Die Keusche

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Dieser Mensch war keine Fiktion. Dieser Mensch saß neben ihr im Grase und musterte sie. Musste sie ihm nun auch zuhören? Wollte sie das überhaupt? Was blieb von diesem Nachmittag, wenn man sich gegenseitig mit Wehleidigkeiten überschüttete?

„Und dieser Nachmittag reut dich tatsächlich nicht?“, fragte sie.

„Keineswegs“, beteuerte er heftig. „Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können.“

„Ich empfinde es wie ein Gefängnis“, fuhr sie fort. „Glaube mir, es ist wie ein Gefängnis! Und ich hätte heute Freigang. Dann müsste ich wieder zurück in die Dunkelheit und alles wäre vergessen. Lediglich ein schöner Traum … Nur Briefe sind dann noch das Band der Hoffnung.“

„Die Eltern?“, fragte er.

Sie schaute ihn missbilligend an, schüttelte den Kopf. „Nein, nur Gleichgesinnte, Gleichbestallte“, sagte sie.

„Gleichgesinnte?“

„Menschen wie du und ich, Seelen wie ich und du …“

Obwohl sie dies gleichmütig dahingesagt hatte, spürte er sehr wohl den verzagten Unterton. Sie ließ ihre Hand neben die seine sinken. Reinhard betrachtete ihre langen, gepflegten, jedoch schmucklosen Finger. Sie ruhten so nah, dass er ihre verschwenderische Wärme zu spüren vermeinte. Er vermochte nicht zu erkennen, ob Absicht, ob Annäherung hinter dieser Geste lag. Nein, so wie es jetzt aus ihr herausbrach, immer noch herausbrach, konnte sie kaum an Verführung denken. Zu sehr sah er ihre Seele beschäftigt, mit sich selbst und mit ihm, der er ihr zuhörte.

„Allerdings“, schloss sie ihre anders laufenden Gedanken, „allerdings bin ich wohl in diesem Jahr gereift. Insofern hat es mir einiges gegeben, ist es nicht nutzlos gewesen.“ Und wieder ließ sie den sehnsüchtigen Blick in die Weite schweifen.

Er riss sich los von diesem Anblick. „Siehst du“, sagte er. „Was hast du nicht alles schon gewonnen! Warum solltest du verzagen? Es wird sich auszahlen, glaube mir.“

„Wer zahlt es mir aus? Dieser Staat?“, fragte sie. „Er behandelt mich wie ein Zugtier, das seinem Hüh und Hott zu folgen hat!“

Er war über die Maßen erstaunt von der Offenheit, mit der sie sich ihm, einem unbeschriebenen Fremden, so bedingungslos anvertraute. Von einer Lehrerin hätte er mehr Loyalität ihrem Staate gegenüber erwartet. Diese beispiellose Widersetzlichkeit aber erstaunte ihn. „Nichts ist verloren!“, beschwor er sie. „Nicht in zwei Jahren. Selbst wenn es deine Jugendjahre sind, sie können nicht verloren sein. Und du wirst aus dieser Zeit mit erhobenem Kopf und gestärktem Willen hervorgehen! Du wirst Wahrheiten lernen und begreifen.“

Annelie schaute ihn unverhohlen misstrauisch an. Sollte sie sich so getäuscht haben? Solche Phrasen! Solche Allgemeinplätze! Hätte sie ihre Worte, ihren berechtigten Ärger besser bemänteln sollen? „Ja, wir werden wohl sehen müssen …“, sagte sie enttäuscht. „Ach, lassen wir das. Es bringt uns nicht weiter.“

„Sollen wir darüber schweigen?“

„Das nun auch nicht gerade!“, erwiderte sie schnell und warf sich rücklings ins Gras. „Ach, lassen wir das!“

„Ich glaube an die Kraft der Überwindung.“, meinte er.

‚Aber ich allein …‘ Sie sprach es nicht aus, hatte plötzlich Angst davor, Angst, etwas zu zerstören, Angst vielleicht auch, ihm zu schnell nahe zu kommen. Und wie das Dorf sich darüber das Maul zerriss, daran mochte sie erst recht nicht denken.

