Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet

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Kapitel 4 – Eine private Affäre wird zum politischen Konflikt

Beim Hexenprozess gegen Anna Göldi ging es anfänglich nicht um Hexerei und Zauberei, es ging vielmehr um ganz weltliche und durchaus menschliche Vorgänge – um «verbotenen fleischlichen Umgang», wie ausserehelicher Beischlaf damals hiess.

Ausgelöst wurde das Verfahren von Anna Göldi selbst, als sie sich am 26. Oktober 1781 – einen Tag nach ihrer Entlas­sung als Hausangestellte – an Landammann Johann Heinrich Tschudi und Pfarrer Johann Jakob Tschudi wandte und sich über ihren Dienstherrn beklagte. Der Landammann amtierte als Präsident des Chorgerichtes, das über familiäre und sittliche Angelegenheiten entschied, der Pfarrer als gewichtiges Mitglied derselben Behörde. Beide waren oberste Sittenwäch­ter des Landes Glarus.

Der genaue Inhalt der Klage von Anna Göldi ist unklar, da die Akten zu diesem Teil des Verfahrens grösstenteils verschollen sind. Doch offenkundig ist, dass ihre Intervention behördliche Ermittlungen auslöste und sowohl die Magd als auch Doktor Tschudi zu den Vorwürfen sexueller Verfeh­lun­gen und einer ausserehelichen Schwangerschaft mehrmals befragt wurden.

Als der Fall in Gang kam, versah der 34-jährige Doktor Johann Jakob Tschudi bereits hohe Ämter. Er war Mitglied des evangelischen Rates, der die oberste exekutive Gewalt ausübte, vergleichbar mit dem heutigen Regierungsrat. Zudem sass er im Fünfergericht, das über Nachbarstreitigkeiten und Schuldforderungen entschied, sowie im Neunergericht, das zuständig war für Erb- und Eigentumsstreitigkeiten. Und schliesslich war er Mitglied des evangelischen Chorgerichtes. Er gehörte also ebenfalls zu den höchsten Sittenwächtern des Landes.

Umso schwerer wogen die Vorwürfe gegen ihn. Ausge­rechnet dieser angesehene Familienvater, Arzt, Politiker und Richter sollte seine Ehefrau betrogen haben? Und erst noch mit seiner Dienstmagd?

Ehebruch galt nicht nur als anstössig und unstatthaft, sondern als eines der schlimmsten Delikte. Dieses wurde gemäss damaliger Rechtsauffassung meistens nicht von Männern, sondern von Frauen begangen. Die Rechtsprechung ging vor allem von ledigen Frauen als Übeltäterinnen aus, die verheiratete Männer verführten.

Das hatte für diese Frauen – als «Huren», «schlimme Weibs­personen» und «Hudelgesind» beschimpft – schwerwiegende Konsequenzen. Sie mussten zur Unterscheidung von ihren rechtschaffenen Geschlechtsgenossinnen rote Kappen tragen, wurden an den Pranger gestellt oder des Landes verwiesen.

Während die Katholiken an dieser frauenfeindlichen Praxis festhielten, verschärften die Protestanten im 18. Jahrhundert die Ehebruchsregelung für Männer. Nach dem Recht des evangelischen Landesteiles konnten sich auch Männer des Ehebruchs schuldig machen. Männer, die bei Seitensprüngen ertappt wurden, mussten mit harten Geldstrafen rechnen und den Degen, das Ehrenzeichen an der Landsge­meinde, abgeben.

Im Mai 1773 wurde diese Bestimmung sogar noch weiter verschärft. Bedrohlich wirkte sich für den protestantischen Doktor Tschudi ein Beschluss der Landsgemeinde aus, der für Amtsträger eine spezielle Ehebruchsklausel einführte. Seither mussten Ratsmitglieder, die fremdgingen, von allen Ämtern zurücktreten und sie waren generell im Land nicht mehr wählbar.

Für Doktor Tschudi wäre das eine Schmach gewesen. Wäre er des Ehebruchs oder gar der ausserehelichen Zeugung eines Kindes überführt worden, hätte er seine politischen und rich­terlichen Ämter für immer niederlegen müssen – das abrupte Ende seiner politischen Karriere.

