Öffentliches Recht im Überblick

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b) Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt und Solidaritätsprinzip

89

In Art. 3 III UA 3 EUV ist zum einen das sogenannte „Kohäsionsziel“ verankert. Mit einer umfassenden Struktur(hilfen)politik versucht die EU, „eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Art. 174 I AEUV). Insbesondere durch verschiedene Strukturfonds stellt die Union in großem Umfang Mittel zur Förderung der Strukturen in schwächeren Gebieten zur Verfügung; dabei handelt es sich jedes Jahr um ein gutes Drittel des EU-Haushaltes (von 2014–2020 zusammen ca. 325 Mrd. €).[17] Die einzelnen Kompetenzen dazu finden sich in Art. 174 ff. AEUV.

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Zum anderen bekennt sich die EU in Art. 3 III UA 3 EUV zur Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Aus diesem unionalen Solidaritätsprinzip folgt der Grundsatz einer ausgeglichenen Verteilung von Lasten ebenso wie von Vorzügen unter den EU-Staaten.[18] So sieht Art. 222 AEUV vor, dass bei Eintritt einer Katastrophe infolge eines terroristischen Anschlags oder eines Naturereignisses in einem EU-Land alle übrigen Mitgliedstaaten (auf entsprechende Anforderung) zur Hilfe verpflichtet sind. Allerdings zeigen die Probleme der Flüchtlingsverteilung auch noch Ausbauspielräume für das Solidaritätsprinzip.

c) Übrige Ziele

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Des Weiteren bekennt sich der EUV in Art. 3 III UA 4 EUV zur Wahrung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt sowie zum Schutz des kulturellen Erbes in Europa. Mit dieser programmatischen Aussage soll Befürchtungen vor einer Überharmonisierung der Union (wofür das EU-Recht allerdings auch keine Grundlage bieten würde) vorgebeugt werden.

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Mit Art. 3 IV EUV wird die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion mit der gemeinsamen Währung des Euro auch auf Ebene der Unionsziele verankert. Damit wird primärrechtlich deutlich gemacht, dass langfristig alle EU-Mitgliedstaaten zum Währungsraum des Euro gehören sollen – auch wenn das angesichts der Eurokrise einerseits und der fortbestehenden nationalen Vorbehalte andererseits derzeit nicht absehbar erscheint. Die Einzelheiten der Wirtschafts- und Währungsunion sind (für die dem Euro beigetretenen Staaten) in Art. 136 ff. AEUV geregelt, insbesondere die Konvergenzkriterien und das für diese geltende Überprüfungs- und Feststellungsverfahren in Art. 140 AEUV.

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Die letzte Zielsetzung gilt dem außenpolitischen Wertefundament in Art. 3 V EUV. Dieses umfasst zunächst einen – wenn man so sagen will – eigennützigen Teil. Dazu gehören der Schutz und die Förderung der eigenen Werte und Interessen sowie der Schutz der eigenen Bürger. Zum anderen aber bekennt sich die EU zu einem umfassenden außenpolitischen Werte- und Zieleprogramm uneigennütziger Art. Danach leistet die Union „einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“.

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Verständnisfragen:


1. Erläutern Sie die Bedeutung der EU-Ziele des Art. 3 EUV. (Rn. 66, 67)
2. Was versteht man unter dem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“? (Rn. 70–74)
3. Inwiefern ist das Ziel des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ problematisch? (Rn. 75–77)
4. Was bedeutet der Begriff des „Binnenmarkts“ i.S.v. Art. 3 EUV? (Rn. 66 f.)
5. Mit welchen Instrumenten versucht die EU, das Binnenmarkt-Ziel zu erreichen? (Rn. 81–84)
6. Wie sind die sozialpolitischen Zielsetzungen gem. Art. 3 III UA 2 EUV in das Gesamtprogramm der EU-Ziele einzuordnen? (Rn. 85)

Anmerkungen

[1]

Das bedeutet, dass die Rechtsbindung nicht („subjektiv“) zugunsten der einzelnen Bürger besteht, von diesen also nicht eingeklagt werden kann.