„Es ist alles halb so schlimm, wenn man es mit den Augen der Hoffnung sieht.“

Darin gab sie ihm wohl Recht. Aber woher diese Hoffnung nehmen? Diese unendliche Weite hier verleitete zu einer Sehnsucht, die nirgendwo ein Ende fand. Annelies Blick folgte dem schwirrenden Flug einer Lerche; sie dachte an „Romeo und Julia“ und lauschte dem unbekümmerten Zwitschern nach. Dieser Vogel trällerte hier, er trällerte in ihrer unmittelbaren Heimat. Zu jeder Zeit, an jedem Ort trällerte er unbekümmert. Sie lehnte sich noch mehr ins Gras zurück, verschränkte die Hände hinter dem Haarschopf und atmete heftig, als müsse dieses Tirilieren und Seufzen auch ihre eigene Brust verlassen. Der Blick tastete den rissigen Birkenstamm empor, verfing sich in den quirligen Blättern, die zwischen den Sonnenstrahlen tanzten. Sie sah nicht zu Reinhard hin, sie wollte sich selbst entspannen.

„Herrliche Luft!“, sagte sie. „Herrlich klare Luft!“

„Ja“, erwiderte er. „Tausendmal ja. Wo genießt man das schon heutzutage.“

Und endlich gab er sich einen Ruck, stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete unverfroren lange ihr Gesicht, ihre Augen mit dieser unendlichen Tiefe. Gespannte Ruhe, ganz Besinnlichkeit. „Ist dir’s nicht leid um die Jugend hier, um die Kinder?“

„Warum, warum auf meine Kosten?“, forschte sie in seinem Gesicht; nein, nicht vorwurfsvoll. „Warum lässt man uns allein? Abgeschoben? Verdammt noch mal, wo ist die vorgegaukelte Unterstützung geblieben? Wo findest du Kultur? Unser Lebensglück bleibt auf der Strecke.“

„Wer sollte da besser Abhilfe schaffen als du selbst?“

„Ich überschätze mich nicht gern“, erwiderte sie indigniert.

„Auf Rosenblüten geht man wohl zur Hochzeit, danach muss jeder sich allein durch alle Dornen kämpfen.“ Ach, er hätte es lieber verschluckt. Aber sie sah ihn weder vorwurfsvoll noch spöttisch an. Sie nahm es so, wie er es gemeint haben musste. Verlegen presste er seine Lippen aufeinander.

„Du bist ein altkluger Mann“, sagte sie schließlich vorwurfsvoll.

„Verzeihst du mir? Du hast all diese Albernheiten zum ersten Mal, noch dazu von mir, gehört?“

Sie schaute ihn verschmitzt an und wälzte sich lachend an seine Seite, so dass sie sich immerfort anschauen konnten. „Allerdings!“, rief sie locker, um gleich darauf ihr vorwitziges Lachen einzufrieren. „Aber sind es wirklich Albernheiten?“ Ihre Augen wanderten plötzlich hin und her, suchten in seinen Pupillen nach Wahrhaftigkeit. „Es ist ein so irrsinnig weiter Weg.“

„Ach Annelie!“, seufzte er zum ersten Mal. „Vielleicht möchtest du nach zwei Jahren dieses Dorf gar nicht mehr missen. Vielleicht hast du übermorgen dieses Gespräch schon längst vergessen.“

„Übermorgen?“, fragte sie bestürzt und schaute über seine Schulter hinweg in die Ferne. ‚Vielleicht hat er Recht‘, dachte sie abermals. ‚Aber nein, nie wird er Recht haben! Mein empfindsames Leben! Ich will es ausleben! Die unerfreulichen Lebensstürme! Ich mag sie nicht. Sollte mein Herz aufgehen können in der Saat, die ich gesät habe? Wer, wenn nicht diese Kinder, wird hier neues Leben schaffen? Ihr Schicksal liegt in meiner Hand! In diesen Kindern wird die Zukunft liegen! Was, hingegen, bedeutet da schon meine egozentrische Zerrissenheit!‘ „Zerrissenheit!“, murmelte sie selbstvergessen.

