Lasst uns über Liebe reden

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Barfuß über jeden See
(Robert Christl, 1922–2013)

Da braust einer übers Wasser, am Seil von einem Motorboot gezogen, mehr als 60 Stundenkilometer schnell – braust so dahin und hat nicht einmal Skier unter den Füßen. Barfuß ist er unterwegs, auf den nackten Sohlen. Nicht irgendeiner: Robert Christl, Weltmeister im Barfuß-Wasserskifahren!

Dreieinhalb Kilometer barfuß übers Wasser flitzen. „Dann passt du drei Tage lang in keinen Schuh hinein, so geschwollen sind die Füße“, hat er mir erzählt, beim späten Besuch, keine vier Wochen vor seinem Tod, draußen in Itzling, in der Wohnung, in der er 65 Jahre lang gelebt hat. 26 Kilometer von seinem geliebten Mondsee entfernt, zu dem er bei jedem halbwegs schönen Wetter gefahren ist. Sein See, sein Club. Und er der Star, als Läufer und als Lehrer. Der Barfußkaiser.

„Er war ein Unikum, die Seele der Wasserschule, das Mädchen für alles“, sagt Sepp Mörtl vom Wasserskizentrum Mondsee. Immer für alles und für alle da. Hunderte Menschen haben von ihm das Wasserskilaufen gelernt … Wie Hunderte Menschen im Winter von ihm das Schneeskifahren gelernt haben.

„Das Wichtigste ist“, erzählt der Robert – und er kann so anschaulich erzählen auch ganz am Ende seines langen Lebens –, „dass du im richtigen Moment aus den Ski-Schlaufen springst und dann ganz flach arschlings und am Rücken auf der Wasseroberfläche landest. Wie ein Stein, den man über den See plattelt. Dann ziehst du den Körper hoch und braust dahin. Auf den Sohlen.“ So einfach ist das, wenn man einer wie er ist.

Wasserskifahren: Wahrscheinlich seine größte Leidenschaft – neben Skispringen, Kunstturnen, Turmspringen, Langlaufen, Drachenfliegen, Marathonlaufen und so weiter und so fort. 24 Sportarten in 46 Disziplinen hat er wettkampfmäßig betrieben. Und immer überall ganz vorne dabei. Einmal ist er Allround-Europameister in einer Kombination aus 20 Sportarten geworden!

Am meisten abgeräumt hat er freilich beim Wasserskilauf. 85 Medaillen allein bei Welt- und Europameisterschaften, davon 30 in Gold. Wenn man sein Trophäenzimmer in der Bognerstraße besichtigt, glaubt man, da müssen die Pokale, Medaillen und Urkunden einer ganzen Sportlergeneration deponiert sein. Es sind aber einzig und allein seine. 700 werden es wohl sein.

Darunter etwa ein Pokal, den ihm König Hussein von Jordanien persönlich überreicht hat. Dass er zweimal im Internationalen Guinness-Buch der Rekorde steht, hat ihn besonders stolz gemacht: 1997 mit 30 Teilnahmen an Wasserski-Europameisterschaften (es sind ja danach noch vier weitere gefolgt) und 2006 als ältester Schneeski- und Wasserski-Lehrer der Welt. Der Titel „Doyen der europäischen Wasserski-Elite“ hat ihn gefreut und geehrt. In Florida, in Australien ist er, Robert Christl, Ehrenmitglied bei den diversen Barfußfahrer-Clubs. Letzten Sommer, das ist ja erst ein halbes Jahr her, ist er in bestechender Manier über den Mondsee gefahren, mit dem Mono-Wasserski, nach seinem 90. Geburtstag noch.

Dabei wäre sein Leben, das Leben des Robert Christl, nach einem halben Jahr schon fast vorbei gewesen. In Stall im Mölltal hat er das Licht der Welt erblickt. Am 26. Juni 1922. Der Vater: nicht da. Ein lediges Kind also. Und die Mutter sieht nur eine Chance, den Buben über die Runden, in eine halbwegs gute Zukunft zu bringen: Er muss nach Zell am See, zu den Großeltern, den Steinachers. Also bettet sie ihn im kalten Jänner 1923 in einen Wickelpolster und die Hebamme macht sich mit ihm auf den Weg. Zu Fuß von Stall über Flattach bis Mallnitz, durch den Schnee, stundenlang.

