Die Keusche

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Dolgen (1975)

Dolgen am See.

Nun ist er wieder zu Hause. Doch dieses Zuhause existiert nicht mehr. Zerstörung. Das Jahr 970. Dort drüben liegt seine Vergangenheit, dort drüben aber liegt nicht mehr seine Zukunft. Verbrannte Erde.

Tausend Jahre später …

Leipzig.

Das Telefon klingelte. Ich saß gebeugt über meinen Schreibtisch, blätterte in den „Hethitern“ und knabberte am Apfel, den ich vom Mittagstisch der Betriebskantine herübergerettet hatte. Archäologisches Zeug interessierte mich schon immer.

Ich ahnte nicht, dass mein Leben in diesem Augenblick eine Wende nehmen sollte. Ach es geschah so oft, dass es klingelte, aber es betraf mich nur selten. Es betraf vielmehr meist Herrn Diplomgeophysiker Jörg Bauer, meinen Chef. Er leitete unsere kleine Abteilung – ich war nur Hilfskraft, Geologiefacharbeiterin, was immer man darunter verstehen mochte.

Ohne hinzusehen, grapschte Jörg nach dem Hörer. „Bauer“, grummelte er. Dann hob er den Blick. „Ach Andy.“ Sein Freund offenbar. „Wie kommt’s denn?“ Andreas – wie hieß er doch gleich – hauste in einer anderen Ecke des Betriebes. Ich kannte ihn, selbstverständlich. Ein unscheinbarer Mensch.

„Wem sagst du das!“, antwortete Jörg nach gedehnter Weile. „Schieß los!“

Ich vertiefte mich abermals in das Buch. Schuppiluliuma – Namen hatten die seinerzeit, mein Gott, Schuppiluliuma, Wettergott. Jörg schaute mit gerunzelter Stirn zu mir herüber. Will er was? Jetzt feixte er auch noch. Was gab es denn? Lange Bärte hatten die früher und wahnsinnig spitze Hüte!

Jörg schwieg noch immer. Es ärgerte mich, wenn er mich so anstarrte, das wusste er sehr wohl. Missmutig knallte ich das Buch auf den Tisch.

Jörg zog seine Lippen breit. „Ach was“, sagte er. „Sie hat die Hethiter auf den Tisch geknallt.“ Pause. Dann: „Was glaubst du von mir? Ich lese nur Karl May. Unsre Heike … Na die mit den roten Haaren auf den Zähnen.“ Ich warf ihm einen Radiergummi an den Kopf. „Damit gewinnt sie für uns immer den sozialistischen Wettbewerb.“ Da war es wieder, sein aufdringliches Gemecker! Ich mochte Jörg trotzdem gut leiden, wenn sein Zynismus auch oftmals übers Ziel hinaus schoss.

Endlich nahm er den Blick von mir; seine Miene verfinsterte sich. „Wieder eine Schnapsidee von dir, was? Haust ganz schön auf die Pauke. Was soll da Vernünftiges rauskommen. Reicht nicht mal für wildromantische Entspannung. Na, aber hej, Kumpel!“ Er schwieg eine Weile, dann verdrehte er die Augen, nahm den Hörer von einer Hand in die andere, schob gelangweilt Papier zur Seite und wieder zurück. Mehrmals hob er an zu sprechen, bis es ihm endlich gelang. „Na ja, na gut. Ich hab da vielleicht was im Auge.“ Was ungefähr er im Auge hatte, konnte ich mir denken, denn plötzlich sah er unverwandt zu mir herüber, wenn auch nicht eben begeistert. „Eine Madame vielleicht …“ Pause. Dann: „Emanzipation, mein Lieber, Emanzipation! Ja, ja. Ich geb dir übermorgen Bescheid. Ja, tschüss, Andy. Ich ruf dich an.“

Jörg warf den Hörer auf die Gabel und schaute den schwarzen Apparat missvergnügt an. Dann richtete er seinen verstimmten Blick auf mich, bevor er sein bekanntes spitzbübisches, etwas hinterhältiges Lächeln aufsetzte. „Mann, hat der einen Rochus!“

„Wer denn? Andreas?“

Er griente aus tiefstem Inneren. „Andy, ja“, murmelte er. „Die Russen wieder mal.“

Die Russen, dachte ich. Sie waren alle beide nicht gut auf „die Russen“ zu sprechen, unsere „sowjetischen Spezialisten“. Immerzu pfuschten sie in unsere Arbeit, so war Jörgs Ansicht. Die nannten es allerdings „sozialistische Hilfe“.

„Sie haben ihn wieder mal am Kragen“, erklärte er.