„Zerrissenheit?“, fragte er nach. „Hast du denn keine Freude an deiner Arbeit?“

„Oh doch!“, seufzte sie. „Aber besteht das Leben allein darin?“

Er schwieg betroffen. „Für mich ist es nicht leichter“, versuchte er einen Neubeginn. Aber dann überkam ihn plötzlich der Eindruck, dass alles schon gesagt sei, dass Wiederholungen ermüdeten, ja sogar misslich aufreizten. Sie ahnte den Grund seines Stockens und war nahe daran, ihm plötzlich die Hand zu streicheln. Doch eine unnennbare Last hinderte sie, ihre Hand zu heben. Er selbst lehnte sich wieder zurück ins Gras, um zu schweigen oder endlich dem Gespräch eine andere, erfreulichere Wendung zu geben. Sie schien berührt von seiner Zurückhaltung, seiner rücksichtsvollen Befangenheit.

„Vielleicht hast du Recht“, gab sie dann leise zu. „Vielleicht.“

Und sie schwiegen beide wieder vor sich hin. Dennoch brachte es sie irgendwie näher zueinander. Seltsam. Es bedurfte keines Blickes, keines neuen Gedankens. Sie meinten beide, ihre Herzen klopfen zu hören, unvermittelt und erschreckend offen. Nahe beieinander. Noch immer jedoch lagen ihre Hände streng und eng nebeneinander. Wie ein Hitzewall legte sich ein Spalt trennender Nachmittagsluft dazwischen. Wer die seine bewegte, musste die andere treffen. Und Reinhard bewegte sie endlich; vergeblich suchte ihn eine Geisterhand davon abzuhalten. Er fühlte sich gefesselt und unwiderstehlich verlockt. Nichts hätte ihn von dieser Macht losreißen können. Leicht fühlte er ihr zartes Flair; ein fast unmerkliches Kribbeln durchlief ihren Körper bis hinauf zu den Schultern. Sie hob die Hand und strich sich unsicher durchs Haar, bevor sie den Arm gesittet fallen ließ. Doch ihre Finger berührten seine Hand nicht mehr. Nein, das nun mochte sie auch nicht! Oder doch? Und sie spürte und sah, wie ihr kleiner Finger unmittelbar neben seinem Handgelenk lag.

„Der Herbst wird schön werden“, murmelte sie lächelnd.

„Ja“, antwortete er zaghaft. „Wollen wir’s hoffen!“

„Ich spür es am Duft“, fuhr sie fort. „Du nicht?“

„Nein.“ Er war verwirrt.

Ihre Melancholie schien verflogen. Sie wandte sich ihm wieder vollen Blickes zu. „Ach, weißt du was“, sagte sie fröhlich. „Du magst immer Recht behalten, immer und ewig. Ich will all diese Widerwärtigkeiten ertragen, wenn nur, wenn nur …“ Sie war sich unschlüssig, ob sie sich erklären sollte. „Wenn nur dies Alleinsein nicht wäre! Ich sollte mich besinnen, Reinhard. Weißt du, eigentlich bin ich dir unendlich dankbar!“

„Wieso, wofür?“, fragte er erstaunt.

Sie setzte sich auf, seufzte, riss abermals einen Grashalm aus und verstummte. Nein, sie wollte keine Antwort geben; mochte er denken, was er wollte. Wenn sie sich bedankte … Er konnte doch nichts Schlechtes vermuten? Sie öffnete ihre Lippen, doch kein Wort drang daraus hervor. Ach ja, flieg, Traurigkeit, flieg hinweg! – Unfassbarer Gegensatz!

„Sollten wir nicht weiter …“, stotterte er.

Sie antwortete ihm noch immer nicht, ließ vielmehr den Blick durch den Rasen schweifen. Schon wollte er sich erheben.

„Die kleinen Käfer!“, murmelte sie und verhielt, im Grase sitzend. „Sie klettern den Halm rauf und runter, ohne ein glückliches Ende zu finden. Ich hab sie nie so vergnügt beobachtet.“

 

„Annelie …“, flüsterte er.