Der Robert, der Bub, hat Keuchhusten und ist dem Tod näher als dem Leben. Von Mallnitz aus geht es mit dem Personenzug nach Zell. Der Opa ist ein sehr tüchtiger, erfolgreicher Schuhmacher; die Oma, die der Robert später dann und immer „Mutter“ nennen wird, schaut sich das hustende, kleine Würmchen im Wickelpolster an, meint lächelnd „So a liab’s Biabl!“, und schon gehört er zur Familie. 13 Kinder gibt es bereits, da kommt es den Steinachers auf ein weiteres wahrlich nicht an. „Bei dir“, sagt die Oma, die „Mutter“, später einmal, „hab i’ ma nur die Geburt erspart!“

Das „liabe Biabl“ wird rasch gesund und entwickelt sich in Zell am See prächtig. Wird ein lebendiges Kind im wahrsten Sinne des Wortes. An jedem Spiel, an jedem Sport interessiert. Spielt Fußball auf der Straße, mit so einem Temperament, dass dann und wann eine Fensterscheibe dran glauben muss. Vor allem aber gibt es den See für den Sommer. Und die Berge und bald schon die Schanze im Winter!

Der Robert ist grad einmal 14 Jahre alt, als die Sprungschanze im Köhlergraben eröffnet wird, 1936. Der legendäre Bubi Bradl siegt mit einem Sprung über 81,5 Meter. Robert Christl schafft als Vorspringer immerhin 49 Meter, ohne Training und mit 2,40 Meter langen Skiern, in die der Wagner von Zell am See schnell zwei Rinnen auf der Waxlseite gezogen hat, damit man mit diesen Dingern halbwegs springen kann. Am Gersberg, später dann, wird der Robert den Schanzenrekord aufstellen, der ewig hält – 38 Meter. Bis ins Flache. Und dann haut es ihn hin und er liegt eine Zeit lang im Gips, vom Hals bis zum Bauch. Auch das gehört zu so einer unglaublichen Sportlerkarriere. Wie er ja auch das Barfuß-Wasserskifahren nicht ohne gewaltige Salti, spektakuläre, schmerzhafte Stürze erlernt hat. Aber irgendwie ist er immer aufgestanden. Und weitergefahren, weitergesprungen.

Zurück in die 30er-Jahre. Die Schule ist vorbei, der Robert hat etliche Jugend- und Ortsmeisterschaften in verschiedenen Sportarten gewonnen. Jetzt geht es um den Beruf. Robert Christl hat einen großen Traum: Schauspieler möchte er werden. Einer wie der Heesters, der Albers oder der Willy Forst, die er in den Kinofilmen so bewundert. „Mach was G’scheites“, sagen die Großeltern. „Schauspieler ist kein Beruf!“ Also beginnt er eine Bäckerlehre in Lend. Bäckerlehrling, Bäcker sein – das heißt: In den Nachtstunden mit der Arbeit beginnen. Dann wird das Trainieren danach doppelt schwer.

Das wirft den Robert nicht aus der Bahn. Er ist willensstark und zäh. Und hat noch immer diesen Traum im Herzen: Schauspieler werden! Im März 1939 hat er als Bäcker ausgelernt. Drei Monate später ist er auch schon in Berlin. „Ich hab einen fürchterlichen Dialekt gesprochen“, erzählt er. Also nimmt Robert Christl Sprechunterricht, in einer renommierten Schule, in die auch so prominente Leute wie Rudolf Platte und Heinz Rühmann gegangen sind.

Ganz unrecht haben die Großeltern nicht gehabt. Viel Geld kann man als Schauspielanfänger nicht verdienen. Man muss eher dazuzahlen. Immerhin kann er in einigen Stücken an Berliner Theatern als Statist mitwirken. Einmal steht er an der Volksbühne Berlin in der Zirkuskomödie mit Gusti Wolf gemeinsam auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Oder bedeuten könnten.

Aber da ist schon Krieg, und jetzt beginnt ein ganz anderes Kapitel in seinem Leben. Robert Christl rückt zu einer Infanterie-Division ein. „Wer kann Skifahren?“, heißt es.

Wer schon! Er natürlich; und schon ist er Gebirgsjäger. Wird im Laufe des Krieges mit seiner Einheit in 50 Nahkämpfe verwickelt. Hat sehr viel Glück, aber am 22. Juli 1943 verwundet ihn ein Bauchschuss lebensgefährlich. „Da ist die Kugel rein“, erzählt der alte Herr und deutet auf die Narbe auf seinem immer noch braungebrannten Körper, vier Wochen vor seinem Tod, „und da hinten …“, und jetzt dreht er mir den Rücken zu, „… ist sie wieder raus!“

Eigentlich könnte der Krieg ab sofort für ihn vorbei sein, aber er wird noch einmal mit einem „letzten Aufgebot“ an Soldaten an die Fronten geschickt. Ins Baltikum, mit der „Ju 52“. Über Tallinn, Reval hieß die Stadt damals, werden sie alle einfach aus dem Flugzeug geworfen und müssen per Fallschirm landen. Der allererste Fallschirmsprung für ihn. Ohne Training, wie so oft. Noch eine Verwundung kommt dazu: Eine Ferse wird ihm durchschossen. Dass er später auf dieser Ferse, vom Motorboot gezogen, übers Wasser braust – unglaublich.