Ich wusste: Das war nicht das erste Mal und dieser Andreas trat ab und zu ins Fettnäpfchen. Denn die Genossen hatten freilich immer recht. Und wer anderer Meinung war, hinterging den „Großen Bruder“ … Die Russen wollten doch nur die Kontrolle behalten …

„Was gibt es denn nun schon wieder?“, fragte ich, wenngleich es mich kaum berührte.

„Ach“, sagte Jörg und winkte ab. Er schwieg eine Weile, dann stöhnte er über den Tisch. „Das ist es nicht.“ Was dann, wollte ich fragen. „Ihm ist wieder mal eine Schnapsidee gekommen. Freilich, weil er es satt hat mit seinen Russen. Er muss mal raus hier, sagt er, weg von den Russen.“

Jörg redete sonst wohl kaum so offenherzig, erst recht nicht über „die Russen“. Aber wir wussten, dass wir einander vertrauen konnten, wenn wir, wie jetzt, allein im Zimmer waren.

„Ja und, was hat er vor?“, fragte ich.

„Stell dir vor: Eine slawische Wallanlage vermessen. Das heißt, die Trümmer natürlich, oder was sonst davon übrig ist. Er will seinen Urlaub dran hetzen. Als wären die Dinge so aus der Welt zu schaffen.“

„Wo?“, fragte ich.

„Dreetz“, antwortete Jörg. „Dolgener See. Wir waren mal mit dem Messtrupp dort.“

„Mit einem seismischen?“

„Klar. Aber er will magnetisch …, verstehst du? Hirngespinst!“

„Lass ihn doch, wenn er sich abreagieren kann.“

„Na ja. Ich soll ihm dabei helfen.“

„Warum nicht?“

„Schwachsinn. Außerdem bräuchten wir einen dritten Mann.“

Das war mir schon klar. Aber dass er geradewegs seinen Blick auf mich fixierte … „Du glaubst doch nicht, dass ich …“, schwante es mir. Mir schoss Röte ins Antlitz. Ich sollte … Alles andere hätte ich erwartet. Nun, er hatte es mir ja noch nicht ins Gesicht gesagt. Wer weiß, was sich hinter seinem Lächeln zusammenbraute. Ich zog mich vor Schreck in mein Schweigen zurück. Nein, das wollte ich nun auf keinen Fall.

„Ich denke vieles, es gehört zu meinem Beruf“, sagte er lächelnd. „Selbstredend habe ich an dich gedacht.“

„Das ist …!“, wehrte ich mich. Obwohl, sollte ich mich nicht geschmeichelt fühlen? Ach was, dieser Andy würde nie einen Nobody wie mich …

„Auch ich könnte immerhin nein sagen“, warf Jörg in meine Gedankengänge. „Da brauchtest du dir keinen Kopf zu machen. Eine Ausrede …“

„Du willst ihn also sitzen lassen.“

„Nein. Ich weiß nicht.“

Wir schwiegen eine Zeitlang: Jeder ordnete die Gedanken in seinem Kopf.

„Ich hab keine Ahnung davon“, sagte ich schließlich.

„Darum bräuchtest du dir keine Sorgen zu machen – wie ich dich kenne.“

„Aber du selbst hast keine Lust, sag’s schon.“

Er wiegte den Kopf hin und her und schwieg. „Es ist eine Zumutung zu verlangen, eine Woche Urlaub daran zu hetzen.“

„Wenn es ihm Spaß macht?“

„Würde es dir denn Spaß machen?“, fragte er hinterhältig.

Was sollte ich dazu sagen? Wie es aussah, erwartete er tatsächlich eine Antwort von mir. So oder so. Am besten so. Wie denn nun? Sollte ich, sollte ich nicht?

„Ich denke, du könntest ganz gut dazu passen“, sagte er.

„Ich?“

Selbstverständlich meinte er es so. Aber ich? Musste ich mich überhaupt entscheiden? Hatte er es nicht schon für mich getan. Nein, eine Bedenkzeit musste ich mir ausbedingen, mochte ich mich innerlich auch schon entschieden haben.

„Und wie willst du das deinem Boyfriend beibringen?“

Meine Güte, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Karl-Heinz! Mein Karl-Heinz! Mein verflossener Karl-Heinz.