[2]

Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EU-Verfassungsrecht, EUV Art. 3 Rn. 1-5.

[3]

Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EU-Verfassungsrecht, EUV Art. 3 Rn. 8 f.

[4]

Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EU-Verfassungsrecht, EUV Art. 3 Rn. 15-21.

[5]

Vgl. Hoppe, in Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 806 (Sp. 2 f.)/807 (Sp. 1).

[6]

Hoppe, in Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 806, Sp. 2.

[7]

Hoppe, in: Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 804, Sp. 1.

[8]

BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; vgl. die heutige Regelung in § 80 IRG.

[9]

BVerfGE 123, 267 (358) – Lissabon.

[10]

BVerfGE 123, 267 (411) – Lissabon.

[11]

Art. 2 EWG 1957 hatte den Wortlaut: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“

[12]

Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 7.

[13]

Piepenschneider, in: Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 171 Sp. 1.

[14]

Piepenschneider, in: Bergmann (Hg.), Handlexikon, S. 172 Sp. 2.

[15]

Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EU-Verfassungsrecht, EUV Art. 3 Rn. 27 m.w.N.

[16]

Laut Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EU-Verfassungsrecht, EUV Art. 3 Rn. 32, stammt der Begriff „aus dem Arsenal sozialdemokratischer Wahlprogramme und gewerkschaftlicher Zielsetzungen“, wo er seine Berechtigung hat, während er als Verfassungsbegriff untauglich ist – schon weil die Union keine Kompetenz für Umverteilungsmaßnahmen hat.

[17]

Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 56.

[18]

Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 57.

Erstes Kapitel Europarecht › III. Organe der Union

III. Organe der Union

1. Überblick

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Die Organe der Union sind in Art. 13 I UA 2 EUV aufgezählt. Als EU-Organe gelten demnach das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der (Minister-)Rat, die Europäische Kommission (die in diesem Buch künftig, wie im EUV selbst auch, nur noch als „Kommission“ bezeichnet wird), der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank (künftig: EZB) und der Rechnungshof. In Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben bilden sie gemeinsam das institutionelle Gefüge, in dem die EU ihre Willensbildung, Handlungen und Entscheidungen zu einem gemeinsamen Agieren koordiniert.

 

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Da die Organe keinen gemeinsamen Sitzort haben, sondern auf verschiedene europäische Metropolen aufgeteilt sind (Brüssel, Straßburg, Luxemburg, Frankfurt a.M.), gibt es – jedenfalls formell – keine EU-Hauptstadt. Wegen der relativen Organkonzentration in Brüssel (Rat, Kommission, Parlament zeitweilig) gilt die belgische Hauptstadt aber zumindest als heimliche oder informelle Hauptstadt Europas.[1]

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Daneben gibt es noch weitere Einrichtungen, die aber nicht als Organ i.S.v. Art. 13 EUV anzusehen sind. Dies gilt z.B. für den Ausschuss der Regionen (in dem aus Deutschland die Bundesländer und die kommunalen Spitzenverbände vertreten sind) und für den Wirtschafts- und Sozialausschuss, die jeweils beratende Funktionen gegenüber Parlament, (Minister-)Rat und Kommission wahrnehmen (vgl. Art. 13 IV EUV), aber auch die Europäische Investitionsbank (Art. 308 AEUV) oder das Europäische Polizeiamt (Europol, Art. 88 AEUV).