Dann ist der Krieg endgültig vorbei. Robert Christl arbeitet wieder in der Bäckerei in Lend. Aber der Traum von der Schauspielerei lässt ihn immer noch nicht los. Diesmal geht es, von einer Bekannten vermittelt, die Beziehungen hat, nach Wien, an das Horak-Konservatorium. Bibiane Zeller und Peter Minich sind seine Schauspielschul-Kollegen. Peter Minich verdankt er es übrigens, dass er mit dem Rauchen Schluss gemacht hat. Robert Christl, der brillante Sportler, hat bis zu seinem 28. Lebensjahr viel geraucht, 30 Zigaretten am Tag. Der Opern-, Operetten-, Musical-Sänger Minich, der ein guter Freund geblieben ist und sich im Laufe des Lebens oft mit ihm am Mondsee getroffen hat, sagt eines Tages, 1950: „Wetten, dass du es nicht schaffst, damit aufzuhören!“ Robert Christl hört in derselben Stunde damit auf, für immer, und gewinnt die Wette: 200 Schilling.

Die große Schauspielerkarriere hat sich nicht ergeben. In ein paar Filmen hat er kleinere Rollen übernommen, war dabei, als Luis Trenker seinen Dokumentarfilm über die Männer von Kaprun, über den Kraftwerksbau, gedreht hat. Und in Werbefilmen.

„Nivea Reklame“ – wer hätte besser gepasst als der ewig braungebrannte, smarte Robert Christl? Werbung hätte er für Vieles machen können. Für Sonnenbrillen, Zahnpasta, bunte Hawaii-Hemden – aber vor allem: fürs Leben selbst. Was für ein flirrend buntes Leben!

Also doch Bäcker von Beruf. Und das gerne und mit vollem Einsatz. Wie immer in seinem Leben. Bäcker bei seinem Bruder in Salzburg. Und später beim „Haidenthaler“. Bäcker bis zur Pensionierung vor gut 30 Jahren. Die Großeltern, die ja wie Eltern waren, haben schon recht gehabt. Für die Leidenschaft Sport war da allemal Platz genug. Bei der Schauspielerei wäre das viel schwieriger gewesen.

 

Wenn man den Namen Robert Christl nennt, bekommen heute noch viele Damen im reiferen Alter glänzende Augen und geraten regelrecht ins Schwärmen. „Womanizer“, würde man heute sagen. Ein Charmeur. Einer mit einem g’sunden Schmäh; und getanzt hat er auch fantastisch. Turniertänze – Walzer, Tango, Slowfox und Rumba. Nie „schlampert“ beisammen, immer ein Sir.

Am Tag, bevor ich mir seine Geschichten anhören darf, ist die Tochter von Bubi Bradl bei ihm, beim Robert, zu Besuch gewesen, zum Abschiedsbesuch. „So a fesche Frau!“, hat der Robert gesagt.

Die vielen Prominenten, die er gekannt und die ihn geschätzt haben! Katerina Jacob, die Kommissarin aus dem Bullen von Tölz, hat ihn in den Goldenen Hirschen eingeladen, um mit ihm über ihren Vater zu plaudern, der im Krieg sein Vorgesetzter gewesen ist, Major Jacob. Der Schauspielerin Hildegard Knef hat er, als sie in Salzburg war, ziemlich krank, ein Bett in seiner Wohnung zur pflegerischen Betreuung überlassen. Sepp Forcher hat ihn in einem Brief „mein Über-Weltmeister“ genannt. Jochen Rindt, Klammer, Goldberger, Hinterseer, Helmuth Lohner – alle haben sich gern mit ihm fotografieren lassen und mit ihm über den Sport, das Leben, das Theater geplaudert.

„I’ möcht auch amoi so berühmt werden wie der Onkel Robert!“ Der das gesagt hat, ist sogar noch berühmter geworden. Robert Christls Großneffe – Hans-Peter Steinacher, Doppel-Olympiasieger im Segeln.