Freilich: Das wusste Jörg noch nicht. Man musste ihm ja auch nicht alles auf die Nase binden. Es war aus mit Karl-Heinz, einen Monat schon. Ersatz war noch nicht gefunden. Doch das würde sicher nicht lange mehr auf sich warten lassen. – Jörg? So abwegig war dies nun auch wieder nicht. Ich würde ihn schon zurechtstutzen … Unter diesen Vorzeichen schien es vielleicht nicht mal absurd, wenn ich mich den beiden anschlösse. Ach na ja, Schwamm drüber. Ich lächelte Jörg zu. Er reagierte mit unsicherem Blick. Nun, dass ich solo war, musste ich ihm ja nicht gleich beichten.

„Ich?“, wiederholte ich mit möglichst neutralem Tonfall in der Stimme.

„Du kannst dich doch frei machen, oder?“, fragte er unsicher.

„Weiß ich nicht“, stellte ich in den Raum.

Karl-Heinz? Nein, das wäre kein Hindernis.

Ich hörte eine Woche lang nichts. Das verwunderte mich sehr. Doch ich hatte auch keine Traute, danach zu fragen. Immerhin war ich mir mehr und mehr sicher, das Abenteuer zu wagen; es grummelte in mir, weil es nicht zu einem Entschluss kam. Ich wusste nicht, dass Jörg mich längst als feste Größe verkauft hatte und die ersten Vorbereitungen bereits im Gange waren. Ich hatte währenddessen auch Andreas, Jörgs Freund, zwei oder drei Mal gesehen. Wir wechselten einen flüchtigen Satz, aber nicht mehr. Was Jörg und er aus meinem Schweigen folgerten, verdunkelte sich mir. Allmählich gewann ich den Eindruck, dass sich nichts tat. Eines Tages jedoch brummte Jörg: „Dass er ausgerechnet in Laage Quartier nehmen will! Tote Hose! In Rostock wäre ich zu Hause gewesen.“

„Ihr wollt also doch?“, fragte ich überrascht.

„Na du vielleicht nicht?“, erwiderte er und bekam eine rote Birne. „Du bist fest eingeplant. Zweite Juniwoche.“

Mir fiel ein Stein ins Kreuz. „Ohne mich zu fragen? Das könnt ihr euch abschminken.“

„Ich glaubte, das sei in Papier und Tüten?“, fragte er unsicher.

Ich schwieg, schwieg den lieben langen Arbeitstag. Er selbst duckte sich unter seine beiden Schultern und wartete ergeben auf meine Reaktion. Natürlich kannte er mich sehr wohl und wusste, dass ich nicht Nein sagen würde, wenn er mich mit seinen blauen Augen anhimmelte. Aber ich gab mich stolz und verärgert, bat um einen Tag Bedenkzeit, wenngleich ich mich längst entschieden hatte. Das sagte ich ihm nicht! Sollte er zappeln! Ich fühlte mich immerhin als freier Mensch.

Andererseits vielleicht war es ihm gar recht, wenn sich die ganze Chose in Luft auflöste? Ich kannte ihn doch! Ein wenig die große Lippe schwingen, aber möglichst nichts tun. Mit Ehrgeiz vor den anderen protzen!

 

Am nächsten Tag machte ich Nägel mit Köpfen. Ich rief Andreas an, obwohl ich noch keineswegs in Verbindung mit ihm gestanden hatte, und sagte: „Also wegen der geomagnetischen Vermessung: Ich mach mit.“

Jörg erfuhr es von Andreas, nicht von mir. „Davon bin ich ausgegangen“, sagte er großspurig. „Aber glaub nicht, es ist ein Zuckerschlecken.“ Es klang, als wollte er sich selber trösten. Zwei Tage später kam Andreas zu uns herüber und wir palaverten über das Vorhaben. Wie ich mir schon dachte: Andreas hatte in allen Dingen den Hut auf, Jörg die große Klappe.

Ich verstand zunächst recht wenig: Mangel an Fachchinesisch. Anders war ich ja auch nicht einzuordnen, da mochte Andreas mir so zuversichtlich zulächeln wie es nur anging. Es störte mich nicht. Allerdings verstand ich alles besser, wenn er die Dinge erläuterte. Seine Augen blitzten braungelb und versteckten sich hinter einer einfachen, nicht sehr starken Brille. Ich schaute auf seinen bewegten Mund, ohne ihm recht zuzuhören, bewunderte seine ebenmäßigen Zähne. Ich sah ihn gerne lachen. Ovale Stirn; angenehme, warme Stimme. Ich fand ihn durchschnittlich; von weitem gesehen, hatte ich ihn bisher nicht recht gemocht. Keine Frage, Jörg war attraktiver.