Nichts geschah. Sie schien ihn überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Noch immer träumten ihre Augen, tief im Reich der Halme. Heiß stieg eine Welle von Versuchung in ihm hoch; sie war kaum zu dämpfen. Er wollte sie nicht dämpfen. Die Welt taumelte vor seinem Antlitz und er schloss für Augenblicke die Augenlider. Als er sie öffnete, saß sie noch immer unbeweglich und schaute ihn nicht an. Seine Hand suchte Halt an der benachbarten Birke. An der rissigen Borke. Und seine Lippen bebten. Sie aber betrachtete ihn plötzlich wehmütig, verwundert, mit aufgerissenen Augen.

„Annelie!“

Hastig fasste er sie an den Schultern, als müsse er sie in die Wirklichkeit zurückschütteln. Doch um das Gleichgewicht wiederzufinden, blieb ihren Körpern nichts, als trunken ins Gras zurückzusinken. Seine Augen hingen über den ihren und suchten. Dann senkten sich seine Lippen und drückten ihren Mund. Zaghaft schob sie ihre Hände auf seinen Rücken, als wollte sie ihn nicht wieder von sich lassen. Der erste Augenblick süßen Erschauerns schien eine Ewigkeit anzudauern, ohnmächtig jeden Gedankens, versunken allein in einem unbeschreiblich betäubenden Gefühl, in dem die Welt ringsumher versank … Dann zwei fragende Blicke mit feuchtem Schimmer, ein abermals zögernder Mund und die endlose Umarmung. Versenken in Raum und Zeit. Seine Hände gruben sich tief in den dichten Schopf ihrer weichen, ihrer dichten braunschwarzen Haare. Immer fester umklammerten sie das zitternde Haupt.

Das Summen, der leichte Druck im Ohr verloren sich langsam. Annelie hielt ihre Hände leicht gegen seine Brust gelehnt; sie schaute versunken in seine graublaue Iris, still verharrend. Spielst du mit mir? Doch er bewegte sich kaum, gefesselt von den aufgebrochenen Gefühlen, erschrocken von der Veränderung um ihn her, das Wäldchen vergessend, das Gespräch, die düsteren Gedanken. Er wälzte sich vorsichtig zur Seite und blieb so nahe mit seinen Gedanken und seinem Körper, wie es irgend möglich war. Diese Überraschung überkam sie beide gleichermaßen unwiderstehlich, glückhaft, verwirrend. Wozu jetzt noch Erklärungen? Die Dinge erklärten sich selbst. Waren diese Küsse schon viel gewesen oder wenig? Verschwindendes oder die weite Welt? Wohin wendeten sich ihre Herzen, auch wenn das Glück der Stunde, dieser Minuten, unsterblich schien? Was kam nach diesem Schweigen? Sieg? Hoffnung? Oder versank alles bald in tiefer Vergessenheit?

Zwischen ihren Häuptern flimmerte die Spannung dieses Sommernachmittags. Wohin war all der Kontrast entschwunden? Endlich hob sie leicht den Kopf und setzte zum Sprechen an. Zögernd, den weiten Blick hinaus auf die Stoppelfelder gerichtet, die die Ferne goldgelb schillernd verließen. Ein Blick wie ein Abschied, wie gesättigte Verzweiflung. Annelies Lippen bewegten sich leicht.

„Ich habe noch keinen gefunden, der dieses Schicksal mit mir teilen wollte.“ Er sah sie an, lächelte, dann strich er ihr über das leicht zerzauste Haar. Seine Brust hob sich erleichtert aus der Starre. „Ich … Ich habe einen Ruf zu verlieren“, sagte sie, etwas ironisch.

„Ah!“, kam es über seine Lippen. Er schmunzelte fort, da er spürte, wie es auch sie überkam. Doch ihre Lunge flog, er spürt es, und ihre Brust bebte unter ihrem Atem. Dann sein Flüstern: „Ist es so schlimm, ihn an mich zu verlieren?“

Sie lachte nicht etwa; sie beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn erneut auf den Mund. Dann sog sie die linde Luft ein und schloss die Augen, sekundenlang, erleichtert. Sie genoss diesen Augenblick innerer Unruhe. Als er endlich ihren Kopf zwischen seine flachen Hände nahm, sah sie ihn mit neuer Klarheit an. Er zog den Mund an seine Lippen.