Wenn man Robert Christl nach dem Geheimnis für seine Fitness und für seine grandiosen Erfolge befragt hat, dann hat er immer locker aus der trainierten Hüfte heraus gesagt: „Viel Sport, kein Nikotin, viel Milch und Kakao, kein Alkohol, keine Sorgen!“

Das mit den Sorgen ist so eine Sache. Dass neben dem Beruf und dem Sport zu wenig Zeit für die Familie geblieben ist, das hat er, vor allem in den letzten Jahren und Monaten, sehr bedauert. Eine Ehe, die früh gescheitert ist. Und dann der Sohn, die Enkelin mit ihrer Familie, Urenkel. Viel zu selten in den Arm genommen. Alles im Leben hat seinen Preis. Und nichts im Leben kann man zurückdrehen.

Schön, dass Wolfgang, der Sohn, in einer der letzten Nächte bei ihm in der Palliativstation im Landeskrankenhaus sein konnte. Und dass Magdalena, die Enkelin, mit ihren Kleinen gekommen ist – mit dem Theo und dem Konstantin, der im Sterbezimmer noch Bilder gemalt hat für den Uropa.

Schön, dass die Frau Lackner, die liebe Nachbarin, sich so sehr um ihn gekümmert hat, und die Tante Mitzi und die Cousine Christa vor allem, die ihm in der allerletzten Nacht im Kerzenschein noch das lange Weihnachtsgedicht aufgesagt hat, das man in der Familie immer so gern gehört hat. Frau Dr. Faber, der Engel von der Palliativstation, hat extra für ihn, nachdem er noch die Krankensalbung bekommen hat, auf dem Klavier gespielt.

Was bleibt und was ihn stolz gemacht hat: die Anerkennung, die Wertschätzung in der Welt draußen und in seiner Heimat. Die Verdienstzeichen in Gold und Silber, seinen Lieblingsfarben, der Republik Österreich, des Landes Salzburg, der Sportverbände, der Wörtherseer und seiner Mondseer vor allem.

Geld hat Robert Christl mit dem Sport nicht wirklich verdienen können. Ein paar Hundert Schilling bei Wasserski-Vorführungen beim Seefest in Zell. Aber darum ist es ja nicht gegangen.

Er hat sein Leben gelebt, er, das liabe Biabl aus dem Mölltal, er, der so besondere Mensch, der mehr als ein Mal dem Tod von der Schaufel gesprungen ist, als Kind, im Krieg.

87 Meter: Seine Höchstweite beim Skispringen, einstmals in Bischofshofen, die Arme voraus, tadelloser Telemark.

Pumperlgesund, 90 Jahre lang. Dann, nach diesem schönen letzten Sommer am Mondsee, auf dem Mondsee – die Krankheit, gegen die es kein Gewinnen mehr gibt. Wenn ihn in den letzten Wochen seines Lebens ein Hospizbegleiter besucht hat, dann hat der Robert ihm – ach, dieses Elefantengedächtnis! – die lateinischen Gebete rezitiert, die er als Ministrant in seiner Kinderzeit in Zell am See gelernt hat.

In seinem Krankenzimmer daheim in Itzling, beim Fenster mit dem Blick ins Weite, bis zum Untersberg hin, steht der Hometrainer. „Da setz ich mich im Moment lieber nicht drauf“, hat er gesagt, vier Wochen vor seinem Tod. Gegen den Tod, letztendlich, kann man nur verlieren. Robert Christl ist als fairer Verlierer abgetreten von der Lebensbühne. Nein, nicht als Verlierer, einfach als Zweiter. Hinter dem Tod. Einmal ist er bei der österreichischen Marathon-Meisterschaft Zweiter geworden, hinter der Marathon-Legende Adolf Gruber. „Der hat’s leicht g’habt“, hat er gemeint, „der hat ja nix anderes g’macht!“

Robert Christl hat diese Welt gefasst verlassen, in Frieden. Mit einem Lächeln und in großer Dankbarkeit für sein sagenhaftes, unvergleichliches Leben.

Die Zugfahrt ins Glück
(der Herr Fritz, 1942–2020)

Lasst mich mit dieser Geschichte beginnen, weil sie erstens so hübsch ist und weil sie zweitens wohl die entscheidende Geschichte war im gemeinsamen Leben von Fritz und Gerlinde. Eine Weihnachtsgeschichte. Weihnachten 1972, vor 48 Jahren also.

