Der 7. Lehrling

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Eine Falle und eine seltene Gabe

Grimmig stapfte Milan in der Dämmerung vor sich hin. Er würde es nur mit viel Glück schaffen, dessen war er sich sicher. Mittlerweile kannte er in etwa die Gegend, durch die er ging, und wusste, dass er das Unmögliche möglich machen musste. Zum nächsten Sonnenaufgang würde er sicher nicht ankommen, aber vielleicht schaffte er es bis zum Einbruch der Nacht. Hoffentlich war das nicht zu spät.

Es gab nur eine Möglichkeit: notfalls querfeldein und ohne Pause weitermarschieren. Hinter dem Höhenzug, an dessen ansteigender Flanke er sich gerade befand, war ein Weg, der fast gerade in Richtung Filitosa führte. Wenn alles gut ging, konnte er in zwei Stunden drüben sein. Dann würde er wesentlich schneller vorwärtskommen. Das änderte allerdings nichts daran, dass seine Ankunft am nächsten Tag trotzdem auf Messers Schneide stand.

Die Nacht brach herein. Obwohl er im Wald war, verringerte Milan sein Tempo nicht. Der Mond war aufgegangen und warf geisterhafte Schatten durch die Bäume. Plötzlich ertönte irgendwo links von ihm ein langgezogenes Heulen. Oh nein, nicht auch noch Wölfe!, schoss es Milan durch den Kopf. Das erste Heulen wurde von einer anderen Stelle weiter vor ihm erwidert.

Zum Glück waren die Wölfe offenbar in einiger Entfernung. Wie alle anderen Magier kam zwar auch Milan mit allen Tieren gut aus, aber bei Wölfen konnte man sich nie so ganz sicher sein. Da war es besser, wenn man nicht allein unterwegs war. Hastig lief er durch die weit auseinanderstehenden Buchen und hoffte, bald auf der anderen Seite des Bergkamms anzukommen.

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Das war ein prächtiges Abendessen gewesen! Quentin wollte Finja beim Wegräumen der Sachen helfen, aber sie schickte ihn schlafen. Kaum in seiner Kammer angekommen, fiel Quentin mit kugelrundem Bauch in sein Bett.

Falk und Finja saßen noch gemeinsam am herunterbrennenden Feuer und sprachen leise darüber, was für eine Freude der Junge doch war. Fleißig, höflich und immer hilfsbereit. Sie waren sehr zufrieden mit ihm und mochten ihn sehr. So wie Quentin hätten sie sich auch eigene Kinder gewünscht, die ihnen aber nie vergönnt gewesen waren. Ihre Enttäuschung darüber war lange vorbei, fast vergessen. Finja lehnte sich an Falks Schulter, und gemeinsam betrachteten sie den aufgehenden Mond, der fast voll war. Hoffentlich würde Quentin lange bei ihnen bleiben!

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Endlich ging es wieder abwärts. Ein gutes Stück unterhalb der Stelle, an der er war, konnte Milan schon den Weg als schwach schimmerndes Band vor sich sehen. Er beschleunigte ein wenig und schlitterte den laubbedeckten Hang hinab.

Plötzlich war der Boden unter seinen Füßen verschwunden. Einen Augenblick später schlug er hart auf dem Boden einer tiefen stockfinsteren Grube auf. Laut fluchend rappelte Milan sich hoch und suchte in seiner Gürteltasche nach Zündhölzern. Das hätte ich doch sehen müssen!, schimpfte Milan lautlos vor sich hin. Was bin ich für ein Idiot!

Endlich hatte er ein Zündholz gefunden, riss es an und sah sich um. Jetzt wusste er, warum er vorher nichts gesehen hatte: Er war in eine gut getarnte Wolfsfalle gestürzt! Die Kanten so hoch, dass er sie nicht einmal im Sprung erreichen konnte. Kein Vorsprung, an dem er sich hätte hochziehen können. Die Wände so glatt, dass sie keinen Halt boten. Und die Hölzer, mit denen die Grube abgedeckt gewesen war, so dünn, dass er sie nicht als Behelfsleiter benutzen konnte.