„Ist dir das genug?“

Sie umarmte ihn heftig. „Ich …“

Er legte ihr die Finger auf die Lippen. „Worte sagen so viel, so wenig. Wenn du es nicht spürst, ist alles umsonst. Wir werden noch genug Zeit haben, uns zu erforschen.“

„Ich liebe dich wie mein Leben!“, flüsterte sie verhalten. „Ich muss es einfach sagen, auch wenn du mich nicht hörst.“

„Ich höre dich, Annelie. Um mich her nur Jubel und Unbefangenheit!“

„Aber Reinhard, ich meinte … Du hast … Du bist vielleicht …“

„Nein, nein, ich sah dich das erste Mal und ohne daran zu denken. Es gibt niemanden, der mir ins Gewissen reden dürfte. Und wenn du das meinst: Ja, ich kenne dich! Kann man sich in einer Stunde tiefer kennen lernen?“

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den Ansatz seiner Haare. „Noch vermag ich es nicht so recht zu glauben. Noch immer schlägt mir das Herz, so stürmisch, so verzagt, in ängstlichem Takt.“

Sie küsste seine Stirn, als müsste sie ihre Empfindungen für immer dahinter versiegeln. Dann sprang er auf und zog sie mit einem Ruck empor. „Ach ja!“ Kräftig umspannte er sie mit den Armen und wirbelte sie im Kreise umher, dass sie den Boden unter den Füßen verlor.

Am Horizont verfärbte sich langsam die Sonne. Nur noch eine Handbreit trennte ihre Scheibe vom Erdkreis. Sie liefen eng umschlungen heimwärts, dem angestrahlten Osten entgegen, die Sonne im Rücken. Meilen hinweg hatte sie das gegenseitige Bestaunen geführt; es dämmerte langsam, als sie sich dem Dorfe näherten. Doch sie genossen die Zeit und schlenderten dahin. Wer konnte sie jetzt noch behelligen, wer fürchten lassen! Sie suchten, die kostbare Zeit zu nutzen.

Annelie schmiegte sich still an seine Schulter und er grub immer wieder seine Nase in ihr duftendes, nach Wiese duftendes Haar. Er musste sie küssen, wieder und wieder. Sein heißer Atem umstrich ihr erhitztes Gesicht. Der Knopf am Ansatz ihrer Bluse hatte sich gelöst; seine Hand jedoch war es nicht gewesen; sie hatte keine Absicht spüren lassen. Fiebriges Erschrecken befiel sie, als er es bemerkte, und ihre Augen ruhten ängstlich unter ihren Brauen. Noch war der vergangene Abend nicht aus ihren Gedanken verweht. Wie immer sie Reinhard vertraute: Wie würde er sich verhalten? Diese plötzliche Ängstlichkeit ließ sie verzweifeln. Zerstörte sich alles, was sie erträumt hatte? Entschied nun der Alltag zwischen Glück und Verzweiflung? Ahnte Reinhard denn nicht, dass er sie möglicherweise hinabstieß in Tiefen, die ihm nicht vorstellbar waren? Oder besaß er Willensstärke genug, einem solch verführerischen Ansinnen zu trotzen, es vielleicht gar nicht herbeizusehnen?

Heiß fühlte sie seinen Blick auf dieser Blöße brennen, dort, wo sich der Ansatz ihres Busens zeigte. Verschämt vermied sie, ihm ins Gesicht zu sehen. Aber sie tat es dennoch, tat es eine Ewigkeit lang. Er schien verwirrt, für einen Augenblick verlegen. Als sie ihre Augen senkte, griff er bereits nach ihrem Kragen und knöpfte ihn zu.

„Damit es dir nicht zu frisch wird!“, sagte er und wies auf die untergehende Sonne.

Sie flog ihm um den Hals, sekundenlang, minutenlang, so schien es, mit spürbarem Beben. Er sollte die Tränen nicht sehen.