1972, noch rasch eingefügt, haben zwei Lieder die heimische Schlagerparade dominiert: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo und Ich wünsch mir ’ne kleine Miezekatze, vom Zeichentrickhund Wum interpretiert. Und den hat, wie auch das Lied, der Meisterzeichner und -satiriker Loriot erfunden. Loriot, seine Kunst und seinen Humor, hat der Fritz sein Leben lang gemocht und bewundert.

1972 also. Eine junge Frau mit dem Namen Gerlinde hat grad das Abteil im Liegewagen eines Zuges betreten. Nicht Nirgendwohin und auch nicht irgendeines Zuges – es ist der „Wiener Walzer“, der Nachtzug von Basel nach Budapest. Sie ist Österreicherin, in Langenlois aufgewachsen, in Wien zur Krankengymnastin ausgebildet, mit Berufserfahrung im Salzburger Kurhaus, seit einigen Jahren in der Schweiz aktiv. Zurzeit als Physiotherapeutin im Kantonsspital in Luzern.

Heute will sie für ein paar Tage heimfahren. Weihnachtsurlaub. Eine Mitreisende, auch für dieses Abteil gebucht, hat einen schweren Koffer dabei, den die beiden Frauen nicht auf die Gepäckablage hieven können. Dann dieser Moment. Und dieser Satz. Ein Mann so um die 30 öffnet die Schiebetür zum Liegewagenabteil – und die Frau Gerlinde ruft voller Erleichterung: „Endlich ein Mann!“ Gemeint war: Endlich einer, der den Koffer stemmen kann.

Aus dieser Szene, aus diesem Satz hätte Loriot wohl einen köstlichen Sketch gemacht, über den der Herr Fritz, wie er sich vorstellt, herzlich gelacht hätte. „Endlich ein Mann!“ – zum Kofferheben.

Der erste Satz, die erste Begegnung, und sympathisch ist er auch. Ingenieur, Diplomkaufmann, aber solche Titel sind ihm, waren ihm immer völlig unwichtig. Dass er beim Elektrotechnikkonzern Brown, Boveri & Cie in Südafrika arbeitet, im Moment aber im Mutterhaus des Unternehmens in Baden bei Zürich beschäftigt sei, erzählt er. Und dass er in ein paar Monaten wieder nach Südafrika, nach Johannesburg, zurückkehren werde. Sympathisch ist er und fesch. Schnürlsamtjeans, schicker Pullover, leger und elegant zugleich. Dass Jeans, Blue Jeans vor allem, seine absolute Lieblingsgarderobe sind und er sogar auf Kunstereignisse verzichtet, wenn man sich dafür „aufmascherln“ müsste, wie er es nennt, also die Jeans gegen eine Anzugshose wechseln, weiß die Frau Gerlinde noch nicht.

Man könnte doch nach der Rückkehr vom Kurzurlaub einmal gemeinsam essen gehen. Kurzum: Der erste Satz ist gefallen, die ersten Worte sind gewechselt. Und jetzt kommt erst einmal Weihnachten.

Die beiden bleiben in Verbindung. Man trifft sich wieder – und bald schon stellt der Fritz der Gerlinde eine schwerwiegende Frage. Ob sie nicht mit ihm nach Südafrika gehen möchte. Da muss man natürlich gründlich nachdenken. Fritz fliegt im April. Gerlinde im September. In Johannesburg beginnt sozusagen das offizielle Glück der beiden. Ein Dreivierteljahr später, im Sommer 1974, kehren sie gemeinsam zurück und schlagen ihre Zelte in Salzburg auf.

Was folgt, sind 47 Jahre Zuneigung, 47 Jahre Fürsorge und aufeinander Schauen. Liebe und Respekt. Jeder lässt dem anderen Freiräume für die jeweiligen Interessen und Besonderheiten. Gerlinde geht gerne Tanzen, der Fritz verweigert mit der augenzwinkernden Ausrede: „Ich hab einen Nagel im Knie!“ Sie besucht Konzerte und Opern mit Freundinnen und Freunden, weil er sich so schwer von seinen Blue Jeans trennen kann und nicht in die Abendgarderobe schlüpfen mag. Opern und Konzerte sind ja auch im Fernsehen schön.

Außerdem genügt es, wenn einer bzw. eine von ihnen bei der Saunarunde und im Gesangschor dabei ist. Der andere, der Fritz also, hält die Gemütlichkeit daheim in Ehren.