Doch was sollte das alles; es war nicht unser Thema. Davon aber verstand ich zu wenig; was wunder, wenn für mich die männliche Erscheinung in den Vordergrund rückte. Die konnte man ohnehin nicht von jetzt auf gleich einschätzen. Ich ahnte nicht, dass er sich vor mir, der popeligen Auswerterin, genierte und unbehaglich fühlte, ja, innerlich vor meiner unbekannten Weiblichkeit errötete.

Am Ende dieser einstündigen Besprechung war ich mir nicht mehr sicher, den richtigen Entschluss gefasst zu haben. Eintöniges, Windiges blieb zu erwarten und vielleicht zwei mufflige Männer. Ich kam mir höchst überflüssig vor. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen! Na ja, es sollte nur eine Woche dauern, da ließ sich das verkraften.

Indessen, ich wurde mehr oder weniger von den Ereignissen überrannt. Noch in derselben Woche sprach Andreas mit dem Abteilungsleiter Magnetik, mit welchem er einen guten Faden spann und der seit längerem von Andreas’ Vorhaben wusste. Von ihm erhielt er leihweise alle Gerätschaften, die dafür notwendig erschienen: zwei Feldwagen, fünf Fluchtstangen, ein Metermaß, zwei Winkelspiegel sowie ein Holzrahmentableau, worauf man Notizen, Skizzen und die Messprotokolle anklemmen konnte. Desgleichen organisierte er von einer Holzmühle, in der sein Onkel arbeitete, eine größere Zahl von Holzpflöcken, die zur Markierung der Vermessung im Gelände geeignet waren. Damit und ausgerüstet mit unseren persönlichen Dingen würden wir uns am übernächsten Freitag voll bepackt auf den Weg begeben.

Die Feldwaagen erwiesen sich als alte Messgeräte – heute benutzt man wohl Kernpräzessionsmagnetometer oder ähnliches Zeug. Wer wusste, ob die Feldwaagen noch funktionstüchtig waren? Andreas wollte sie am kommenden Wochenende überprüfen. Die Geräte waren so vorsintflutlich, dass sie unser Betrieb bedenkenlos für solch ein Experiment zur Verfügung stellte. Andreas besaß seine Freunde … Im Übrigen eigneten sie sich lediglich als Museumsstücke im Keller des hiesigen Instituts. – Wir konnten also kaum Schaden anrichten. Müssen wir uns eben mit alten Vehikeln behelfen. Ist ja auch nur ein Versuch. Es kommt auf den Spaß an.

Ich muss gestehen, dass ich von all dem herzlich wenig verstand. Böhmische Dörfer. Aber ich kann nicht behaupten, dass mich das „Abenteuer“ nicht reizte … Auch diese Kontroversen zwischen den beiden Kollegen, Männern … Irgendwie lag über all dem eine knisternde Spannung. Jörg mochte ich lieber; den kannte ich. Aber vor Andreas bekam ich doch gehörigen Respekt. Allerdings war mein Anteil ohnehin nur Gehorsam.

„Nun denn“, resümierte Andreas aufatmend. „Hätten wir so weit alles zusammen. Vergesst eure Gummistiefel nicht!“ Daran hätte ich nun mit keinem Wimpernschlag gedacht. „Denkt daran, dass es auch einmal regnen könnte.“

„Wann soll es denn losgehen?“

„Ist Ihnen Samstag früh gegen sieben recht? Ich hole Sie ab, wenn Sie mir Ihre Adresse mitteilen könnten …“

Er erhob sich und reichte mir mit kräftigem Druck die Hand. Kein Wort, dass er mich mit seinem Vorhaben, seinen Erwartungen mal näher bekannt machen möchte. Irgendwie fühlte ich mich doch in die Ecke gestellt. Oder war das nur Ausdruck seiner Befangenheit?

Ich nahm schnell einen Zettel und schrieb ihm mit steiler Schrift meine Adresse auf.

„Wenn sich noch was ändern sollte: Wir sind ja hier nicht aus der Welt.“

Zwei Wochen hatte ich noch Zeit, mich in der wissenschaftlichen Bibliothek unseres Betriebes nach allgemeinverständlichen Werken der Geophysik, insbesondere der Magnetik, umzusehen und mich schlau zu machen; lediglich populärwissenschaftlich natürlich, aber vor allem unter dem Aspekt, wie dies alles im Zusammenhang mit archäologischen Fragen zu verstehen sei. In meinen Gedanken und Vorstellungen packte mich Abenteuerlust. Etwas Neues zu tun, etwas Neues zu Papier zu bringen, von dem noch niemand wusste, das spornte mich an. Die Slawen also, dunnemals.