Anna Göldi brachte mit ihrer Intervention nicht nur sich selbst und Doktor Tschudi in Bedrängnis, sondern versetzte auch Landammann Tschudi und Pfarrer Tschudi in Aufruhr. Denn die beiden trugen nicht nur den gleichen Nachnamen wie der Arzt, alle drei Männer waren auch sehr eng mitein­ander verbunden.

Der Pfarrer war mit der Familie von Doktor Tschudi verwandt und ihr intimer Vertrauter. Beide hatten den gleichen Urgrossvater, waren also entfernte Cousins. Zudem war der Gottesmann Onkel von Doktor Tschudis Ehefrau, der Bruder ihrer Mutter. Mit der Arztfamilie unterhielt er eine intensive Freundschaft. Er war Pate und geistiger Ziehvater von Doktor Tschudi, hatte ihn seinerzeit getauft und ihn in Griechisch und Latein unterrichtet. Später wurde er auch «Götti» von Susanna, der ältesten Tochter der Arztfamilie.

Weiterer Berührungspunkt: Doktor Tschudi war als Mitglied des Chorgerichtes auch ein Richterkollege von Landam­mann Tschudi und Pfarrer Tschudi. Nun sollten ausge­rech­net diese beiden in einem delikaten Fall gegen ihn ermitteln.

Die Frage, was die Magd aus Sennwald dazu bewogen hat­te, an die obersten Sittenwächter des Landes Glarus zu gelangen, gehört zu den grossen Mysterien des Anna-Göldi-Falles. Warum informierte sie den Landammann und den Pfarrherrn über angebliche Verfehlungen von Doktor Tschudi? Hätte sie nicht damit rechnen müssen, dass sich ihre ­Beschwerde als Bumerang erweisen würde?

Offenbar musste aus Sicht von Anna Göldi etwas Gravierendes vorliegen. Trieb sie Wut, pure Verzweiflung an oder der verletzte Stolz einer Frau, die erniedrigt, missbraucht und vielleicht sogar vergewaltigt worden war?

Der Prozessverlauf wirft eine weitere Frage auf: Warum waren nicht nur Anna Göldi und Doktor Tschudi ein Thema, sondern auch das Kind Annamiggeli? War Annamiggeli Op­fer von Übergriffen geworden? Letzteres zu bejahen, wäre reine Spekulation und geht aus den Akten keinesfalls hervor. Und Doktor Tschudi bestritt stets jeglichen «fleischlichen Umgang» und bezeichnete Göldis Vorwürfe als «teuflische Anspinnungen».

Vermutlich wollte Anna Göldi gar kein förmliches Verfah­ren gegen ihren Dienstherrn, sondern suchte nur vertrauensvoll die Hilfe der beiden Amtsträger. Doch als sie am 26. Oktober 1781 ihr Leid klagte, handelten beide entsetzt und pa­­­nisch. Für den Landammann und den Pfarrer stand nicht nur die Ehre von Doktor Tschudi, sondern auch jene der ­ganzen Aristokratenfamilie und des Landes Glarus auf dem Spiel.

Während Anna Göldi, des Landes verwiesen, auf der Flucht war, verstummten die Gerüchte nicht, wonach die Magd von Tschudi schwanger geworden sei. Darum nahm im Land Glarus der öffentliche Druck auf den Arzt und Politiker von Woche zu Woche zu.

Lange hatte Doktor Tschudi geschwiegen, doch dann ging er in die Offensive und legte sein gesamtes politisches und gesellschaftliches Gewicht in die Waagschale. Am 9. Dezember 1781 bestritt er vor dem evangelischen Rat, die Magd geschwängert zu haben. Zugleich kündigte er an, alle Prozesskosten zu übernehmen und von allen Ämtern zurückzutreten, sollten sich die Vorwürfe gegen ihn bewahrheiten. Die Rettung seiner Ehre gehe ihm «über alles», sagte Tschudi.

Kapitel 5 – Die glarnerische Familien­herrschaft: Herren und Untertanen

Die 13 alten Orte der Eidgenossenschaft waren Oli­garchien, in denen ein paar wenige einflussreiche und vermögende Familien regierten. Normalsterbliche Menschen hatten keine Freiheitsrechte, keine Religions- und keine Gewissensfreiheit. Sie durften ihre Meinung nicht frei äussern, geschweige denn Kritik üben.