Das Wichtigste: Beide freuen sich, wenn es dem anderen gut geht. Und wenn es dem oder der anderen nicht gut geht, kümmert sich der Lebenspartner mit Haut und Haar, von ganzem Herzen darum. Wie oft ist der Fritz mit dem Rad zur Gerlinde ins Diakonissenkrankenhaus gefahren, als es ihr so schlecht gegangen ist. Wie oft hat die Gerlinde den Fritz im Spital besucht, bei seinen diversen gesundheitlichen Problemen und vor allem in den schweren letzten Wochen auf der Herzchirurgie, auf der Intensivstation. Sie waren füreinander da, an hellen Tagen und in dunklen Nächten.

„Eine glückliche Ehe ist eine, in der sie ein bisschen blind und er ein bisschen taub ist“, hat der Sir unter den Humoristen, Loriot, der Lieblingsautor vom Fritz, geschrieben. Einer der wenigen geistreichen, pfiffigen Sätze, dem die beiden widersprechen müssen. Jeden so lassen wie er ist, quirlig die eine, in sich ruhend der andere – und so viel wie erwünscht gemeinsam erleben. Da muss man nicht ein bisschen blind oder ein bisschen taub sein. Verstehen, vertrauen, sich freuen, wenn der Partner sich freut. Das ist die Basis für eine glückliche Ehe.

Sieben Jahre leben Fritz und Gerlinde glücklich, zufrieden und unverheiratet dahin, bis die Mütter, wir schreiben das Jahr 1980, meinen: Jetzt ist es aber Zeit! Die Hochzeit findet am Standesamt in Grödig statt, weil man den dortigen Standesbeamten kennt und der Fritz die „Trauungsfabrik“ im Marmorsaal im Schloss Mirabell so gar nicht mag.

Die Hochzeitsreise wird mit einem großen Hobby von beiden verbunden: Tennisspielen. Und zwar an der Adria, in Bibione. Natürlich haben sie ein Doppelzimmer bestellt, aber noch unter ihren Vor-Ehe-Namen. Sie bekommen auch ein Doppelzimmer, eines, in dem die beiden Betten weit voneinander entfernt sind. Noch dazu an der Wand festgeschraubt. Da lässt sich nichts zusammenschieben.

Fritz und Gerlinde können über diese kleine Einschränkung in der Flitterwoche herzlich lachen. Nur die Quartiergeber sind völlig aus dem Häuschen, als sie am letzten Tag erfahren, dass die beiden auf Hochzeitsreise in ihrem Hotel abgestiegen sind. „Luna di miele! Notte di nozze!“ – und entschuldigen sich mit einem Prosecco nach dem anderen für das Missverständnis. Gerlinde und Fritz sind voll in ihrem Glück und ziemlich proseccoselig beim Abschiednehmen.

Der Fritz. Das Licht der Welt erblickt er am 9. Juni 1942 in Kittsee, ganz im Osten von Österreich, wenige Kilometer und eine Donaubreite von Pressburg, Bratislava, entfernt. Die Eltern, Vater Josef und Mutter Grete, leben in Pressburg, in Kittsee aber befindet sich ein Krankenhaus für die Pressburger. Für Geburten, für Neugeborene wie den kleinen Fritz.

Die Zeiten damals sind unruhig, gefährlich. Der Vater ist im Krieg, gerät in Finnland in Kriegsgefangenschaft. Und eines Tages, 1945, muss die Mutter samt der Großmutter und dem kleinen Fritz, grad einmal drei Jahre alt, die Flucht ergreifen, von einem Tag auf den anderen. Ach ja, ein Schwesterchen ist auch dabei, zwei Jahre jünger als Fritz – Monika.

Ist das der Zug, der nach Nirgendwo fährt, wie in dem erwähnten Lied? Es geht Richtung Krems und schließlich nach Haitzendorf, wo sich das sagenhafte Schloss Grafenegg befindet, dereinst (und auch heute wieder) ein stattlicher Schlossbau samt großem Park, quer durch die Jahrhunderte von namhaften Grafen bewohnt.

Aber jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, ist das Schloss in die Hände der russischen Besatzungsmacht gefallen und von den sowjetischen Truppen verwüstet worden. Alles Brennbare hat man verheizt, nicht zuletzt die wertvolle Kunst- und Büchersammlung. Ein Onkel vom kleinen Fritz kann für „den Russen“, den im schwer beschädigten Schloss herrschenden General und seine Mannschaft, arbeiten, als Chauffeur etwa. Und die Mutter von Fritz und Monika fungiert als Dolmetscherin und Sekretärin. Immerhin spricht sie drei Sprachen fließend: Slowenisch, Ungarisch und Deutsch.

