen von möglichen 100.000 Toten, sondern Formulierungen des Bundeskanzlers wie „dass vielleicht bald jeder jemanden kennen wird, der an Covid-19 verstorben ist.“ Und mit dem Hinweis auf die Entwicklung in Italien, der Satz, „dass sich dort manche Menschen nur per Telefon von ihren lieben Verwandten verabschieden könnten.“7

 

Mehrere der Wissenschafter übten heftige Kritik an den Zahlen der Universitätsprofessoren, die zu so drastischen Formulierungen der Regierungsspitze geführt hatten. Und diese Professoren haben offenbar am nächsten Tag eine korrigierte Fassung ihrer Studie nachgereicht, die sie ohnedies nur als Unterlage für die Diskussion, also als sogenannte Tischvorlage verstanden hatten. Dabei wurde die zentrale Aussage der Version vom 30.3., wonach das Gesundheitssystem in Österreich „Mitte April zusammenbrechen wird“, auf „die Belastungsgrenze in Hinblick auf Intensivbetten überschreiten würde“ geändert.

Diese Version hat dann am 10. April auch noch der Wissenschaftsminister verwendet und nur noch von „Zehntausenden zusätzlichen Toten“ gesprochen. Der „Falter“ hat in seiner Ausgabe vom 15. Mai einen Gastbeitrag von zwei der Professoren veröffentlicht.8 „Der Zweck der Modellrechnung und Grafik war darzustellen, wie gefährlich das anfänglich in manchen Ländern ernsthaft diskutierte ungebremste Weiterlaufen der Epidemie wäre“, heißt es in dem Kommentar. Und an anderer Stelle: „Wie jedes mathematische Modell kann es nur Aussagen in der Form von ‚wenn … dann‘ treffen.“ Das „Dann“ wurde von der Politik mit Nachdruck kommuniziert. Über das „Wenn“ der Modellannahmen wurde die Öffentlichkeit allerdings nicht aufgeklärt.“9 Die vorher hart kritisierten Professoren haben eine Mitschuld an den „Missverständnissen“ zurückgewiesen.

Die alarmierenden Aussagen der Regierungsspitze über die möglichen Folgen der Corona-Krise wurden tagelang in den Medien diskutiert, als durch Veröffentlichung von Details aus einem Protokoll der kritischen Sitzung im Bundeskanzleramt das Zustandekommen der harten Formulierungen nachvollzogen werden konnte. Angeblich hat sich dort der Bundeskanzler besorgt darüber geäußert, dass die Bevölkerung die Gefährlichkeit des Covid-19-Virus und seine Folgen für Gesundheit und Leben nicht ernst genug nehmen könnte. Und solcherart werden dann auch die möglichen Absichten offengelegt: „Die Regierung wollte anscheinend ein Klima der Angst erzeugen, um die Notwendigkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen zu unterstreichen.“10

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