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Abbildung 11:

Organstruktur der EU


[Bild vergrößern]

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Die Grundstruktur der EU-Organisation ist nicht von der klassischen Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, sondern vom Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ geprägt. Entsprechend der angelsächsischen Tradition von „checks and balances“ tarieren sich die Machtgewichte der verschiedenen Hauptorgane bei gegenseitiger Kontrolle gegenseitig aus, wodurch Gefahren des Machtmissbrauchs abgewehrt werden.[2] Zur Illustration dieses Prinzips werden in der nachfolgenden Übersicht schlaglichtartig die wichtigsten Funktionen und Aufgaben der drei politisch-operativ wichtigsten EU-Organe – EP, (Minister-)Rat und Kommission – gegenüber gestellt.[3] Eine nähere Erläuterung der einzelnen Aufgaben erfolgt dann bei der Darstellung der einzelnen Organe. Durch die jeweiligen Rn.-Verweise werden diese Ausführungen hier bereits verlinkt.

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Abbildung 12: Hauptaufgaben von EP, (Minister-)Rat und Kommission (EU)


Aufgabe EP (Minister-)Rat Kommission
Rechtssetzung Zusammen mit (Minister-)Rat; tlw. aber nur Anhörungsrechte (Rn. 109 ff.) Zusammen mit EP mit Vorrangstellung beim Bes. Gesetzgebungsverf. (Rn. 134 f.) Initiativrecht und delegierte Rechtssetzung nach Vorgaben EP/(Minister-)Rat (Rn. 153 f.)
Budget Beschluss gemeinsam, aber möglicher Durchsetzungsvorrang EP bei Konflikt (Rn. 116 ff., 136) Planaufstellung und -vollzug (Rn. 148)
Wahlen (Kreation) Wahl Kom.-Präsident (auf Vorschlag Europ. Rat), Bestätigung Kommission (Rn. 120) Wahl der Mitglieder des Rechnungshofs (Rn. 138)
Kontrolle Fragerechte, Untersuchungsausschuss, Misstrauensvotum gegenüber Kom. (Rn. 121) Gegenüber Kom. (v.a. Außenhandelspolitik) und Mitgliedstaaten (Haushaltsdisziplin) (Rn. 141) Gegenüber Mitgliedstaaten: Einhaltung EU-Recht durch Vertragsverletzungsverfahren, insbes. faire Wirtschaftsbedingungen (Rn. 149 ff.)
Koordinierung Gesamtkoordinierung EU-Politik (Rn. 133)
Organisation/Personal Festlegung von Statuten, Gehältern u.ä., Bildung von Ausschüssen (Rn. 137 ff.)
Verwaltung (Exekutive) Steuerung der Förder- und Aktionsprogramme sowie der Fonds (Rn. 148)
Außenvertretung Koordinierung der Außenpolitik, Vertragsschluss mit Drittstaaten (Rn. 142) Operative Außenzuständigkeit, Verhandlung von Verträgen mit Drittstaaten (Rn. 155)

2. Europäisches Parlament

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 122-139.

a) Bedeutung und Zusammensetzung

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Das seit 1979 von allen wahlberechtigten EU-Bürgern direkt gewählte Europäische Parlament (EP) ist das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte Organ. Die Abgeordneten des EP sind gem. Art. 14 II UA 1 EUV Vertreter der Unionsbürger. Daher liegt beim EP der Schwerpunkt der demokratischen Legitimation des Handelns der EU.

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Der Charakter des EP ist allerdings nicht der einer einheitlich-gesamteuropäischen Volksvertretung, sondern der eines „Verbundparlaments“.[4] Zwar werden die Abgeordneten einerseits EU-weit (nahezu) zeitgleich direkt gewählt und wirken in identischer Rechtsstellung innerhalb des Parlaments zusammen. Andererseits aber – und daher der Verbundcharakter – handelt es sich bei näherer Betrachtung „nur“ um einen Zusammenschluss von Abordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Am deutlichsten ist dies daran zu erkennen, dass nicht jedem Mitgliedstaat die gleiche Anzahl an Sitzen bezogen auf die Wahlbevölkerung zusteht (vgl. Art. 14 II UA 1 3, 4 EUV) und die Wahl weitgehend nach jeweils nationalen Vorschriften erfolgt (s.u., Rn. 105 f.).

