Öffentliches Recht im Überblick

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a) Primärrecht

aa) Inhalt

185

Das europäische Primärrecht besteht im Wesentlichen aus „den Verträgen“, also aus dem EUV, dem AEUV und der Grundrechtecharta (GRC). Hinzu kommen als ungeschriebenes Primärrecht die allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. Art. 340 UA 2 AEUV) sowie das Gewohnheitsrecht der Union. In diesen Normen sind die grundlegenden Werte und Ziele, die Organisation und die Willensbildungsprozesse und die Tätigkeitsfelder der Union geregelt. Hierzu gehören insbesondere die Existenz und Aufgaben von EP, (Minister-)Rat und Kommission, die durch das Primärrecht geschaffen wurden, aber auch die Rechtssetzungsverfahren. Außerdem ist das Primärrecht zugleich der Maßstab für alle Rechtsvorschriften auf den unteren Ebenen.

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Zu dieser Verfassungsfunktion des Primärrechts in der EU korrespondiert auf deutscher Ebene das Grundgesetz. Auch hier werden – jetzt auf den deutschen Nationalstaat bezogen – die grundlegenden Werte und Ziele (v.a. Grundrechte, s.u. Rn. 558 ff.), die Organisation und die Willensbildungsprozesse geregelt. Hierzu gehören beispielsweise die Existenz und Aufgaben des Bundestags und Bundesrats, der Bundesregierung oder des Bundespräsidenten, aber auch das (Bundes-) Gesetzgebungsverfahren und die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern.

bb) Verfahren

187

Der Charakter als obere Ebene des Primär- bzw. Verfassungsrechts kommt neben der inhaltlichen Fokussierung auf die grundlegenden „basics“ auch dadurch zum Ausdruck, dass es in einem besonderen Verfahren zustande kommt. Die primärrechtlichen Normen der EU haben den Charakter multilateraler völkerrechtlicher Verträge,[1] die von den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder im (Minister-)Rat verhandelt und anschließend in jedem Mitgliedstaat ratifiziert (also parlamentarisch oder plebiszitär gebilligt) werden müssen. Das Primärrecht kann folglich nicht von EU-Organen selbst geschaffen werden, sondern nur von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“.

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Dieses Verfahren bedingt in jedem einzelnen Mitgliedstaat die Billigung durch das jeweilige nationale Parlament, in manchen Mitgliedstaaten sogar unmittelbar durch das Volk (woran ja der Verfassungsvertrag seinerzeit gescheitert ist, s.o. Rn. 42). Kein Staat, kein nationales Parlament und kein Volk kann dabei zur Zustimmung gezwungen werden. Vielmehr muss jeder Mitgliedstaat nach seinem innerstaatlichen Verfahren aus freien Stücken zustimmen, damit eine primärrechtliche Norm in Kraft treten kann. Dieses Konsens- oder Einstimmigkeitsprinzip führt logischerweise dazu, dass viele Normen des Primärrechts durch einen Kompromisscharakter geprägt sind oder oft zeitlich sehr viel später erlassen werden, als man erwarten würde.

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Auch auf nationaler Ebene sind Änderungen der Verfassung meist an deutlich strengere Anforderungen gebunden. So bedarf eine Änderung des Grundgesetzes einer Zustimmung von 2/3 aller Mitglieder sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat (Art. 79 II GG).

cc) Wirkung

190

Hauptadressat des Primärrechts sind die Mitgliedstaaten, die dieses Recht ja untereinander vertraglich vereinbaren und deshalb völkerrechtlich daran gebunden sind. Normalerweise können sich die einzelnen Bürger nicht gegenüber ihrem Heimat- oder Aufenthaltsstaat auf solche völkerrechtlichen Vereinbarungen berufen. Dennoch geht der EuGH von einer unmittelbaren Geltung primärrechtlicher Normen für jeden Unionsbürger aus, wenn die Norm ohne weitere Voraussetzungen, Vollzugsakte oder Maßnahmen umgesetzt werden kann. Wenn dann diese Norm darüber hinaus inhaltlich mit einer rechtlichen Stärkung der einzelnen EU-Bürger verbunden ist, können EU-Bürger daraus auch Rechte für sich ableiten und gegenüber den Mitgliedstaaten geltend machen. Dies gilt insbesondere für die Grundfreiheiten im AEUV (s.u., Rn. 237 ff.) und für die meisten Grundrechte in der GRC (s.u., Rn. 280 ff.).[2]

b) Sekundärrecht

aa) Inhalt

191

Das Sekundärrecht umfasst alle Normen, die von den EU-Organen in Wahrnehmung ihrer primärrechtlich eingeräumten Zuständigkeiten und im Rahmen des primärrechtlich dafür vorgesehenen Verfahrens erlassen werden. Auf nationaler Ebene entspricht dies den parlamentarisch verabschiedeten Gesetzen, die von Bundestag und Bundesrat ebenfalls in Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlich verbrieften Zuständigkeiten und im Rahmen des im GG vorgesehenen Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet werden.