Das Zündholz verlosch. Völlig enttäuscht ließ Milan sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die Wand zurück. Die letzte kleine Chance, die er noch gehabt hatte, um Filitosa rechtzeitig zu erreichen, war wie eine Seifenblase zerplatzt.

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Amina schreckte aus dem Schlaf hoch. Wieder hatte sie das Gefühl, irgendwie mit Milan verbunden zu sein. Er wollte nach Filitosa kommen, konnte aber nicht. Irgendetwas hinderte ihn. Aber was?

Amina versuchte angestrengt, weiter in die Ahnung vorzudringen, aber sie spürte nur Dunkelheit und Milans Enttäuschung.

Fieberhaft überlegte sie, was passiert sein könnte, aber nichts wollte ihr einfallen. Dann hatte sie eine verrückte Idee. Sie hatte zwar gehört, dass eine Gedankenverbindung zwischen Magiern auch über weite Strecken möglich sein sollte, aber in ihrer Lehrzeit war das Thema nur beiläufig erwähnt worden. Natürlich spürte ein magischer Mensch einen anderen, wenn er in dessen Nähe war. Aber so einen gewollten gedanklichen Kontakt über eine große Entfernung hinweg hatten sie nie wirklich behandelt. Selbst ausprobiert hatte sie es sowieso noch nie, aber: Ein Versuch konnte nicht schaden, oder? Schließlich gab es in ihrer Kammer niemanden, der sie auslachen würde, wenn es misslang! Sie rappelte sich in ihrem Bett auf und konzentrierte sich auf ihr Gefühl. Dann versuchte sie, mit Milan in Kontakt zu treten.

Zuerst dachte sie angestrengt an Milans Gesicht, so wie sie es in Erinnerung hatte. Nichts. Dann an seine Arbeit in der Schmiede. Nichts. Sie spürte seine Gegenwart nicht, irgendetwas machte sie falsch. Sie probierte es über Gedanken an die eine oder andere flüchtige Begegnung. Immer noch nichts. Aber Amina gab nicht auf.

Schließlich stellte sie sich die gedankliche Verbindung als einen Weg durch blühende Wiesen vor, an dessen Ende Milan stand. Dann rief sie ihm in Gedanken immer wieder eine Frage zu: Kann ich Dir helfen? ? Kann ich Dir helfen?

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Milan sprang auf und sah nach oben an den Rand der Grube, die sich im Mondlicht deutlich abzeichnete. Da musste jemand sein! Gerade noch hatte er einen Gedanken an Amina gehabt, als er ein Mädchen fragen hörte, ob sie ihm helfen könne.

Aber da oben war nichts. Trotzdem hörte er immer wieder diese Frage. Er rief laut: „Ich bin hier unten in der Wolfsfalle! In der Wolfsfalle! Hier unten!“ Nichts tat sich. Außer, dass er plötzlich eine weitere Frage hörte: Eine Wolfsfalle?

Als er begriff, dass die Stimme nicht von oben kam, sondern in seinem Kopf war, musste Milan sich erst einmal wieder setzen. Dann versuchte er sich auf die Stimme zu konzentrieren. Er schloss die Augen, atmete tief durch und dachte: Wer bist Du?

Auf die Antwort brauchte er nicht zu warten, denn plötzlich sah er in seinen Gedanken mitten auf einer blühenden Wiese Amina vor sich stehen.

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Das Bild in Aminas Gedanken war plötzlich ganz klar. Milan stand vor ihr. Mit zerrissenen, dreckigen Sachen und Abschürfungen an Händen und Knien.

Bist Du verletzt?

Nein, es geht mir ganz gut. Ich bin mitten im Wald in eine Wolfsfalle gestürzt. Ich habe keine Ahnung, wie ich hier herauskommen soll, die Wände sind zu hoch und zu steil! Wie kommst Du überhaupt in meinen Kopf?

Das weiß ich auch nicht so genau. Ich habe mich einfach konzentriert, und irgendwie ging es dann. Wo bist Du?

Von Filitosa aus etwa eine Tagesreise entfernt im Nordosten. Ich werde es nicht rechtzeitig schaffen! Was ist überhaupt bei Euch los?