Dieses oligarchische Herrschaftssystem praktizierten auch «Landsgemeinde-Demokratien» wie das Land Glarus, das seit 1683 konfessionell gespalten war. Auf evangelischer wie katholischer Seite teilten sich je nur etwa zehn Bürgerfamilien die Macht unter sich auf. Die bekanntesten protestantischen Familien hiessen Heer, Blumer, Tschudi und Zwicky. Die Zwickys besetzten im 18. Jahrhundert die meisten wichtigen Landesämter und wurden zur mächtigsten Familie.

Diese Familien trafen die wichtigsten Entscheidungen in Justiz und Politik. Gewaltenteilung gab es nicht: Mitglie­der des Rates waren in der Rechtsprechung tätig, Richter nahmen auch Regierungsgeschäfte wahr. Der Landammann und obers­te Regierungsvertreter war zugleich höchster Richter und Vorsitzender in den meisten Gerichten.

Wer ein Amt übernahm, behielt es gewöhnlich ein Leben lang und war niemandem ausser Gott Rechenschaft schuldig. Besonders deutlich brachte der Diakon von Schwanden dieses Gottesgnadentum zum Ausdruck, als er in seiner Landsge­mein­depredigt von 1780 die göttliche Ordnung erklärte. Diese unterscheide zwei Klassen von Menschen: die mächtigen «Oberen» und die zu Gehorsam verpflichteten Unterta­nen.

Wie kaum ein anderer verkörperte dieses ständestaatliche Machtverständnis Gottesmann Tschudi, damals der bedeu­tendste evangelische Geistliche im Land Glarus. Als Pfarrer des Hauptortes hatte er eine traditionell starke Stellung. Seit Ulrich Zwingli (1484–1531), der noch vor der Reformation Glarner Pfarrer war zwischen 1506 und 1516, hatte kein anderer Priester das kulturelle und politische Leben des Landes Glarus so geprägt wie der begnadete Kanzelredner und charis­matische Tschudi. Im Jahr des Göldi-Prozesses stieg er zum Camerarius auf, zum obersten Geschäftsführer der evangelischen Landeskirche.

Sein grosses Vorbild war Aegidius, genannt Gilg, Tschudi (1505–1572), der mächtige Übervater der Tschudi-Familie, der als Geschichtsforscher, Wissenschaftler und Politiker zu den bedeutendsten Figuren der Alten Eidgenossenschaft gehörte. Er war Glarner Landammann und eidgenössischer Landvogt in den Gemeinen Herrschaften Sargans und Baden. Zudem unternahm er für die damalige Zeit weite Reisen über die Alpenpässe, besuchte antike Städte wie etwa Florenz oder Rom und entwarf eine für ihre Genauigkeit gerühmte Lan­des­­­karte der Alten Eidgenossenschaft. Seine grösste wissenschaftliche Leistung vollbrachte er als Verfasser des Chronikon Helvetikum, in dem er den heldenhaften Freiheitskampf der Alten Eidgenossen gegen die Habsburger schilderte, angefangen bei der Legende von Wilhelm Tell, über den Rütlischwur bis hin zu den siegreichen Schlachten von Morgarten, Sempach und Näfels. Auch wenn Tschudi die historischen Fakten frei interpretierte und mit Anekdoten und Sagen ausschmückte, ist das «Chronikon» bis heute das bedeutends­te Werk über die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft geblieben. Tschudi begründete damit seinen Ruf als «Vater der Schweizer Geschichte» und legte den Grundstein für den Mythos einer starken und unabhängigen helvetischen Nation.

 

Zweihundert Jahre später führte der Glarner Pfarrherr Camerarius Tschudi, nebenbei ein leidenschaftlicher Geschichts- und Familienforscher, das Erbe des berühmten Übervaters weiter. In zwanzig Bänden beschrieb er die Geschichte des von Gott auserwählten «uralten adelichen Geschlechts». Sei­ne Mission: die Erinnerung an die grosse Lichtgestalt Aegidius Tschudi auferstehen lassen und der Tschudi-Dynastie neuen Glanz und Ruhm verleihen.