bb) Handlungsformen

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Bezüglich der Handlungsformen des Sekundärrechts ergibt sich – anders als im nationalen Recht – eine gewisse Vielfalt. Während es nämlich in Deutschland auf dieser Rangstufe nur das einfache Gesetz gibt, kann das Sekundärrecht in Gestalt einer Verordnung (die trotz ihrer begrifflichen Teil-Übereinstimmung keineswegs mit der nationalen Rechtsverordnung auf der dritten Ebene verwechselt werden darf!), einer Richtlinie oder eines Beschlusses auftreten (Art. 288 AEUV). Mit der Empfehlung/Stellungnahme gibt es sogar noch eine vierte Erscheinungsform, die ungeachtet ihrer politisch oft hohen Bedeutung aber ausdrücklich rechtlich unverbindlich ist. Sie kann deshalb nicht wirklich als (sekundär-)rechtliche Norm angesehen werden.

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Abbildung 20:

Instrumente des Sekundärrechts


[Bild vergrößern]

(a) Verordnung

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Die stärkste sekundärrechtliche Kategorie, die der EU zur Verfügung steht, ist die Verordnung (noch einmal: Bitte niemals mit dem ähnlichen Begriff der Rechtsverordnung im nationalen Rechtssystem verwechseln!). Zum einen gilt diese unmittelbar für alle natürlichen und juristischen Personen, die sich im Unionsgebiet aufhalten. Zum anderen haben Verordnungen eine sogenannte generell-abstrakte Wirkung, regeln also unbestimmt viele Fälle für unbestimmt viele Personen. Man kann das auch unter dem Begriff einer „allgemeinen Geltung“[3] zusammenfassen. Mit diesem Gestaltungsinstrument kann die Union daher ein Politikfeld besonders wirkungsvoll in ihrem Sinne gestalten. Wie man sich aber leicht vorstellen kann, ist das Instrument der Verordnung gerade deshalb bei den einzelnen Mitgliedstaaten (und damit im einflussreichen Rat der EU), die natürlich gerne mitgestalten möchten, weniger populär. Ein bekanntes Beispiel für diesen Regelungstyp ist die berühmt-berüchtigte Datenschutzgrundverordnung.

(b) Richtlinie

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Deshalb ist die Richtlinie das praktisch bedeutsamere Instrument des Sekundärrechts – von den EU-Richtlinien haben Sie vermutlich auch schon gehört. Eine Richtlinie gilt (zunächst) nicht für den einzelnen EU-Einwohner, sondern nur für die Mitgliedstaaten. Sie verpflichtet diese (unter klarer Fristsetzung), den Inhalt der Richtlinie in das jeweilige nationale Recht umzusetzen. Die nähere rechtliche Ausgestaltung dieser Umsetzung obliegt dabei dem pflichtgemäßen Ermessen der Mitgliedstaaten, muss aber in rechtlich verbindlicher Weise erfolgen. Daher reicht eine im Sinne der Richtlinie bestehende Verwaltungspraxis ebenso wenig aus wie Verwaltungsvorschriften, die nur verwaltungsintern gelten (vgl. unten, Rn. 893–896).[4]

196

Ausnahmsweise wird auch eine Direktwirkung von Richtlinien für die EU-Bewohner anerkannt, wenn die Richtlinie


nicht fristgerecht oder inhaltlich fehlerhaft umgesetzt worden ist,
inhaltlich unbedingt – also ohne weitere Maßnahmen anwendbar – ist und

Diese Direktwirkung besteht allerdings nur im Bürger-/Staat-Verhältnis (also zwischen einem EU-Bürger und seinem Aufenthaltsstaat), weshalb auch der EuGH eine solche Direktwirkung bei Verpflichtungen von EU-Bewohnern untereinander regelmäßig ablehnt.[6]

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Dieser Umsetzungsmechanismus verfolgt einen doppelten Zweck: Zum einen verbleibt den Mitgliedstaaten – je nach Detaillierungsgrad der Richtlinie – noch ein eigener politischer Gestaltungsspielraum, und zum anderen können die EU-Vorgaben durch die Überführung in die jeweilige (und durchaus unterschiedliche) Rechtskultur und thematisch schon vorhandenen Normen in ihrer Wirkung und Anwendung passgenauer auf das jeweilige europäische Anliegen verwirklicht werden. Der sehr hohe Verbreitungsgrad an Richtlinien hat mittlerweile auch dazu geführt, dass weite Teile des deutschen Rechts unionsrechtlich determiniert sind. Viele Normen, die uns als deutsches Recht erscheinen (etwa im „ur-deutschen“ BGB), beruhen inzwischen auf Vorgaben aus europäischen Richtlinien.