Auch Jörg sprach in dieser Zeit mehrmals mit Andreas. Er wirkte müde, ja zunehmend desinteressiert. Die Geschichte würde sicherlich aufregender sein, wenn wir erst an Ort und Stelle wirkten. Immerhin erging sich Jörg vor unserem Kollegenkreis in begeisterten Erörterungen darüber, welche hervorragend wissenschaftliche Arbeit er zusammen mit uns aufs Tableau zaubern wolle. Diese Angeberei missfiel mir; aber was schon hatte ich dazu zu sagen. Ein wenig ärgerte ich mich, dass Andreas nicht dagegenhielt.

Insofern war ich sogar glücklich, als der Termin vor der Tür stand. Andreas hatte mich nochmals angerufen, ausdrücklich mich, nicht Jörg! Es war nur Larifari. Doch es hob immerhin mein Wertgefühl und kitzelte mein Selbstbewusstsein. Ich hatte den Eindruck, er wollte meine Arbeit mit Jörgs Anteil auf eine Stufe rücken. Ich nehme im Nachhinein auch an, dass Jörg für das ganze Unternehmen relativ wenig Verständnis aufgebracht hat. Das Quartier in Laage zu sichern, war wohl noch sein größtes Verdienst, Quartier für mich und Andreas. Jörg selbst wollte nach Lage der Dinge lieber nach Rostock zu seinen Eltern fahren. Er verschwand bereits am Donnerstag vor besagtem Samstag eher brummigen Gesichts als begeistert von der Sache. Und mit der vagen Zusicherung, am Samstagabend nochmals vorbeizuschauen für den Fall, dass Komplikationen aufträten.

Ich fühlte mich enttäuscht – verraten und verkauft. Allein gelassen mit Andreas, den ich ja so gut wie nicht kannte. Jörg indessen hätte die Szene sicherlich aufgemischt, das Verhältnis erträglicher gemacht. Ohne Jörg erschien mir Andreas Wenzel wie ein unbeschriebenes Blatt und meine Dienstfertigkeit beschränkt. Aber ich musste mir eingestehen, dass ich eine moralische Verpflichtung fühlte, die sich nicht in irgendwelche Sentimentalitäten verlor.

Es klingelte und ich hob ab. „Schubert.“

„Ist Jörg noch da?“

„Es ist Freitagnachmittag. Natürlich nicht“, sagte ich vorwurfsvoll. „Er fährt normalerweise immer mittags nach Hause.“

„Schade. Ich dachte, er könnte noch paar Holzpflöcke mitnehmen?“

„Er hat davon gesprochen“, sagte ich. „Vielleicht organisiert er welche.“

„Schön, schön“, sagte Andreas. „Sonst alles okay?“

„Alles bestens“, antwortete ich kurz. „Ich werde zusätzliche Stifte einpacken.“

Er wartete eine Weile, ob ich noch etwas ergänzen wollte. Dann flüsterte er verlegen: „Also dann bis morgen. Ich freue mich drauf. Tschüs!“

„Tschüs.“ Ich freue mich drauf! Das konnte ich nun wahrlich nicht behaupten. Mein Gott, neugierig war ich schon. Aber wenn Jörg nun die Biege machte? Es war ihm zuzutrauen.

Ich muss gestehen, in der Nacht zum Samstag schlief ich sehr schlecht. Immer wieder suchten mich Träume heim. Jörg auf der Wiese, Jörg auf dem Hügel, den er mir auf einer vergilbten Fotografie gezeigt hatte. Ich sah das slawische Dorf vor mir. Irgendwo kräuselte Rauch empor, nicht von friedlichen Hütten, sondern von einer Stätte der Zerstörung.

Beinahe hätte ich es verschlafen. Meine Mutter machte mir noch schnell einige Stullen zurecht, dann hörte ich es auch schon hupen. Ich trat ans Fenster und winkte hinunter. Andreas stieg aus und hob grüßend die Hand. Das Herz hüpfte mir vor Aufregung; an meinen Verflossenen dachte ich schon längst nicht mehr. Ich umarmte meine Mutter und hüpfte die Treppe hinunter.

Er lachte; reichte mir zaghaft die Hand – wie immer ein wenig verlegen. Schnell verstaute er mein weniges Gepäck auf den Hintersitzen. Noch ein schnelles Winken zu meiner Mutter am Fenster, dann ging es los. Er fragte nicht einmal nach meinem Schlaf. Und ich hätte ihm so viel über meine Träume erzählen können!