Camerarius Johann Jakob Tschudi (1722‒1784). Landesarchiv des ­Kantons Glarus, Glarus.

Doch die Zeit der Familienherrschaft ging ihrem Ende entgegen. Im 18. Jahrhundert bahnten sich als Folge der Aufklä­rung in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen an. Denker wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Voltaire (1694 bis 1778) rüttelten an jahrhundertealten Dogmen und stellten die «gottgewollte» Weltordnung in Frage, die Menschen von Geburt an in Herrscher und Untertanen einteilte. Sie entwarfen neue Gesellschaftsmodelle, die den Menschen ein Mindestmass an demokratischer Mitbestimmung und Grund­rechten zuerkannten. Dazu gehörten etwa die Meinungsäusserungs- und Religionsfreiheit sowie die Rechtsgleichheit: Jede Person sollte – unabhängig von ihrer familiären Abstam­mung und sozialen Stellung – gleiche Rechte haben.

Das revolutionäre Gedankengut breitete sich rasch in ganz Europa aus und fiel auch in der Eidgenossenschaft auf fruchtbaren Boden. Nicht nur das Volk war für die neuen Parolen empfänglich. Es gab auch unter den Aristokraten besonnene Leute wie Gottlieb Emanuel von Haller in Bern (1735–1786), Johann Caspar Lavater (1741–1801) in Zürich oder den Glarner Altlandammann Cosmus Heer (1727–1791), die liberal dachten und gesellschaftliche und politische Reformen begrüssten. Heer war Gründer von Lesegesellschaften, in denen humanistisch gebildete Bürger über die Ideen der Aufklärung diskutierten. Diese freiheitlich gesinnten Aristokraten erkannten, dass Zugeständnisse an das Volk unumgänglich waren und die alte Ordnung mit sturem Festhalten an Macht und Privilegien nicht mehr zu retten war.

Der Grossteil der Machthaber sperrte sich jedoch gegen noch so massvolle Neuerungen. Statt Kompromisse zu schlies­­­sen, krallten sie sich an ihrer Macht fest und setzten alles daran, die Freiheitsbestrebungen im Volk zu unterdrücken. Noch nach der Französischen Revolution von 1789 und fast bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft im Jahr 1798 stellten sich die Regenten auf den Standpunkt, die Herrschaftsverhältnisse hätten sich bewährt und die Forderungen nach persönlicher Freiheit und Demokratie seien «ein Muster von Unsittlichkeit und Verletzung allen Anstandes». Das Volk sei «blind in die kleinsten Freiheitsgenüsse verliebt», klagte der mächtige Pfarrherr und Camerarius Tschudi.

In dieser turbulenten Zeit wurde in der Eidgenossenschaft eine Reihe politisch motivierter Todesurteile gefällt. Je mehr die Herrscher in Bedrängnis kamen, umso mehr benutzten sie die Justiz als Mittel zur Machterhaltung und gingen gegen Regimekritiker unerbittlich vor. Sie liessen wegen Verrates und aufrührerischer Umtriebe unzählige Oppositionelle oder Andersdenkende verfolgen, foltern und hinrichten. Enormes Aufsehen erregte der Fall des wegen Pressedelikten ange­klag­ten Zürcher Pfarrers Johann Heinrich Waser, der 1780 als Landesverräter hingerichtet wurde.

Immer vehementer erhoben andererseits die Menschen in den von eidgenössischen Orten kontrollierten Untertanengebieten ihre Forderungen nach Freiheit und Unabhängigkeit. Sie hatten die Stellung von Knechten und Hörigen, die ihren Herren hohe Abgaben entrichten und Huldigungen entgegenbringen mussten. So zum Beispiel in der Herrschaft Werdenberg im heutigen St. Galler Rheintal, wo die Glarner Vögte mit harter Hand regierten.