Das spielt jetzt erst einmal keine Rolle. Wie kann ich Dich finden?

Von Filitosa aus geht ein Weg schnurgerade nach Nordosten. Den kennst Du bestimmt. Wenn der Weg nach etwas über einem Tagesmarsch am Fuß eines Höhenzuges nach Osten abbiegt, bist Du fast da. Ich bin in dem Wald direkt oberhalb des Weges. Ich konnte ihn schon sehen, bevor ich in dieses verdammte Loch gefallen bin!

Hör zu: Ich komme und helfe Dir da raus! Ich weiß noch nicht genau, wann ich da sein kann, aber ich werde kommen. Versprochen!

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Das Bild verblasste und war dann ganz verschwunden. Amina atmete tief durch. Ihr Herz raste, als wenn sie gerade durch das ganze Dorf gelaufen wäre. Sie war klatschnass geschwitzt. War das anstrengend gewesen! Sie griff zu dem Krug mit Wasser auf ihrem Nachttisch, goss sich ein großes Glas ein und leerte es mit langen Zügen.

Was nun? Wie sollte sie zu Milan gelangen? Den Weg kannte sie gut, auch den Höhenzug, von dem Milan gesprochen hatte. Aber es war so weit weg! Zu Fuß über einen Tag, das war unmöglich.

Dann kam ihr die rettende Idee. Im Norden des Dorfes befanden sich auf einer Koppel die Pferde der Magier. Sie würde sich einfach eines ausleihen. Dann konnte sie in wenigen Stunden bei Milan sein!

In Windeseile war sie angezogen und lief hinüber zur Metzgerei. Schnell suchte sie einen Trinkschlauch, ein Seil, etwas Wurst und Schinken und eine Decke zusammen. Hastig schrieb sie ein paar Sätze für ihre Schwester auf ein leeres Blatt Papier. Adina würde es sicher am nächsten Morgen finden, wenn sie nicht rechtzeitig zum Frühstück erschien und ihre Schwester nach ihr suchen kam. Dann löschte sie das Licht und lief in Richtung der Koppel los.

So leise wie möglich führte Amina den Rappen durch das Dorf. Filitosa lag still und friedlich in der Dunkelheit, nur der fast volle Mond beschien den Weg, als sie sich zielstrebig dem nordöstlichen Ausgang zuwandte. Dort angekommen murmelte sie leise den Zugangszauber und verließ das Dorf unbemerkt.

Sie schwang sich auf den Rücken des Pferdes, ließ es erst im Schritt gehen und später, als sie besser sehen konnte, in Trab fallen. Hoffentlich schaffte sie es, bis zur Abendversammlung zurück zu sein!

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„Was? Wohin ist sie? Was für ein dummer Einfall!“, polterte Korbinian los. Adina stand mit rotem Kopf im Türrahmen und drehte das Papier mit Aminas Zeilen in den Händen. Korbinian bewegte schnell die Finger, und an der Wand erschien eine Karte, die den Nordosten von Filitosa zeigte. Milan war als kleiner unbeweglicher Punkt am Höhenzug zu erkennen, ein anderer kleiner Punkt bewegte sich auf dem nordöstlichen Weg darauf zu – Amina.

 

„Schau Dir das an“, forderte Korbinian Adina auf, und zeigte auf die Karte, „das schafft sie nie, bis heute Abend zurück zu sein!“ Aufgebracht stapfte er in seinem Kontor auf und ab. „Was denkt Amina sich dabei? Sie hat wie jeder andere auch einen festen Platz in der Suchmannschaft. Sie kann doch nicht so einfach verschwinden! Wie hat sie überhaupt erfahren, dass Milan dort festsitzt?“

Adina zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht so genau, aber vor ein paar Tagen kam sie spät abends zu mir und erzählte etwas davon, dass sie eine Art von Gedankenkontakt zu Milan gehabt hätte. Ich kann es auch nicht so richtig erklären, sie war an dem Abend sehr aufgeregt.“

Korbinian lief immer noch auf und ab. „Das schafft sie nie und – was hast Du gerade gesagt?“ Er war wie angewurzelt stehen geblieben.