 

198

Dabei wird zwischen Rechtsvereinheitlichung („Vollharmonisierung“) und Rechtsangleichung („Mindestharmonisierung“) unterschieden: Im erstgenannten Fall müssen die Standards einer Richtlinie in allen Mitgliedstaaten einheitlich, also 1:1 umgesetzt werden. Im zweiten Fall dagegen stellen die Standards der Richtlinie nur einen Mindestlevel dar, über den die Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung (in Richtung des Schutzzwecks des Gesetzes) hinausgehen – also strengere Vorschriften erlassen – dürfen.[7]

199

Erfolgt die Umsetzung der Richtlinie nicht bzw. nicht fristgerecht, liegt ein Verstoß des betreffenden Mitgliedstaates gegen seine primärrechtlich festgelegte Umsetzungspflicht vor. Daher leitet die Kommission in diesen Fällen regelmäßig ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Dass dies gar nicht selten ist, zeigt die hohe Verfahrenszahl, die Ende 2018 bei 1571 lag (s.o., Rn. 149 f.) und in vielen Fällen ausstehende Richtlinienumsetzungen betrafen. Außerdem bejaht der EuGH den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, wenn ein EU-Einwohner wegen einer fehlenden oder verspäteten Umsetzung einer Richtlinie einen Schaden erleidet. Berühmt dafür ist das Francovich-Urteil:

200

Beispiel:

Die RL 80/987/EWG verfolgte das Ziel, dass Arbeitnehmer bei Insolvenz ihres Arbeitgebers einen garantierten Anspruch auf zumindest einen Teil ihres Lohnes bekommen. Hierfür sollten die Mitgliedstaaten ein entsprechendes Garantiesystem schaffen. Weil Italien diese Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt hat, konnte der italienische Arbeitnehmer Francovich – dessen Unternehmen Konkurs anmelden musste – diese Garantieleistung nicht in Anspruch nehmen. Der EuGH verurteilte den italienischen Staat, für diese entgangene Garantieleistung zu haften und Francovich den Betrag zu ersetzen.[8]

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Die zentralen Unterschiede bzw. verschiedenen Vorteile von Verordnungen und Richtlinien lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Abbildung 21: Unterschiede und Vorteile von Verordnung und Richtlinie


Verordnung Richtlinie
Wesensmerkmale Unmittelbare Geltung für jedermann in der EU Geltung für die Mitgliedstaaten, die RL in ihr nationales Recht umzusetzen
Vorteile – Höherer und schnellerer Durchsetzungsgrad – Europaweite Einheitlichkeit der Rechtslage – Berücksichtigung tatsächlicher und rechtlicher Unterschiede in den Mitgliedstaaten – Bessere Kompatibilität zum nationalen rechtlichen Kontext – Höhere Akzeptanz

(c) Beschluss

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Im Gegensatz zur Verordnung oder Richtlinie zielt der Beschluss nicht auf eine allgemeine („generell-abstrakte“) Regelung, sondern auf einen ganz bestimmten Fall und meist auch auf einen ganz bestimmten Regelungsadressaten. Er ist damit dem deutschen Verwaltungsakt (ggf. in Form einer Allgemeinverfügung) vergleichbar (s.u., Rn. 897–909).[9] Als Adressat kommen sowohl einzelne Mitgliedstaaten als auch einzelne juristische oder natürliche Personen in Betracht. Je nach Konkretisierungsgrad können sich auch Einzelpersonen auf Beschlüsse berufen, die an Mitgliedstaaten gerichtet wurden.