„Aber Annelie“, flüsterte er. „Annelie, du hättest noch vier Tage Zeit, um mich zu prüfen, zu …“

„Brauche ich sie denn?“

„Noch vier erbärmliche Tage haben wir Zeit!“, wiederholte er traurig.

„Ach Reinhard! Muss ich dich stattdessen nun trösten? Sie sind nicht erbärmlich. Sie sind das Leben, unser Leben!“

Langsam schlenderten sie auf das Dorf zu. Die Konturen der Dächer zeichneten sich bereits hinter dem nächsten Feldrain ab. Er hielt ihren Kopf in seinen Händen und musterte jeden Winkel ihres Angesichts. „Ja, wer sollte sie uns auch stehlen!“, sagte er. „Wer sollte sie stehlen. Ich will jeden Tag bei dir sein, Annelie. Alle sollen es sehen, alle!“

Sie seufzte tief auf. „Ach, Reinhard, welch schönes Geschenk! Niemand wird mehr an mir verzweifeln dürfen. Die Welt ist tatsächlich klein, wenn man sie mit glücklichen Augen sieht! Überall Schönheit, Erhabenheit, Herrlichkeit.“

„Siehst du!“, meinte er lächelnd. „Man muss sich seines Anteils nur vergewissern.“

„Wenn du wegfährst – so traurig dies auch ist – werde ich ein ganz anderer Mensch sein. Glaub mir, der Gedanke an dich ist erhabener als jede Traurigkeit.“

„Was sollte ich sehnlicher wünschen als die Gewissheit, dass du mich niemals vermissen wirst.“

Die Sonne tauchte so schnell hinter den Horizont hinab, als wolle sie sich nach getaner Arbeit davonstehlen. Von Osten her schlich der Dämmer flach über das Land. Dort glänzte inzwischen der Mond in immer hellerem Schimmer. Noch zog sich der Weg scheinbar endlos zwischen den Feldern dahin. Ein angenehmer, erfrischender Wind begleitete sie in diesen Abend, in diese Nacht.

„Ich habe mächtigen Hunger.“

„Gehen wir auf mein Zimmer. Ich habe genug im Kühlschrank. Es reicht für uns beide“, sagte sie, glücklich, weitere Stunden Gemeinsamkeit gewonnen zu haben.

Von fern her tönte leise Tanzmusik. Sie wiegte leicht den Kopf im Rhythmus, nahm seine Arme und ließ sich führen – ein paar Drehungen nur auf dem holprigen Feldweg. Sie schien wie im Elfenreigen über die Erde zu schweben, so leicht wie ein Hauch. Verschwimmend. Die Töne verschmolzen zu sanft auf- und abschwellenden Melodien, die in ihren Gefühlen herantanzten. Mozart, Schubert vielleicht … Wirbelnder Lebensmut, Beethoven …

„Und was beginnen wir jetzt?“, fragte sie innehaltend.

„Als ob wir uns langweilen könnten!“, antwortete er vorwurfsvoll.

Der Weg beschrieb plötzlich eine Wendung und zog sich in weitem Bogen um ein Erlenwäldchen herum, wenigen Findlingen und kurzbeschürzten Hügeln weichend.

„Ich möchte noch nicht heim ins Dorf, Reinhard.“ Sie schmiegte sich an ihn, schien seinen Hunger vollkommen zu ignorieren.

Und? Wollte er denn? Er hatte dies lediglich so dahingeplappert. Wohl wahr, er verspürte leichten Hunger. Welcher Hunger aber quälte ihn mehr? Konnte es für diesen Abend überhaupt ein Ende geben? Noch war der Weg so weit bis Mitternacht! Fest drückte er ihre Schultern.

Dort, wo sich der Weg gabelte, Hügel und Steine, ein Stück Heide freiließ und den Feldern keinen Raum zugestand, dort fanden sie ein geeignetes Plätzchen, um sich ein letztes Mal niederzulassen. Durch die einzelnen, mächtigen Bäume, die dunkel gegen den Himmel starrten, strich auf- und abschwellendes Wispern. Sonst störte kein Laut die sonntägliche Abendstille. Sie plauderten lange und ausgiebig, auf dem Bauche liegend, auf dem Rücken, die Knie umspannt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie sprachen über ihren vergangenen Lebensweg, über das ferne Zuhause und vor allem über ihre gemeinsame Zukunft. Immer wieder aber blieben die Gedanken an diesen ersten Stunden hängen, dem schönsten aller Tage. Sie hatten die Erde wiedergefunden.