Adina blickte ihn verständnislos an. „Sie war sehr aufgeregt, habe ich gesagt.“

„Nein, vorher. Hast Du gesagt Gedankenkontakt?“

„Ja, sie kam zu mir und sagte, sie hätte irgendeine Verbindung zu Milan gehabt und ...“

„Schon gut, schon gut“, unterbrach sie Korbinian. „Hat sie das vorher schon einmal gehabt?“

„Nicht, dass ich davon wüsste. Ist das denn wichtig?“ Adina war verwirrt.

„Nun, vielleicht. Lass mich jetzt bitte allein, Adina. Ich muss über etwas nachdenken. Richte bitte Samuel aus, er möge Ersatz in der Metzgerei organisieren, bis Amina wieder da ist.“

„Hab ich schon“, unterbrach ihn Adina.

„Sehr gut“, lobte Korbinian den Lehrling. „Und mach Dir keine Sorgen, sie wird sicher bald zurückkommen.“ Mit diesen Worten schob er Adina auf den Gang hinaus.

Als die schwere Eichentür ins Schloss gefallen war, stand Adina noch einen Augenblick überrascht davor. So hatte Korbinian sie noch nie rausgeworfen! Naja, er wird schon seinen Grund haben, dachte sie schließlich und ging los, um in der Bäckerei alles für den Tag vorzubereiten. Als sie gemerkt hatte, dass Amina nicht da war, hatte sie natürlich alles stehen und liegen gelassen. Das Frühstück würde noch eine Weile warten müssen.

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Noch vor Sonnenaufgang war Meara aufgestanden. Sie traf die sechs Hexen- und Zauberergesellen aus ihrem Abschlussjahr wie vereinbart im Speisesaal. Alle sieben hatten am gestrigen Tag eilig ihre Besorgungen abgeschlossen, nachdem sie erfahren hatten, dass sie zusammen die Versammlung vorbereiten sollten. Meara hatte Gereon davon überzeugen können, dass sie ihre Kleidung einige Stunden früher brauchte als ursprünglich abgesprochen. Gereon hatte die Hose und das Oberteil selbst bis weit in den Abend hinein fertiggestellt. Als er dann bei Mearas Unterkunft erschien, um die Sachen zu übergeben, ließ er nicht locker, bis Meara sie anprobierte.

Alles saß wie angegossen. Die Hose eng in der Taille, locker über die Oberschenkel fallend und sich nach unten wieder verengend, sodass sie gut mit den Stiefeln abschloss, die Meara sich ausgesucht hatte. Die kurze Jacke war am Hals weit geschnitten, damit der Kragen ihres Hemdes gut zur Geltung kam. Zur Hüfte hin verengte sich der Schnitt, und betonte Mearas ohnehin schon schlanke Figur zusätzlich. An der Vorderseite war anstatt einer Knopfleiste eine Schnürung mit Lederbändern angebracht. Alle Stellen, die für gewöhnlich stark beansprucht waren – Schultern, Ellenbogen, Gesäß und hintere Oberschenkelseite sowie die Knie – waren anstatt aus Leinen aus einem fast naturfarbenen weichen Leder gearbeitet, das sich unauffällig in den Stoff einfügte. Alles in allem: ein Meisterwerk.

Meara war begeistert. Und als Gereon sie im Licht der Öllampe bat, sich einmal um sich selbst zu drehen, lächelte auch er zufrieden. Ohne jeden Zweifel würde Gereon es einmal sehr weit in seinem Handwerksberuf bringen!

Als Meara so gekleidet am Frühstückstisch erschien, verschlug es ihren männlichen Mitgesellen erst einmal die Sprache. Staunend betrachteten sie die Hexe von oben bis unten. „Vielen Dank, Ihr könnt jetzt weiteratmen“, grinste Meara keck und setzte sich.

Dann wurde der Aufbau der Bestuhlung, des Podestes und anderer Kleinigkeiten durchgesprochen. Samuel würde mit ihnen zufrieden sein.

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An einem kleinen Wäldchen mit einer fröhlich sprudelnden Quelle gönnte Amina sich und dem Rappen eine Pause. Sie betrachtete das treue Pferd. Es graste in der Nähe des Baches, Schaumflocken hatten sich auf dem letzten Stück des Weges an seinem Hals gebildet.