 

Für die vielen Kinder, die mit ihren Familien in den Häusern rund um das Schloss, das eine Halbruine geworden ist, leben, ist das der herrlichste Spielplatz überhaupt. Man kann, wenn einem danach ist, die noch verbliebenen Fensterscheiben mit Steinen einschlagen, im Schlosspark herumtollen, Fußball spielen. Oder mit dem Hund vom „Russen“, dem Alfi, durchs Gelände laufen. Oder den Ochsenkarren ziehen. Ländlich, unbeschwert, Abenteuer pur.

Als der Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, findet auch er Arbeit in der dortigen Land- und Forstwirtschaft.

Nach dem Abzug der russischen Besatzer übernimmt wieder der angestammte Adel das Schloss. Nicht zuletzt die Familie Metternich. Mutter Grete wird Buchhalterin auf Grafenegg. Und der Bub, der Fritz, bereitet sich in der Volksschule Haitzendorf auf das künftige Erwachsenenleben vor. Viel später, wenn im Familien- oder Freundeskreis irgendein Rätsel oder eine besondere Frage aufzulösen ist, hört man aus seinem Mund oft den Satz: „Das weiß ich! Ich war ja in der Volksschule Haitzendorf!“

Dann die Realschule in Krems. Da kann der Fritz seine Liebe zur Technik erproben und ausleben. Zur Schule kommt er per Fahrrad und Bahn. Mit dem Rad zur Haltestelle, bei Wind und Wetter, Hitze und Frost. Und dann im Zugwaggon zum Unterricht. Die Realschule grenzt in Krems unmittelbar an das Realgymnasium. Dazwischen liegt ein Park, ein Pausenhof, der von den Schülerinnen und Schülern beider Schulen bevölkert wird.

Das Realgymnasium besucht damals ein Mädchen namens Gerlinde, ein Jahr jünger als der Fritz. Sie kommt von Langenlois mit dem Bus – er aus Haitzendorf/Grafenegg mit Rad und Bahn. Am Schulpausenhof werden sie wohl das eine oder andere Mal aneinander vorbeigelaufen sein. Sie haben keine Ahnung voneinander und keine Idee, dass sie das Schicksal einmal so fest zusammenbringen wird, gut 20 Jahre später. Keiner kann sich an den anderen erinnern, als sie auf der Weihnachtsfahrt 1972 von Zürich nach Wien und später über ihre Schulerlebnisse von damals plaudern …

Fritz’ Familie ist nach Wien übersiedelt, nach Alsergrund-Lichtental im 9. Bezirk – und der junge Mann besucht die HTBL, die Höhere Technische Bundeslehranstalt, Abteilung Maschinenbau, in der Schellinggasse. Das ist genau das Seine. Aber noch nicht alles. Kaum hat er den Ingenieurs-Titel („Schmalspur-Ingenieure“ nennen die Lästerer die HTL-Absolventen) in der Tasche, beginnt der Fritz was ganz anderes. Er studiert Welthandel und wird Diplomkaufmann.

Wie gesagt: Titel waren ihm nie wichtig. Das Bundesheer muss er, da ist er schon Mitte 20, noch absolvieren. Als einer, der des Schreibens und des Lesens (nachweisbar!) mächtig ist, kann er in einer Schreibstube dienen. Jetzt ist er also Techniker, Mathematiker, im Welthandel erfahren, er kann so viel, er weiß so viel.

Da schmiedet er mit ein paar Schul- und Studienkollegen einen großen Plan. Mit dem Richard vor allem, der ihm fast ein Zwillingsbruder ist, durchs ganze Leben, mit dem der Fritz bis zuletzt lange Telefongespräche über Gott und die Welt geführt hat. In Südafrika, haben sie erfahren, wartet man auf Techniker aus Österreich. Die stehen in bestem Ruf aufgrund ihrer besonders guten Ausbildung. Auf nach Südafrika also! Die Eltern bringen den Fritz nach Triest, zum Schiff, und realisieren erst nach drei Wochen, als sich ihr Sohn aus Johannesburg meldet, so richtig, dass er tatsächlich ausgewandert ist.

Mit wenig Geld ist er angekommen. Die erste Zeit, wir schreiben das Jahr 1967, wohnt der junge Herr Ingenieur in einem Migrantenhotel und wartet, was sich so ergeben wird, berufsmäßig. Zunächst wird er als Techniker an verschiedene Firmen verliehen. Bis er bei Brown Boveri anheuern kann, als technischer Zeichner von Plänen für Kraftwerke, Turbinenbauten und vieles mehr. Seine Zeichnungen sind imposante kleine Meisterwerke. Die Arbeit floriert, Fritz wohnt mit ein paar Kollegen im eigens gemieteten Haus und schließlich mit dem Freund Hermann und dessen Frau in einem Häuschen in Parkhurst, einem Vorort von Johannesburg.