„Ziehen Sie getrost die Jacke aus“, sagte er. „Es könnte warm werden.“

Gehorsam legte ich sie auf die hinteren Sitze. Der alte Wartburg sah nicht sehr gepflegt aus. Wer weiß, wie betagt er war. Als Messfahrzeug reichte er jedoch gewiss hin. „Ich hab eine Bestellung auf Trabi laufen“, sagte er lächelnd, als er meinen musternden Blick bemerkte. „Läuft jetzt schon zwölf Jahre. Im nächsten Jahr ist es so weit.“

Ich nickte verstehend – üblicher DDR-Lebenslauf, sowohl für das Auto wie auch für den Besitzer. Liebhaberstück das, mit obligaten Beulen, Schürfwunden und Rostnarben. Es störte mich nicht im Geringsten, im Gegenteil, ich fühlte mich richtiggehend wohl. Hauptsache, das Gefährt hielt durch. Der Motor jedenfalls brummte zuverlässig vor sich hin.

„Wir fahren am besten Autobahn nach Potsdam, dann ein Stückchen Richtung Hamburg. Irgendwann müssen wir nach Rostock rechts weg“, meinte er. „Ich denke mal, am frühen Nachmittag sind wir dort. Mit Pause.“

„Na, die Sonne lässt sich doch recht bitten“, unterbrach ich später unser Schweigen.

„Ja, sah in Leipzig besser aus. Wir sollten uns nicht verrückt machen lassen. Nach der Elbe wird das Wetter anders.“

Aber es stimmte ihn doch misslaunig. Warum eigentlich? Mich selbst führte diese neblige Stille hinüber in eine andere, freiere Welt; hinüber in eine Natur, die ich in den nächsten Tagen völlig anders zu erleben hoffte. Diese Erwartung war seltsam und machte mich neugierig und glücklich zugleich.

Nachdem wir die Elbe gequert hatten, verschwand der Nebel tatsächlich. Die Sonne stieß hervor und Andreas’ Laune hob sich langsam. Er begann zu pfeifen, trat ein wenig mehr aufs Gas und fragte sofort: „Fahr ich zu schnell?“

„I wo“, sagte ich und lächelte ihm zu.

Dennoch nahm er die Geschwindigkeit ein wenig zurück, wohl auch, um einen unverschämt hupenden Lastwagen passieren zu lassen. „Idiot“, murmelte er. „Müssen immer protzen mit ihren Brummis. Rücksichtslos gegen die Umwelt! Wenn das jeder tun wollte!“ Warum sich aufregen, dachte ich; erst viel später begriff ich, dass dies für ihn keine Kleinigkeit bedeutete.

„Recht wenig Verkehr heute morgen“, sagte ich trotzig und schaute in sein unruhiges Gesicht. Er selbst sah mich kaum an, konzentrierte sich statt dessen verbissen aufs Fahren, wie es schien, oder das vor uns liegende Sommervergnügen.

„Wird schon noch“, behauptete er und lehnte sich steif zurück „Wenn wir erst mal von der Autobahn runter sind …“

Wir mussten Niemegk schon verlassen haben und mir fielen die Lider zu.

„Müde?“, fragte er. „Schlafen Sie getrost. Es stört mich nicht.“

Ich ließ es mir nicht zweimal sagen. Später blieb immer noch Zeit, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen. Wenn mir überhaupt danach war. Doch als ich erwachte, zeigte die Uhr schon knapp eine Stunde später an und wir gondelten mit unserem Auto bereits irgendwo nordwestlich von Berlin, weit hinter Nauen und Potsdam.

„Na, ausgeschlafen“, griente er mich an. Ich schwieg, musste erst wieder zu mir finden. „Entschuldigen Sie.“ Er lehnte sich etwas zur Seite, um meinen Armen auszuweichen, die ich unwillkürlich streckte. „Ich muss mich ohnehin wundern, dass Sie den Mut und die Geduld aufbringen, mit zwei verrückten Burschen Ihren kostbaren Urlaub aufs Spiel zu setzen. Wenn man so will, ist dies doch ein etwas skurriles, mystisches, wenig unterhaltsames Abenteuer für Sie. Nicht jedermanns Geschmack.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte ich etwas schnippisch zurück.

Er zuckte die Schultern und meinte: „Das stelle ich mir so vor. Sie trauen sich nicht, nein zu sagen. Jörgs wegen. Stimmt’s?“

 

„Das wäre nun mein allerletzter Beweggrund!“, erwiderte ich etwas pikiert.

„Entschuldigung.“

„Es macht mir tatsächlich Spaß. Und ich bin neugierig.“

Er sah mich an und atmete tief auf. „Entschuldigung“, wiederholte er. „Dessen bedarf es tatsächlich.“ Ich hätte ihm eine scheuern können. „Ich meine, gibt es denn da niemanden, dem man zu nahe treten könnte? Damit?“

„Ein Freund? Ich muss mich doch wundern, dass Jörg nichts erzählt hat. Nein, es ist längst vorbei. Mich hält niemand.“

„Entschuldigung“, sagte er wiederum.