In dem Tempo konnte sie nicht weitermachen. Wenn sie nicht den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen wollte, musste sie das Pferd schonen. Also zwang sie sich trotz ihrer Ungeduld zu einer guten halben Stunde Ruhe.

Obwohl sie seit dem letzten Morgen auf den Beinen war, stellte sich keine Müdigkeit ein. Amina war viel zu aufgeregt. Die ganze Zeit kreisten ihre Gedanken um Milan und ob er sich nicht vielleicht doch verletzt haben könnte. In Gedanken schalt sie sich eine dumme Pute, weil sie vergessen hatte, Verbandszeug mitzunehmen. Immerhin wuchsen in der Nähe der Quelle einige nützliche Kräuter, die sie für alle Fälle einsammelte.

Dann nahm sie ihren Trinkschlauch, goss den Inhalt über den Hals des Pferdes und wusch den Schweiß ab. Sie füllte den Schlauch an der Quelle neu und machte mit den Flanken weiter, so lange, bis sie das Gefühl hatte, dass der Rappe wieder einigermaßen erfrischt war. Dann schwang sie sich auf seinen Rücken, tätschelte ihm noch einmal den Hals und setzte ihren Weg nach Nordosten fort.

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Falk stand in Quentins Kammer und lachte. „Was ist, Du Langschläfer? Willst Du den ganzen Tag im Bett verbringen?“ Quentin öffnete verschlafen die Augen. Dann setzte er sich mit einem Ruck und einem schuldbewussten Gesicht auf. „Wie spät ist es? Wie lange habe ich verschlafen?“

„Immer ruhig mit den jungen Pferden!“ Falk lachte immer noch, und langsam wich die Angst von Quentin, er könnte etwas falsch gemacht haben. „Ich hatte gedacht, wir könnten heute mit dem Gespann aufs Land fahren und ein Picknick machen. Aber wenn Du lieber im Bett bleiben willst ...“

Da dämmerte Quentin endlich, dass Sonntag war. Dass sie heute nicht arbeiten mussten. Und dass Falk schon am gestrigen Abend von einer Überraschung gesprochen hatte.

Picknick! Quentin sprang aus dem Bett. „Ich bin sofort unten!“, rief er und griff nach seinen Sachen.

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Milan hatte Rückenschmerzen. Die Nacht über hatte er in einer unbequemen Haltung auf dem kalten Boden der Grube versucht zu schlafen. Dazu kam ein ziehender Schmerz in seinem linken Knöchel. Offensichtlich war sein Sturz in die Wolfsfalle doch nicht ganz ohne Folgen geblieben.

Nach dem Licht, das von oben in sein Gefängnis fiel, konnte er abschätzen, dass es ungefähr Mittag sein musste. Gegessen hatte er schon seit dem vergangenen Abend nichts mehr. Immerhin war noch ein kleiner Schluck Wasser in seinem Schlauch, aber den wollte er sich für später aufheben.

Ob Amina tatsächlich kommen würde? Immer wieder stellte er sich diese Frage, und inzwischen war er sich manchmal nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht beim Sturz mit dem Kopf angeschlagen war und das alles nur geträumt hatte. Er hatte sogar versucht, den Kontakt zu Amina wiederherzustellen, aber außer dass er sich an die seltsame Erfahrung der vergangenen Nacht erinnerte, war dabei nichts herausgekommen.

Aus eigener Kraft konnte er der Falle nicht entkommen, das hatte er bei Tagesanbruch schnell festgestellt. Die Wände waren zu glatt und zu steil, als dass er irgendwo ausreichend Halt gefunden hätte. Er hatte zwar trotzdem versucht, an den Wänden hinaufzuklettern, aber das hatte ihm lediglich einen abgerissenen Fingernagel und mehrere schmerzhafte Landungen auf seinem ohnehin schon verletzten linken Fuß eingebracht. Irgendwann hatte er aufgegeben.

So saß Milan grübelnd und hungrig in der Wolfsfalle und tat das Einzige, was möglich war: Er wartete.