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Als die EU ein europaweites Umsatzsteuersystem für Güterbeförderungen einführte, erging zugleich ein Beschluss, der den Mitgliedstaaten die Erhebung ähnlicher Abgaben verbot. Die Bundesrepublik Deutschland führte dennoch mit der Straßengüterverkehrssteuer eine solche ähnliche Abgabe ein. Als ein Gütertransportunternehmer zur Bezahlung dieser Steuer herangezogen wurde, setzte er sich mit Hinweis auf den genannten Verbotsbeschluss zur Wehr. Der EuGH hat diesen EU-Beschluss als einen innerstaatlich gültigen Rechtsakt angesehen, weil er ohne weitere Vollzugshandlungen umsetzbar ist. Deshalb durfte sich der Unternehmer auch darauf berufen.[10]

cc) Verfahren

204

Anders als das Recht der ersten Ebene (Primär- oder Verfassungsrecht) wird das Recht von den dafür primär- bzw. verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsorganen im „normalen“ Gesetzgebungsverfahren gesetzt. Auf EU-Ebene handeln hier die Hauptgesetzgebungsorgane EP und (Minister-)Rat, und auf nationaler Ebene Bundestag und Bundesrat (mit einfachen statt qualifizierten Mehrheiten). Die Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 AEUV werden untenstehend näher erläutert (Rn. 216 ff.).

c) Tertiärrecht

205

Das Recht der dritten Ebene wird sowohl in europäischem als auch in nationalem Rahmen von Exekutivorganen erlassen, nämlich von der Kommission (EU) bzw. von der Regierung oder Ministerien (GG). Damit ist eine Durchbrechung der klassischen Gewaltenteilung verbunden, weil die vollziehende Gewalt sich die Vollzugsvorgaben selbst macht. Deshalb kann sowohl in der EU als auch in Deutschland die Exekutive nicht aus eigenem Recht (autonom) Normen erlassen, sondern nur auf besondere Ermächtigung durch höherrangiges Recht (also abgeleitet).

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Zugleich ist diese Rechtssetzungsform inhaltlich an enge Vorgaben der legislativen Gewalt gebunden. Denn eine solche sekundärrechtliche Ermächtigung für eine tertiäre Rechtssetzung muss im Unionsrecht „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich“ festlegen (Art. 290 I UA 2 AEUV). Ähnlich ist dies im GG geregelt, wonach (parlaments-)gesetzliche Ermächtigungen für den exekutiven Erlass von Rechtsverordnungen „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung“ bestimmen müssen (Art. 80 I GG).

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Damit wird die Arbeitsteilung klar: Während die eigentlichen Gesetzgebungsorgane (Rat und EP bzw. Bundestag und –rat) die wichtigen Entscheidungen treffen (müssen), können sie den Erlass von Detailbestimmungen – für die sie den Rahmen vorzugeben haben – den Vollzugsorganen überlassen. Durch diese abgeleitete Rechtssetzungsmöglichkeit soll dem Gesetzgeber ermöglicht werden, sich auf die wesentlichen Fragen konzentrieren zu können und sich nicht mit Einzelheiten unnötig lange aufhalten zu müssen. Die wesentliche Funktion liegt folglich in der Entlastung der Gesetzgebungsorgane.

2. Rechtssetzung

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 212-235.

a) Kompetenzordnung

208

Ein Staat, der kraft seiner Souveränität allzuständig ist, kann sich im Rahmen der Rechtssetzung jedes beliebigen Themas annehmen. Dies ist allenfalls (wie in Deutschland) eingeschränkt durch eine staatsinterne Zuständigkeitsaufteilung zwischen Zentral- und Gliedstaaten. Die EU dagegen als Staatenverbund hat eine solche Allzuständigkeit gerade nicht. Vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sich die Union nur solcher Themen und Politikfelder annehmen darf, für die ihr das ausdrücklich primärrechtlich – durch die Mitgliedstaaten – gestattet ist (Art. 5 I, II EUV).

209

Eine nähere Ausgestaltung erfahren die EU-Rechtssetzungskompetenzen durch die Art. 2-6 AEUV. Danach wird zwischen verschiedenen Kompetenzarten unterschieden:


Die ausschließlichen Kompetenzen stehen der EU allein zu und können von den Mitgliedstaaten nicht mehr beansprucht oder eigenständig wahrgenommen werden. Dies gilt selbst dann, wenn die EU keine Regelung trifft (Art. 2 I AEUV). Eine solche Kompetenzart kennt – mit gleichem Namen – auch die deutsche Kompetenzordnung von Bund und Ländern (s.u., Rn. 480, 484).
Die geteilten Kompetenzen können sowohl von der EU als auch von den Mitgliedstaaten genutzt werden und haben die praktisch größte Bedeutung. Wollen beide Seiten Regelungen erlassen, hat die EU-Kompetenz – wenn der Subsidiaritätsgrundsatz (s.u., Rn. 211) nicht dazwischen kommt – Vorrang vor der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit (Art. 2 II AEUV). Insofern ist diese Kompetenzart mit der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach dem GG vergleichbar (s.u., Rn. 480, 486).
Die Förderkompetenzen der EU können zur Unterstützung, Koordination und Ergänzung von Maßnahmen der Mitgliedstaaten eingesetzt werden (Art. 2 V AEUV). Diese Kompetenzart ist deutlich schwächer, weil die Union an ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot (Art. 2 V UA 2 AEUV) gebunden ist.