103

Dem EP gehören 705 Mitglieder an,[5] die sich nicht nach herkunftsstaatlichen Gesichtspunkten, sondern nach parteipolitischen Ausrichtungen organisieren (neben der parlamentsüblichen Fachstruktur in Ausschüssen). Die meisten Mitglieder des EP gehören daher staatenübergreifenden politischen Fraktionen an. Um den Fraktionsstatus zu erlangen, müssen sich mindestens 25 Mitglieder aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten (zur Zeit also sieben) zusammenschließen (Art. 33 Nr. 2 GO EP). Die Arbeit des EP wird ganz wesentlich von den zwei großen Fraktionen getragen, die bis 2019 zusammen mehr als die Hälfte aller Abgeordneten umfasst haben (Fraktion der Europäischen Volkspartei und die Progressive Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament).[6] Die eigentliche Integrationsleistung des EP erfolgt innerhalb dieser Parteienfamilien, in denen sprachliche, nationale und politisch-kulturelle Unterschiede (die es auch bei grundsätzlich ähnlicher politischer Ausrichtung gibt) verarbeitet werden.[7]

104

Das EP ist das einzige kontinuierlich arbeitende Organ der EU, dessen Sitz sich auf drei verschiedene Orte verteilt: In Straßburg finden die zwölf monatlichen Plenartagungen statt, während die übrigen Plenarsitzungen sowie alle Ausschusssitzungen in Brüssel abgehalten werden. Die Verwaltung des EP (das Generalsekretariat) hingegen residiert in Luxemburg. Angesichts dieser für die praktische Parlamentsarbeit wenig zuträglichen Situation verwundert es nicht, dass es immer wieder Vorstöße aus dem EP zur Zentralisierung des Parlaments in Brüssel gibt. Da aber die Zuständigkeit für die Festlegung der Organsitze bei den Mitgliedstaaten liegt (Art. 341 AEUV, mit Einstimmigkeitsgebot), wird angesichts der verschiedenen nationalen (v.a. französischen) Interessen dieser kostenintensive und kontraproduktive Wanderzirkus-Charakter[8] wohl noch lange fortbestehen.

b) Parlamentsrechtliche Eckpunkte

aa) Wahlrecht

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Die Abgeordneten werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für fünf Jahre gewählt (Art. 14 III EUV). Bei dieser Aufzählung fehlt nicht zufällig der Wahlrechtsgrundsatz der gleichen Wahl. Denn wie bereits erwähnt, ist die Wahlrechtsgleichheit nicht staatenübergreifend gewährleistet. Vielmehr bekommen die sehr kleinen EU-Staaten eine Mindestzahl von sechs Abgeordneten garantiert, während die Abgeordnetenzahl bei den großen EU-Staaten degressiv proportional abgeflacht wird. Umso größer die Wahlbevölkerung eines Staates ist, desto weniger steigt das nationale Abgeordnetenkontingent an und desto geringer ist das Stimmgewicht des einzelnen Wählers. Zudem ist die Höchstzahl der Abgeordneten auf 96 beschränkt, was für Deutschland als wählerstärkstes Mitgliedsland relevant ist. Damit beträgt das Stimmgewicht eines luxemburgischen Wählers ca. das Zehnfache gegenüber einem deutschen Wähler.[9]

106

Nähere Einzelheiten des Wahlrechts regelt der Direktwahlakt (DWA), wonach eine Verhältniswahl vorgeschrieben und Sperrklauseln bis zu 5 % sowie eine Wahlkampfkostenobergrenze zulässig sind. Da der DWA (trotz des Regelungsauftrags in Art. 223 I AEUV) aber kein umfassendes Wahlrechtsgesetz darstellt, werden alle übrigen Details von den Mitgliedstaaten für ihr jeweiliges Abgeordnetenkontingent (in Deutschland also im Europawahlgesetz) geregelt.