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Alle Bänke und Stühle standen in langen Reihen und bedeckten etwa ein Viertel des sanft abfallenden Hanges, das Podium für Korbinian hatten sie im Uferbereich des Sees auf mehreren Booten vertäut auf dem Wasser platziert. Meara war mächtig stolz auf ihre Arbeit, schließlich waren sie nur zu siebt gewesen!

Das i-Tüpfelchen sollte die Beleuchtung werden. Gemeinsam hatten sie beim Mittagessen darüber beraten, und Sebastian war auf die Idee mit den Fackeln gekommen. Diese sollten zwischen den Bankreihen so aufgestellt werden, dass sie sich strahlenförmig vom Podium durch die Zuhörer ausbreiteten und so ein sehr stimmungsvolles Bild erzeugten.

Meara war schon ganz gespannt, was Samuel dazu sagen würde!

Gespräch mit einer alten Hexe

„Komm herein, Korbinian!“, sagte eine Stimme hinter der Tür, an die das Oberhaupt der Magier geklopft hatte. Korbinian musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf am niedrigen Türsturz anzuschlagen. Dann stand er in Linneas kleiner Hütte.

Linnea war sehr alt. Niemand wusste genau, wie alt sie war, aber ohne Zweifel war sie mit weitem Abstand die älteste Hexe der Gemeinschaft. Korbinian war bereits als Junge zu ihr in die Lehre gegangen. Damals hatte er die Kunst der Heilung bei ihr gelernt. Und auch Korbinian war inzwischen ein alter Zauberer.

Linnea war eine der wenigen, die außerhalb des Haupthauses wohnten. Ihre kleine Hütte lag noch hinter der Pferdekoppel am nördlichen Rand des Dorfes und duckte sich in den tiefen Schatten einer uralten, turmhohen Tanne.

Die Hütte bestand aus nur drei Räumen. Der Kleinste war eine Kammer mit Vorräten und allerlei Fläschchen und Tiegeln mit kaum erkennbarem Inhalt. Nur ein klein wenig größer war ihre Schlafkammer. Außer dem Bett war nur noch Platz für einen winzigen Schrank. Im größten Raum stand auf der linken Seite am Fenster ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Dahinter, nah an der Tür zur Schlafkammer, stand ein großer, gemütlicher Sessel. Die Wand zwischen dem Hauptraum und den beiden Kammern war vollständig bedeckt von einem großen Regal mit Büchern. Nur der Herd, in dem immer ein Feuer brannte, fand noch einen kleinen Platz. Den meisten Raum im Zimmer beanspruchten ein großer Tisch in der Mitte und ein kleinerer langer Tisch an der anderen Fensterseite. Auf ihnen standen in scheinbar vollständigem Durcheinander unzählige Mörser, Schmelztiegel, Glasröhrchen, bauchige Flaschen, Vasen mit frischen und Dosen mit getrockneten Kräutern, Fläschchen und Gläser mit Flüssigkeiten und Pasten in allen möglichen und unmöglichen Farben, kurzum: die Ausstattung einer Heilerin.

Linnea saß in dem großen Sessel und schaute von einem alten Buch auf, in dem sie offenbar gerade gelesen hatte. „Welch seltener Besuch“, lächelte sie Korbinian an. „Tu einer alten Frau einen Gefallen und mach uns einen Tee, mein Junge.“

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Korbinian musste lächeln. Es gab nicht viele, die so alt waren, dass sie ‚Mein Junge‘ zu ihm sagen konnten – Linnea war eine dieser wenigen, und Korbinian fühlte sich dann immer ein bisschen wie damals, als er ihr Lehrling war.