Die Nacht war unversehens hereingebrochen. Nun geleitete sie das bezaubernde Licht des Mondes. Als sie – allen Hunger vergessend – spät vor Mitternacht im Dorfe eintrafen, war es ruhig um sie her, unbegreiflich still. Im Hause brannte noch Licht.

„Sie werden sich Sorgen machen.“

„Siehst du!“, flüsterte er.

„Ich werde dich vorstellen, um jedem Geschwätz vorzubeugen!“ Sie sagte es mit Bestimmtheit, aber er fühlte: Irgendwie war es doch auch eine Frage.

„Natürlich“, beteuerte er. „Es wird das Beste sein.“

Sie liefen schnellen Schrittes durch den Vorgarten der Haustür zu. Ihre Finger zitterten, sie konnte den Schlüssel nicht finden. Dann endlich hatte sie ihn aus dem Brustbeutelchen herausgeklaubt. Vernehmlich zog sie, um sicher gehört zu werden, die Tür hinter sich zu..

„Ja“, sagte jemand, als sie zögerlich an der Tür klopfte. „Ja? Herein.“

Annelie öffnete die Tür. Der Bauer stand vor ihr, musterte sie schweigend, musterte den jungen Mann.

„Entschuldigen Sie“, flüsterte Annelie, „entschuldigen Sie, dass ich erst so spät zurückgekommen bin, ohne etwas zu sagen. Das hier ist Reinhard, ein Freund …“ Sie zögerte einen Augenblick. „… Mein Freund“, ergänzte sie dann tapfer.

Der ältliche Mann musterte ihn, als müsse er sich erinnern, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber er nickte nur.

„Er wird mal kurz mit nach oben kommen. Wir möchten noch was essen.“ Wieder nickte der Alte. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht“, erwiderte der Alte und schloss vorsichtig die Tür.

Annelie zog Reinhard die Stufen empor und am Ende des Ganges öffnete sie ihr Kämmerchen. Gemütlich eingerichtet, sagte er sich, genauso hatte Reinhard es sich vorgestellt. Sie hieß ihn sich setzen und bereitete aus dem Wenigen, das noch bis morgen reichen musste, ein köstliches Nachtmahl. Sie saßen und klönten noch, bis die Uhr zwei schlug. Dann kam die erste Stunde des Abschieds und sie geleitete ihn zur Gartentür.

 

„Wir werden uns morgen sehen“, sagte sie entschieden und musste plötzlich kichern. „Nein heute schon! Erschweren wir uns nicht den Abschied! Umso schöner wird unser Wiedersehen sein!“

„Auch wenn es regnet?“

„Verdammt noch mal: Und wenn es schneien sollte!“ Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Jeden Tag!“, sagte sie; schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und lief leichtfüßig zur Haustür zurück.

„Gute Nacht, Liebes.“

„Gute Nacht!“

Zögernd blieb er am Tor stehen, bis sie vollständig im Hause verschwand und der Schlüssel im Schloss knirschte. Er konnte nicht mehr sehen, wie sie sekundenlang die heiße Stirn an den eichenen Pfosten lehnte.

Sie trafen sich jeden Nachmittag und verbrachten die restlichen Stunden der Abende in ausgedehnten Spaziergängen. Am Mittwoch jedoch regnete es. Der Platz unterm Regenschirm hielt nicht lange vor, beide wurden sie ordentlich nass. Obgleich sie nun schon überall zusammen gesehen worden waren – am Dienstag sogar von jenem Burschen, der zum Anlass ihres Kennenlernens geworden war („da hättest du doch was sagen können, Kumpel! Hätt’ meine Finger von der gelassen. Nischt für ungut!“) – obzwar man also fast überall ihre Liaison zur Kenntnis nahm, da trauten sie sich nicht so recht wieder in Annelies Kammer. Sie mochte fürchten, dass die Bäuerin missgünstig reagierte. Schließlich hatte die das Sagen im Haus.