bb) Abgeordnetenrecht

107

Die Rechtsstellung der Abgeordneten ist hauptsächlich im DWA sowie – vor allem – im sekundärrechtlichen Abgeordnetenstatut geregelt (Art. 223 II AEUV). Besonders hervorzuheben sind das Freie Mandat (Art. 2, 3), das Antragsrecht (Art. 5), das Akteneinsichtsrecht (Art. 6), das Recht zur Bildung von Fraktionen (Art. 8), die Diäten- und Versorgungsregeln (Art. 9-18) sowie die Regeln zur Sach- und Personalausstattung (Art. 21, 22). Hinzu kommen noch die an anderer Stelle[10] geregelte Immunität und Indemnität. Das ergänzende deutsche Europaabgeordnetengesetz sieht zudem (nur nationalrechtlich) einen Anspruch auf Wahlvorbereitungsurlaub und ein Zeugnisverweigerungsrecht vor (§§ 4, 6).

 

cc) Geschäftsordnung

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Die jährliche Sitzungsperiode des EP beginnt stets am zweiten Dienstag im März (Art. 229 UA 1 AEUV). Die Kommission hat an allen Sitzungen ein Teilnahme- und Rederecht und ist zur Beantwortung dort gestellter Fragen verpflichtet (Art. 230 AEUV). Die Beschlüsse des EP erfolgen – soweit keine besonderen Mehrheiten vorgeschrieben sind – mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 231 UA 1 AEUV). Mit der Mehrheit seiner Mitglieder gibt sich das EP eine Geschäftsordnung (Art. 232 UA 1 AEUV), die u.a. die Beschlussfähigkeit festlegt (Art. 231 UA 2 AEUV).

c) Hauptfunktionen

aa) Rechtssetzungsfunktion

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Für gewöhnlich gehört die Rechtssetzung zum Kernbestand parlamentarischer Aufgaben, weil das Parlament als Hauptorgan der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) gilt. Das EP war jedoch zunächst lange Zeit ein bloßes Beratungsorgan ohne Entscheidungskompetenzen, bis sich in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon viel getan hat. Deshalb stellt Art. 14 I 1 EUV das EP heute als Mitgesetzgeber auf die Stufe des traditionell in der Gesetzgebung starken (Minister-)Rates.[11]

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Allerdings ist noch nicht alles Gold, was glänzt: Die Rechtssetzungsfunktion des EP unterliegt – jedenfalls bei formaler Betrachtung – nach wie vor Einschränkungen. So verfügt es nur über ein beschränktes Initiativrecht, indem es nicht selbst ein Rechtssetzungsverfahren einleiten kann. Es kann nur die Kommission dazu auffordern, was diese aber (mit Begründungspflicht) auch ablehnen kann (Art. 225 AEUV). Außerdem ist es nur dann und soweit an der Gesetzgebung beteiligt, wie dies primärrechtlich vorgesehen ist. Im politischen Prozess hat es sich jedoch mittlerweile eine dem Rat (weitgegend) ebenbürtige Stellung erkämpft, weshalb es auch bei formal schwächerer Stellung durch informelle Instrumente starken Einfluss nimmt.

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Abbildung 13:

Stufen der Mitwirkung des EP bei der Rechtssetzung


[Bild vergrößern]

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In einer Reihe weiterer Themenfelder liegt die Rechtssetzung ebenfalls noch allein beim (Minister-)Rat, wobei das EP zumindest über (obligatorische) Anhörungsrechte zu beteiligen ist (46 Fälle, z.B. Art. 48 III UA 1 EUV: Vertragsänderungen). Ein Unterlassen einer solchen obligatorischen Anhörung hat die Nichtigkeit des betroffenen Rechtsaktes zur Folge (vgl. Art. 263 UA 2 AEUV).

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Schon deutlich stärker ist die (formale) Rolle des EP, wenn seine Zustimmung zu einem Rechtsakt erforderlich ist. Dies gilt für 21 Fälle, so z.B. beim Beitritt neuer Mitglieder zur EU (Art. 49 UA 1 EUV).

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