Die in unmittelbarer Nachbarschaft von Werdenberg aufgewachsene Anna Göldi nannte die Vertreter der Oberschicht ehrfurchtsvoll «Herren». Die soziale Kluft zwischen ihr und ihrem Dienstherrn Tschudi hätte nicht grösser sein können. Doktor Tschudi war Ratsherr, Mitglied der Ehrenfamilie Tschudi, freier Bürger des Standes Glarus. Anna Göldi war auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung. Eine «fremde Person», eine ledige Magd aus Sennwald, eine Frau ohne Recht und Würde.

Kapitel 6 – Gufenspucken statt Ehebruch: Das Opfer wird zur Täterin

Im Dezember 1781 trat in der Causa Anna Göldi eine überraschende Wende ein. Der Arzt und Richter Johann Jakob Tschudi brachte plötzlich eine neue, mysteriöse Darstellung ins Spiel. Sie sollte ihn entlasten und stattdessen Anna Göldi belasten.

Die neuen Vorwürfe erhob Tschudi gemeinsam mit seiner Ehefrau Elsbeth – und zwar rückwirkend. Sie bezogen sich auf Oktober 1781, als es zur sofortigen Entlassung von Anna Göldi gekommen war. Auf ein Ereignis also, das zum Zeitpunkt dieser Gegenklage schon einige Wochen zurücklag.

Demnach soll im Oktober 1781 die Magd dem Kind Annamiggeli mehrmals Gufen – also Stecknadeln – in die Milchtasse gelegt haben. Und später soll das Kind begonnen haben, diese Gufen und dann auch andere Metallstücke wie Eisendrähte und Nägel auszuspucken.

Zwar waren damit die Vorwürfe wegen Ehebruchs nicht vom Tisch und gaben weiterhin zu reden. Doch die Geschichte von der seltsamen Erkrankung des Kindes rückte mehr und mehr in den Vordergrund und warf ein neues Licht auf die Vorgänge um die Entlassung der Magd. Nach dieser neuen Version der Tschudis haben nicht sexuelle Verfehlungen zum Zerwürfnis mit Anna Göldi geführt, sondern deren Übergriffe auf das unschuldige Kind.

So drehte Doktor Tschudi den Spiess um und schuf eine völlig neue Ausgangslage mit vertauschten Rollen. Der des Ehebruchs und der ausserehelichen Zeugung eines Kindes bezichtigte Arzt und Richter war nicht mehr der Hauptbeschuldigte, er stellte sich jetzt im Gegenteil als Opfer dar. Anna Göldi, Wochen zuvor noch in der Rolle der Anzeigeerstatterin und Klägerin auf «Reparation» beziehungsweise Schadenersatz oder Wiedergutmachung, wurde zur Beklag­ten, zu einer Übeltäterin, die Tschudis Kind Annamiggeli verletzen, vielleicht sogar töten wollte.

Seltsamerweise hatten die Tschudis Wochen zuvor, im Oktober 1781, als diese Vorfälle passiert sein sollen, nicht rea­giert. Warum gelangten die Tschudis nicht schon früher an die Behörden und meldeten die angeblichen schlimmen Übergriffe der Magd auf das Kind? Warum schwiegen sie fast zwei Monate lang über das Drama?

Die Ehefrau des Arztes und Mutter des Kindes äusserte sich erstmals am 13. Dezember 1781 zu den Vorkommnissen – also rund sieben Wochen nach der Entlassung der Magd. Sie schilderte, dass die Magd Annamiggeli mehrmals Gegenstände in die Milchtasse gelegt habe – erstmals am 19. Oktober, eine Woche vor ihrer Entlassung. Zunächst habe die Mutter dem Vorfall keine Bedeutung beigemessen, weil sie gedacht habe, das Kind selbst habe eine Gufe in die Tasse fallen lassen.

In den folgenden Tagen sei sie aber stutzig geworden, weil sich die Vorfälle wiederholten. Innerhalb von fünf Tagen habe sie neunmal Gufen in der Milchtasse von Annamiggeli vorgefunden. Ihr Verdacht sei auf die Magd gefallen, weil die­se in der Küche die Milch gekocht und in die Tassen gegossen habe. Als sie die Magd zur Rede gestellt habe, habe diese den Vorwurf gar nicht ernst genommen und scherzhaft entgeg­net, woher sie denn die Gufen hätte hernehmen sollen – sie hätte ja gar keine Gufen. Ein anderes Mal, als der Dienstherr sie mit dem Vorwurf konfrontierte, habe die Magd geant­wortet: Mit den Händen habe sie es nicht getan, es müsse der Teufel gewesen sein.