„Glaub nicht, dass ich nicht gesehen hätte, dass Du Dich gerade über eine alte Frau lustig machst!“, schalt sie ihn, allerdings mit einem Lächeln auf den Lippen. „Du kommst mich überhaupt viel zu selten besuchen. Ich dachte schon fast, Du hättest mich vergessen!“

Sie winkte ab, als Korbinian zu einer Entschuldigung ansetzte. „Ich weiß ja. Dein neues Amt als Oberhaupt und die Suche nach dem siebten Lehrling.“ Als Korbinian sie erstaunt ansah, fuhr sie fort: „Guck nicht so. Ich mag zwar alt und tatterig sein, aber das eine oder andere bekomme ich schon noch mit, auch wenn ich nur selten ins Dorf gehe. Meinst Du, Du wärst der Erste meiner ehemaligen Schüler, der sich in den vergangenen Tagen zu mir verirrt hätte?“

Linnea war aufgestanden und zu Korbinian hinübergegangen, der inzwischen am Herd das Wasser für den Tee kochte. „Komm, mein Junge, gieß uns beiden ein und dann wollen wir reden, Ich sehe doch, dass Du nicht nur wegen meiner leckeren Teesorten zu mir gekommen bist.“

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Sie setzten sich an den kleinen Tisch, und Korbinian erzählte von Amina und wie sie scheinbar zu Milan Kontakt aufgenommen hatte.

 

„Und Du denkst nun, sie hat das Zweite Gesicht.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Das wäre wirklich ein großes Glück! Das Zweite Gesicht ist so selten, dass man manchmal den Eindruck haben könnte, es wäre nur eine Sage. Die letzte Hexe mit dem Zweiten Gesicht hat uns vor mehr als zwei Generationen verlassen, wie Du weißt. Und Du denkst, ich könnte ihr helfen, ihre Gabe zu verstehen und besser zu nutzen.“

Wieder eine Feststellung. Manchmal war Linnea Korbinian unheimlich. Er nickte und nahm noch einen Schluck Tee.

„Auch wenn ich gedacht hatte, ich würde mein langes Leben in Ruhe beschließen können, für diesen Zweck werde ich gern noch einmal die Ärmel aufkrempeln! Aber ich werde eine Menge Zeit brauchen, also schick sie am besten gleich, wenn ihre Lehrzeit um ist“, fuhr sie fort.

Korbinian erhob sich und ging zum Herd hinüber. „Weißt Du, Linnea, ich hatte eigentlich gedacht, wir könnten die Suche nach dem Lehrling mit ihrer Begabung unterstützen ...“

„Unmöglich“, war Linneas knappe Antwort. Aber Korbinian ließ nicht locker. Er argumentierte, bat und flehte, bis er Linneas Herz schließlich erweichte.

„Also gut. Ich will es versuchen. Aber, mein Junge, denk daran: Eine Begabung ist noch lange keine Fähigkeit. Die Chance, dass es funktioniert, ist so gering wie die Aussicht, dass Du jeden Tag zum Tee kommst.“

Lächelnd schob sie ihn zur Tür. „Schick das Mädchen zu mir, wenn sie wieder da ist. Wir werden es versuchen. Mehr kann ich nicht versprechen.“

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Amina war an der Stelle angekommen, an der der Weg vor dem Höhenzug nach Osten abbog. Sie hatte aus der Erfahrung des Vormittags gelernt und den Rappen meist nur noch im Schritt gehen lassen. Das hatte natürlich Zeit gekostet – die Sonne hatte den Zenit schon weit überschritten.

Wie weit war es noch? Sie ritt ein Stück den Weg entlang, hielt an und rief nach Milan. Nichts. So ritt sie Stück um Stück weiter und versuchte ihr Glück. Weit vom Weg konnte Milan nicht sein, er hatte gesagt, er hätte ihn kurz vor seinem Sturz in die Wolfsfalle bereits gesehen.

Milan saß am Boden der Grube, hungrig und durstig, und haderte mit seinem Schicksal, als er plötzlich glaubte, seinen Namen zu hören. Rasch stand er auf und lauschte. Ja, da war etwas, jemand rief seinen Namen, aber noch weit entfernt. Amina hatte es tatsächlich geschafft! Sein Herz machte einen Sprung.

Er wartete noch ein wenig, um Amina näherkommen zu lassen. Das nächste Mal, als er seinen Namen hörte, war es schon viel näher. Milan holte tief Luft und schrie aus vollem Hals: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Und noch einmal: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Dann lauschte er.