Für eineinhalb Jahre wird er ins Mutterhaus von Brown Boveri nach Baden bei Zürich geschickt. Und kurz bevor er wieder zurück nach Johannesburg fliegt, trifft er – im Weihnachtszug 1972 – diese hübsche junge Frau, die ihm tatsächlich bald schon nach Südafrika nachreist. Sie, die Gerlinde, findet rasch Arbeit im General Hospital in Johannesburg, lernt den Fritz so richtig kennen und lieben – und beide verbringen wunderschöne Monate mit Arbeit, die ihnen Freude macht, und geselligen Abenden mit den ausgewanderten Studienkollegen und Geschäftspartnern vom Fritz.

So bereichernd und erfüllend diese Zeit auch ist, bei beiden taucht irgendwann ein bisschen Sehnsucht nach Österreich auf. Die letzten vier Wochen reisen sie mit einem VW-Käfer durch Südwestafrika.

Wo die Geschichte von Fritz und Gerlinde weitergehen wird? Wien oder Salzburg? Sie entscheiden sich für Salzburg, wo Gerlinde bereits über eine kleine Wohnung in Lehen und etliche Freunde verfügt. Sie, die erfahrene Physiotherapeutin, findet auch sofort einen Traumjob in Großgmain. Er, der Fritz, sattelt wieder einmal um. „Steuerberater“ lautet jetzt sein Berufsziel.

Die ersten Tage in der Steuerberaterkanzlei, nach der südafrikanischen Sonne, sind schrecklich für ihn. In Salzburg schüttet es ohne Unterbrechung. Aber auch das geht vorbei, wie die Ausbildung vorbeigeht – und der Herr Fritz, bereits Ingenieur und Diplomkaufmann, ist jetzt tatsächlich auch noch geprüfter Steuerberater. Ein Beruf, den er nie ausüben wird.

Nein, er disponiert nach bestandener Prüfung postwendend um und widmet sich der Technik, wird bei der VOEST in Linz technischer Verkäufer für den Turbinenbau und andere große Projekte. Und das fünf Jahre lang. Während der Woche arbeitet und lebt er in Linz und am Wochenende ist er in Salzburg, bei seiner Gerlinde. Seit 1977 in der Eigentumswohnung in der Akademiestraße in Nonntal. Der finanzielle Grundstock dafür war übrigens ein gemeinsam mit Arbeitskollegen errungener Lottogewinn. Fritz im Glück.

Und noch ein großes berufliches und privates Abenteuer wartet auf die beiden: Singapur. Das Außenhandelsbüro der Voestalpine. Gerlinde ist inzwischen Therapeutin am UKH in Salzburg, aber jetzt lässt sie sich für ein Jahr karenzieren, um mit ihrem Fritz nach Asien zu übersiedeln. Highlife für sie – ein tolles Leben für beide.

Während der Fritz als technischer Kaufmann sich um den Außenhandel und den Vertrieb von Voestalpine-Projekten kümmert, besucht Gerlinde die Alliance zum Französischlernen. Gemeinsam wird Tennis gespielt – außerdem gibt es in Singapur viele liebe Menschen aus aller Herren Länder, die bald zu Freunden werden: Engländer, Chinesen, Holländer, Inder. Bei den vielen Essens-Einladungen werden jeweils typische Nationalgerichte aufgetischt. Und wann immer Zeit bleibt, wird gereist. Gerlinde und Fritz besuchen Bali, Indien, Hongkong. Ein herrliches Jahr!

Dann der endgültige Wechsel zurück nach Hause, nach Salzburg. Gerlinde wird leitende Physiotherapeutin am UKH, Fritz arbeitet bei Hydrotechnik in Grödig und dann (und bis zur Pensionierung) als technischer Kaufmann bei der Firma Otis, dem weltweit führenden Unternehmen für Lift- und Aufzuganlagen.

Was den Fritz so liebenswert machte? Natürlich diese bedingungslose Liebe und Fürsorge seiner Gerlinde gegenüber. Dass sie sich mit ihm wunderbar „wegen eines Schmarrns“ streiten, ihn zum Aufbrausen bringen konnte, aber nur für kurze Zeit. Die Versöhnung, auch die Entschuldigung folgte immer auf den Fuß. Dass er immer wusste, was er will. Dass er Gerlindes hervorragender Berater in Finanz- und Steuersachen gewesen ist. Dass man von ihm so viel über Wirtschaft, das Bankwesen, die Technik lernen konnte.

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