Ich platzte mit einem kräftigen Lachen heraus. „Kennen Sie denn keine andere Vokabel? Und Sie, habe ich mich vielleicht auch noch zu entschuldigen?“

„Ent…“, begann er, um sofort inne zu halten. Aber er lächelte nur. „Geschieden, ein kleiner Sohn.“

Tut mir leid, wollte ich eigentlich sagen. Im Grunde tat es mir keineswegs leid. Aber das Thema fand ich leidig. Ich rieb die Hände auf meinen Schenkeln und schaute zum Seitenfenster hinaus. Weit weg leuchtete ein erstes Rapsfeld; Baumgruppen huschten vorüber; die Straße zog sich endlos gerade hin.

„Sie hätte es nie und nimmer verstanden“, ergänzte er schließlich.

Nun, innerlich ging es mir wohl nicht viel anders. Aber vielleicht konnte er, vielmehr das vor uns liegende Abenteuer, doch etwas anderes in mir bewegen? Streng genommen war dies jedoch nicht Gegenstand dieser Episode. Nein. Und es schien mir nicht angemessen, über persönliche Dinge zu rechten und zu richten.

„Mich treibt halt die Neugier“, wiederholte ich kurz.

Man sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch und weiß nicht, was man tut, hätte ich beinah hinzugefügt. Stimmte das etwa nicht? Aber hier durfte ich zum ersten Mal miterleben, wie das Zeugs zustande kam, das man dann am Bürotisch zu behandeln und zu interpretieren pflegte, das ein Ergebnis erbrachte, welches andere Leute interessierte und für die Ewigkeit geschaffen schien.

Er wandte sich ab und schwieg eine Weile lang. Gern hätte ich ein wenig geredet, doch ich traute mich nicht, seine Gedanken zu stören. Er schien nicht sehr gern über sich selbst zu sprechen; über seine Arbeit wohl erst recht nicht. Vielleicht waren „die Russen“ daran schuld. Sie hatten sich überall einzumischen. Das war ihr Auftrag, der Auftrag vom „Großen Bruder“. Mit dem Einzelnen kam man meist noch gut aus, mit Popowitsch oder Fjodorov oder Pimski oder Lewitzkaja, wie sie alle hießen. Menschlich mochte ich nichts auf sie kommen lassen. Nein, aber sie kämpften auch mit den Zwängen der Administration. Jörg hatte mir oft genug sein Herz ausgeschüttet. Andreas wollte mir offensichtlich nichts erzählen. Ach, lassen wir das! Hier draußen hatten sie uns nichts vorzuschreiben.

„Am besten, man macht sich keine Gedanken“, sagte ich.

„Sehen Sie“, entgegnete er schnell. „Eben das will ich vermeiden. Jeder sollte sich sehr wohl Gedanken machen.“

„Aber ich verstehe von der Sache nichts.“

„Unsinn, jeder versteht das, wenn er nur will.“

Gut, dachte ich, soll er mir endlich was Näheres über sein Vorhaben zum Besten geben – über unser Vorhaben, korrigierte ich brav in Gedanken. „Jetzt reden Sie gefälligst von Ihren Plänen. Über unser Vorhaben. Beginnen Sie damit, wie Sie auf die Idee gekommen sind.“

Er sah mich an und lächelte. „Ich dachte, das wüssten Sie schon.“

„Alles durcheinander, Herr Wenzel“, sagte ich spöttisch. „Wenn Sie die Güte hätten, von vorn … Eine kleine Lehrstunde? Ich habe einige Hefte und Broschüren bei mir.“

„Oh! Alles hätte ich wohl erwartet – das nicht.“ Er sog tief die Luft ein, begann etwas stockend, doch ich verstand ihn immer besser; ich merkte, dass ihm dies Vergnügen bereitete.