Das Kind hatte nach Angaben von Frau Doktor Tschudi Angstzustände. Am Samstag, zwei Tage vor der Entlassung der Magd, sei es um halb sechs Uhr früh wach geworden – «unter grosser Forcht» und unter starkem «Schlottern und Zittern». Es habe um Hilfe geschrien, «es seyen Mannen da», einer in einem «weissen Tschöpli und Bäntzle [Kittel und Rock]». Nach diesem Vorfall habe die Tochter vier Tage nichts mehr zu sich genommen ausser einem Löffelchen Tee.

Elsbeth Tschudi begründete die Entlassung der Magd wie folgt: An diesem Tag habe sich Anna Göldi geweigert, die Frühstücksmilch in die Tasse des Kindes zu giessen. Sie habe dies der Dienstherrin überlassen wollen, damit sie nicht wieder in Verdacht komme, Gufen in die Milchtasse zu legen. Darauf, so Elsbeth Tschudi, habe sie erneut eine Gufe gefun­den, diesmal aber nicht in der Milch, sondern in einem Brotbrocken, den Anna Göldi geschnitten habe. Doktor Tschudi sei wütend geworden, habe der Magd schwere Vorwürfe gemacht und sie noch am gleichen Tag entlassen.

Unmittelbar nach dem Eklat hatten die Tschudis nichts unternommen, sondern geschwiegen. Auf die Frage, weshalb sie sich nicht sofort an die Behörden gewandt hätten, gaben die Eheleute Tschudi an, sie seien im Glauben gewesen, Anna­miggeli habe die «Angriffe» der Magd unbeschadet überstan­den. Erst später hätten sie realisiert, was passiert sei.

Das Ausmass der Krankheit von Annamiggeli wurde gemäss Frau Tschudi erst sichtbar, als das Kind plötzlich Gufen ausgespuckt habe. 18 Tage nach der Entlassung der Magd, also Mitte November, sei «die erste Gufe von dem Kind gegangen». Das Kind habe an einem Tag sechs, später zehn und zwölf und an einem anderen Tag sogar 22 Gufen ausgespuckt, gerade, gekrümmte, kleinere und grössere, insgesamt über hundert Gufen. «Und die meisten Guffen kommen mit dem Spiz zum Mund hinaus» – mit einer Art Husten, gefolgt von Blut.

Tschudis Geschichte des gufenspeienden Kindes wurde immer dramatischer und ausgeschmückter. Nach Darstellung der Eltern spuckte Annamiggeli in den Monaten November und Dezember 1781 nicht nur Gufen, sondern auch Eisendrähte und Nägel aus. Am Tag, an dem das Kind Eisennägel aus dem Mund hergab, sei es fast erwürgt worden und erstickt.

Am 10. März 1782 wurde Elsbeth Tschudi nochmals befragt. In diesem zweiten Verhör erklärte Elsbeth Tschudi, seit dem ersten Verhör vom 13. Dezember 1781 seien noch einige Stecknadeln, ein kleiner und zwei grössere Nägel und dazu drei Stücke Draht aus dem Mund des Kindes gekommen. Annamiggeli habe beim Gufenspeien entsetzliche Schmerzen gehabt und an «gichterischen Zuckungen» gelitten. Seine Glieder seien so starr, dass es weder Arme noch Beine noch den Kopf bewegen könne. Auch sei sein linkes Bein kürzer als das rechte. Das Kind könne nicht selbständig gehen, es müsse getragen werden, beschrieb Elsbeth Tschudi den ge­gen­­über Dezember 1781 deutlich verschlimmerten Gesundheitszustand.

Doktor Tschudi erklärte, er stehe als Arzt vor einem Rätsel. Zu den Symptomen gehörten auch Ohnmachtsanfälle, Schmer­zen in den Gliedern und Krämpfe – vor allem im linken Bein – sowie das Spucken von Metallstücken. Er habe dem Kind zunächst «Palliativmittel» wie Melissen- und Lin­denblütentee verabreicht. Später habe er mit Brechmittel nachgeholfen. Dadurch seien vom Kind «gelbe Materie und Schleim wie Samen» sowie «Materie aus Kupfer» abgesondert worden.