Aber die Wirtin musterte Reinhard nur von oben herab und sagte dann, etwas enttäuscht: „Na ja. Denn is wohl endlich Ruhe, wat!“ Spornstreichs kehrte sie mit schlurfenden Schritten zurück in die Küche, als habe sich damit die Angelegenheit endlich erledigt. Annelie konnte sicher sein, dass die mütterliche alte Frau nunmehr ein waches Auge auf ihre Unantastbarkeit warf.

Die Stunden dieses letzten Abends, bei leiser Musik und einem bescheidenen Diner, würden sie beide wohl nie vergessen! Seltsamerweise trübte keinerlei Traurigkeit über den bevorstehenden Abschied das innige Beisammensein. So sehr waren sie sich sicher, dass diese Trennung nur eine scheinbare Trennung sein konnte. Eines nicht zu fernen Tages würde Reinhard wiederkehren – spätestens im Oktober. Oder sie besuchte ihn zu Hause … Oder noch besser: In Freiberg. Wozu also sollten Tränen fließen? Man wollte glücklich sein, überschäumend, froh und freudig! Festhalten, diesen Augenblick der Glückseligkeit, nur festhalten! Die Ernte dieser Tage reichte hin bis in die Unendlichkeit!

„Denke immer an mich, wenn dich Missmut überkommen sollte!“, sagte er.

Am zeitigen Nachmittag des nächsten Tages stand er, alle Formalitäten im Büro des Messtrupps schon längst erledigt und den Bericht über sein Praktikum in der Tasche, eine gute halbe Stunde zu früh vor ihrem Tor. Sie wollten sich nicht vor aller Welt verabschieden, sie wollten die letzten gemeinsamen Augenblicke für sich allein sein. In einer Stunde würde er mit dem Mannschaftswagen und allen Kumpel, die über die Heimfahrt den Ort für vier Tage verließen, in die nächste Stadt fahren, um dort den nächsten Zug zu nehmen. Sie hatte eben die Schulstunden vorzeitig beendet und rannte, da sie ihn den mergligen Weg zu ihrem Gehöft entgegeneilen sah, stehenden Fußes in seine Arme. Dankbar versenkte sie ihren Blick in seine Augen, da er die Zeit gefunden hatte, eine halbe Stunde, vielleicht etwas mehr, mit einem kurzen Spaziergang bei ihr zu sein.

Sie hakte sich unter und wenig später schlugen noch einmal die Wipfel des nächstgelegenen Wäldchens über ihnen zusammen. Das Rauschen umschmeichelte ihre Einsamkeit.

Als sie in das Dorf zurückkehrten, wartete man bereits auf ihn. Sie blieb in geringer Entfernung stehen und winkte herüber.

„Na“, sagte der Felddienstleiter. „Da wirst du dir wohl deine verdiente Prämie eigenhändig bei uns abholen, wat?“ Die Mannschaft griente.

Dann folgte er ihm zum Auto.

Drüben lief ein kleiner Junge heulend auf Annelie zu. „Der Steffen hat mich gehaut!“

„Warum denn?“, fragte sie.

„Weiß ich nicht. Kann mich nicht leiden.“

„So, so. Wenn er dir wehtut, dann musst du dich wehren!“

Sie schlug die Hand vor den Mund und schaute erschrocken auf das Bübchen hinab, das nicht fassen konnte, was Frau Lehrerin da von sich gab.

Kurz darauf zog der Mannschaftswagen an, bog in eine Kurve ein, in der sie ihm eben noch einmal zuwinken konnte, dann verschwand das grau-rote Gefährt die Dorfstraße entlang.

„Du!“, flüsterten ihre kirschroten Lippen vor sich hin.

Sie sahen es alle. Nur der alte Vermesser, den dies wohl am wenigsten berühren mochte, sagte, keinesfalls erstaunt:

„Sieh mal an, die Keusche!“