Und als er vorläufig damit zu Ende kam, kurz vor Laage, da fühlte ich mich eigentlich recht gut im Bilde. Ich ordnete meine Vorstellungen, wie dies alles ablaufen könnte. Ich sah schon den See vor mir, die Büsche und Bäume am Ufer, den zentralen Hügel, von dem er sich so viel versprach, und die kaum erkennbaren Burgwallreste, die sich irgendwie in den Messergebnissen widerspiegeln sollten. Er setzte es plastisch vor mich hin. Ich lauschte ergeben und unterbrach ihn nur selten. Im Gegenteil, es bereitete mir Spaß, ihm zuzuhören, seine Begeisterung zu teilen und die künftigen Bilder vor mir erstehen zu lassen. Er erklärte mir Art und Anlage der Messungen, wie die Feldwaagen aufzustellen waren und wie diese funktionierten. Er wolle auch mich die komplizierte Prozedur des Messens üben lassen. Ich fragte, ob er wohl noch bei Troste sei? Feigling, rief er laut unter befreitem Lachen, das könne ich so gut wie er oder Jörg. Ich zeigte ihm einen Vogel. Das Auswerten der Zahlenreihen sei ein Kinderspiel für mich und müsse einfach einer geophysikalischen Facharbeiterin zugemutet werden. Profilanlage senkrecht zum vermuteten Wall. Ein Gamma Genauigkeit; er rechne mit bis zu fünf Gamma starken Anomalien. Er feixte unverschämt. Wird alles, meinte er beschwichtigend.

„Na hoffentlich“, zweifelte ich.

„Richtig spannend wird es erst, wenn wir die Werte in unseren Plan eintragen. Da sind dann Ihre Fertigkeiten noch mehr gefragt.“

„Das kann ich mir schon eher vorstellen“, gab ich zu.

„Pienow hat mich fertig gemacht“, meinte er plötzlich aus heiterem Himmel. „Sie kennen Pienow?“ Ja, kannte ich, dem Namen nach, zumindest den Zirkus darum. Er hatte wohl mit diesem Projekt zu tun gehabt. „Die Art und Weise, wie man mit uns umgesprungen ist, das hat mich fertig gemacht. Ich musste raus aus diesem Saftladen.“ So emotional konnte ich ihn mir gar nicht vorstellen. Nun ja, Jörg hatte mir nebenbei einiges davon offenbart. Es bewegte mich nicht sehr. Doch jetzt schien es auch mich in irgendeiner Weise zu treffen. Ich saß neben ihm und erlebte ihn. „So bin ich auf diese verrückte Idee gekommen“, sagte er.

„Verstehe“, meinte ich süßsauer. „Und ich bin jetzt der Blitzableiter!“ Er zeigte mir die Faust, hielt sich aber zurück und berührte mich nicht. „Entschuldigung“, fügte ich hinzu. Ich fühlte mich unendlich weit weg von diesen Problemen, aber ich glaubte wenigstens ein kleines Quantum seiner Verzweiflung zu verstehen.

Er neigte sich herüber, um mir deutlicher ins Gesicht sehen zu können. „Schwamm drüber“, sagte er dann. „Gestern ist gestern. Suchen wir eine neue Einheit von Arbeit und Geist! Fantasie und Wirklichkeit! Eine neue Herausforderung! Ich möchte selbst erleben, wie man einen historischen Schauplatz in sich aufnimmt, was man dabei empfindet und welche Illusionen man vielleicht dabei zu Grabe trägt. Der Genuss ist zehnmal so hoch wie die Lektüre eines entsprechenden Buches.“

Seltsam, es kam mir keinesfalls abwegig vor, neben ihm im Wagen zu sitzen, seinen Philosophismen zu folgen und einer Begegnung mit den alten Slawen entgegen zu fiebern. Der prickelnde Reiz des Unerforschten. Oder begann sich etwas in mir zu wandeln? Ist es nicht überaus reizvoll zu erleben, was niemandem vorher bekannt gewesen war? Ich lächelte ungläubig in mich hinein.

Wir unterhielten uns hin und her über alle möglichen Dinge, auch über die alten Slawen. Er schien nicht wenig überrascht, dass ich mich, entsprechend meiner bescheidenen Fähigkeiten, schon tiefer mit der Materie beschäftigt hatte. Das mochte er keineswegs vorausgesetzt haben. Aber ich finde es müßig, hier alle Details wiederzugeben, die uns beide in diesem Zusammenhang beschäftigten, über das Messnetz, den Profilabstand, die Messpunktdistanzen, deren Fixierung im Gelände, die Art und Weise des Messfortschritts …

Es ging bereits auf elf Uhr und wir erreichten in nicht allzu ferner Zeit Güstrow. „Hab ich einen Hunger“, sagte ich.

Ich hätte doch nur in eine meiner Stullen beißen müssen. Er jedoch fasste es als Kritik auf und steuerte sogleich die nächste Gaststätte an, die an unserem Wege lag. Das ärgerte mich; ich ärgerte mich auch über mich selbst. Schließlich hatten wir unterwegs schon mal gehalten – als wir tanken mussten.

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