Für Doktor Tschudi stand fest, dass das Gufenspucken und die Krankheit des Mädchens durch die Magd verursacht worden seien. Nur sie habe Milch angerichtet, «und Kühe spucken keine Gufen aus», meinte er lakonisch.

Das Kind Annamiggeliwar damals neun Jahre alt. Es war das Sorgenkind der Familie und galt als ungezogen und verwöhnt. In einem der Verhöre sagte Anna Göldi, Annamiggeli sei «das meisterloseste» der Tschudi-Kinder.

Ein Motiv für eine so hinterhältige und verwerfliche Tat gab es allerdings nicht. Im Gegenteil schien das Verhältnis zwischen der Magd und der Familie vorher ungetrübt. Die Magd hatte ihre Arbeit stets zur Zufriedenheit der Doktorsfamilie verrichtet und zu keinerlei Klagen Anlass gegeben. Auch das Verhältnis zwischen der Magd und dem Kind schien völlig unbelastet.


Annamiggeli Tschudi (1773‒1810), etwa 8-jährig. Landesarchiv des ­Kantons Glarus, Glarus.

Nur einmal sei es zu einem Zwischenfall gekommen, den die Tschudis wie folgt schilderten: Kurz vor ihrer Entlassung seien die Magd und das Kind in der Küche aneinandergeraten. Annamiggeli habe der Magd mehrmals die Haube vom Kopf gerissen, worauf die Magd dem Kind ein «Püffli» versetzt habe. Susanna, die ältere Schwester von Annamiggeli, habe den Vorfall der Mutter gemeldet. Doch diese habe Annamiggeli ungestraft gelassen und stattdessen Susanna dafür getadelt, dass sie Annamiggeli bei der Mutter angeschwärzt habe. Der Vorfall war eine Bagatelle, er wurde aber von den Tschudis im Verlauf des Verfahrens zum Drama und zum eigentlichen Tatmotiv emporstilisiert.

 

Angebliche Zeugen bestärkten die Vorwürfe. Die befrag­ten Personen waren jedoch keineswegs neutral und unab­hängig, sondern Hausangestellte, Verwandte und Freunde der Familie. Peter Tschudi, der Bruder des Arztes, sagte, er habe dem Kind die Gufen «aus den Zähnen herausreissen» müssen, wenn es im «Delirio» gewesen sei. Bei vollem Verstand jedoch habe das Kind die Gufen «in seine Hände wie hinaus gebla­sen» – mit Husten und mit Schleim.

Die Hausangestellte Anna Schuler erklärte, sie habe oft gesehen, wie das Kind mit seinen eigenen Fingern die Gufen aus dem Mund geholt habe. Dabei habe es entsetzlich geschrien. Die Zeugin will zudem beobachtet haben, wie das Kind einen Eisendraht ausgespuckt habe.

Auch Schützenmeister Balthasar Tschudi, ein Freund der Familie, sagte, er habe beobachtet, wie das Kind «Gufen und anderes Zeug» gespien habe.

Nachdem Anna Göldi im Februar 1782 in Degersheim gefangen genommen und nach Glarus geschafft worden war, befand sie sich in einer verzweifelten Lage. Als «fremde Person» aus Sennwald, ohne jegliche fremde Hilfe, sass sie im Gefängnis, belastet mit dem Vorwurf, schwere kriminelle Handlungen am unschuldigen Kind Annamiggeli begangen zu haben. Als Angeklagte in Gefangenschaft realisierte sie, dass sich jedes falsche Wort als verhängnisvoll erweisen könn­te. Darum nahm sie die Vorwürfe gegen Doktor Tschudi zurück und entlastete ihn sogar. Angesprochen auf die Gerüchte in der Bevölkerung, sagte sie am 21. März 1782 im Verhör: «Nein, das ist nicht im Geringsten wahr.» Sie sei nicht schwanger ausser Landes gegangen. Und zwei Tage später ergänzte sie gegenüber der Strafbehörde, Doktor Tschudi habe sie «mit keiner Hand angerührt».

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