210

Diesen verschiedenen Kompetenzarten sind in den Art. 3, 4 und 6 AEUV konkrete Politikfelder zur weiteren Ausgestaltung zugeordnet:

Abbildung 22:

System der EU-Rechtssetzungskompetenzen


[Bild vergrößern]

211

Von besonderer Bedeutung ist sowohl bei den geteilten Kompetenzen als auch bei den Förderkompetenzen der Subsidiaritätsgrundsatz gem. Art. 5 III EUV. Dieses für die EU zentrale Prinzip bedeutet, dass jede Aufgabe nur dann auf einer höheren Ebene erfüllt werden darf, wenn und soweit sie nicht auf einer unteren Ebene mindestens ebenso sinnvoll erfüllt werden kann. Für die EU bedeutet das, dass sie ihre Kompetenzen (soweit sie nicht ausschließlich sind) nur dann wirklich wahrnehmen darf, wenn die Aufgabe bzw. die Erreichung des jeweiligen Vertragsziels nicht bereits auf Ebene der Mitgliedstaaten oder gar auf kommunaler Ebene erfüllt werden kann.

212

Darüber kann es naturgemäß Streit zwischen den verschiedenen Ebenen geben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Mitgliedstaat meint, eine Aufgabe sehr gut selbst und ohne EU lösen zu können, die EU aber eine unionsrechtliche Lösung für erforderlich hält. Daher ist den Parlamenten der Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt, von ihnen „gefühlte“ Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips vor den EuGH zu bringen (sog. „Subsidiaritätsrüge“ gem. Art. 12 lit. b) EUV und Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 AEUV). Denn gesetzliche Regelungen der EU, die gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen, reduzieren ja die Gesetzgebungs- und damit die politischen Handlungsspielräume der nationalen Parlamente, die dafür in ihren Staaten zuständig sind.

 

213

Aus dem Prinzip der Einzelermächtigung folgt logischerweise auch, dass die Union keine sog. „Kompetenz-Kompetenz“ hat.[11] Sie kann also nicht aus eigener Kraft weitere Aufgaben als die ihr bereits Zugewiesenen an sich ziehen. Dieses Recht liegt bei den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, die mit der Übertragung von Kompetenzgebieten auf die EU stets auch ihre eigene Souveränität weiter einschränken.

214

Allerdings räumt Art. 352 AEUV eine sog. „Vertragsabrundungskompetenz“ ein. Diese ermöglicht – jedoch nur innerhalb der „in den Verträgen festgelegten Politikbereiche“ – eine Lückenschließung im System der EU-Rechtssetzungskompetenzen. Voraussetzung dafür ist, dass zur Erreichung der Vertragsziele ein Tätigwerden der Union „erforderlich erscheint“, ohne dass die Verträge der EU die dafür nötigen Detailkompetenzen einräumen. Dann können der (Minister-)Rat (jedoch nur einstimmig),[12] die Kommission und das EP durch einvernehmliches Zusammenwirken diese Kompetenzlücke durch Vornahme der erforderlichen Maßnahme schließen. Ausdrücklich ausgeschlossen sind hierbei allerdings Regelungen, die zur Vereinheitlichung (Harmonisierung) nationaler Vorschriften führen sollen oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreffen (Art. 352 III, IV AEUV).

215

Von dieser Kompetenz wurde in der Vergangenheit weidlich Gebrauch gemacht, etwa bei der Einbeziehung von Drittstaaten in EU-Förderprogramme, beim Erlass wichtiger Vorschriften wie z.B. des Statuts der Europäischen (Aktien-)Gesellschaft oder bei der Schaffung von wichtigen Einrichtungen wie des Solidaritätsfonds der EU.[13] Um aber dem eigentlichen Vertragsänderungsverfahren gem. Art. 48 EUV seinen Anwendungsbereich zu erhalten, hat der EuGH die Abrundungskompetenz bei politisch besonders bedeutsamen Fragen nicht akzeptiert, so z.B. beim ersten Versuch der Kommission einer Etablierung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger.[14]