Es war bereits der fünfte oder sechste Versuch, als Amina die vertraute Stimme antworten hörte. Sie hatte ihn gefunden! Schnell schätzte sie die Richtung ein, aus der der Ruf gekommen war, und setzte den Rappen in Trab. Ein Stück weiter im Wald wiederholte sie ihren Ruf, und nun kam die Antwort aus nächster Nähe.

Wenige Meter vor sich sah sie die Kante der Wolfsfalle. Geschickt ließ sie sich vom Rücken ihres treuen Begleiters fallen und ging am Rand der Grube in die Knie.

„Milan!“

„Amina! Ich bin so froh, dass Du da bist!“

„Was soll ich tun?“

„Hast Du ein Seil dabei?“

„Ja. Ich binde es an einem Baum fest und werfe Dir das andere Ende herunter, dann kannst du daran hochklettern, in Ordnung?“

„Ja, alles klar.“

Wenige Augenblicke später war Milan seinem Gefängnis entkommen. Unschlüssig und ein wenig verlegen standen er und Amina sich gegenüber, bis Milan die Spannung durchbrach, Amina in seine Arme schloss und „Danke!“ in ihr Ohr flüsterte.

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Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und es wurde langsam Zeit für die Versammlung. Korbinian nahm das Abendessen in seinem Kontor zu sich. Er brauchte Ruhe, um seine Rede nochmals durchzugehen. Der Plan war ausgereift, die Reihenfolge der Zauberer und Hexen, Lehrlinge und Gesellen namentlich festgelegt. Würde es klappen? Wo war der eine Lehrling, den sie noch brauchten?

Nach einigem nutzlosen Grübeln schob Korbinian schließlich die dunklen Gedanken beiseite. Es war ihr einziger Plan. Und er würde funktionieren!

Korbinian stand auf und ging zum Spiegel. Er hatte ein festliches Gewand angelegt, um die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zusätzlich zu unterstreichen. Noch einmal kontrollierte er den Sitz seines Umhanges, dann machte er sich auf den Weg zum See.

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Amina musste einige Zeit auf Milan einreden, bis sie ihn überzeugen konnte, dass er wegen seines verletzten Knöchels auf dem Rappen reiten und sie danebenhergehen würde. Milan gab nach, bevor es ernsthaft zum Streit kam. Allerdings nur unter der Bedingung, dass Amina hinter ihm aufsitzen würde, wenn sie müde war.

Dann brachen sie auf. Es war längst dunkel, und Amina döste langsam beim Gehen ein. Sie hielt sich am Zaumzeug des Pferdes und trottete fast mechanisch neben dem Rappen her. Milan war Aminas Müdigkeit nicht entgangen. „Wann hast Du eigentlich das letzte Mal geschlafen?“, fragte er sie.

„Gestern Abend ein wenig, bevor ich aufgebrochen bin“, antwortete Amina schläfrig.

„Na komm, steig auf und ruh Dich ein bisschen aus. Der Rappe ist kräftig, er kann uns beide wenigstens ein Stück weit tragen.“ Er zog Amina mit einer Hand mühelos vom Boden hoch und hinter sich auf das Pferd. „Lehn Dich an meinen Rücken und halt Dich gut fest, damit Du nicht herunterfällst“, ermahnte er sie.

Amina legte die Arme um Milans Hüften und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. Dann legte sie den Kopf auf seinen breiten Rücken. Für kurze Zeit war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Ihr Magen oder irgendetwas anderes in dieser Gegend schlug einen Purzelbaum nach dem anderen. Sie schmiegte sich eng an Milan und seufzte ganz leise und sehr glücklich. Dann schlief sie ein.

Milan ließ den Rappen weiter im Schritt gehen und bewegte sich so wenig wie möglich. Ihm war der leise Seufzer hinter seinem Rücken nicht entgangen. Er war wie elektrisiert, und das Kribbeln in seinem Magen, das er schon vor ein paar Tagen gespürt hatte, wollte nun nicht mehr weichen. Sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, dass er schon glaubte, es könne Amina aufwecken. Er vergaß sogar zwischendurch, dem Pferd die Richtung nach Filitosa zu geben, aber der Rappe kannte seinen Weg nach Hause zum Glück auch allein.

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