Meine weisse Stadt und ich

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Als meine Pfeife an diesem Abend, in der Dunkelheit meines Zimmers, einen Lichthof roter Flammen um die Glühbir­ne zeichnete, dachte ich, dass ich, nachdem ich die oberflächlicheren Argumente erschöpft hatte, an diesem Nachmittag mit den schrecklicheren Aspekten meiner Seelenlage konfrontiert worden war. Ich war noch immer gereizt, weil der junge Mann im Bali angedeutet hatte, ich sei aus rassistischen Gründen aus Amerika weggelaufen. Aber noch mehr brachte es mich auf, dass wahrscheinlich etwas Wahres daran war, wenn ich mich so darüber aufregte. Auf alle Fälle stimmte es, in Bern genoss ich ein viel freieres gesellschaftliches Leben, als ich es von zu Hause gewohnt war. Doch das war es nicht, nicht wirklich, dachte ich.

War ich nach Europa gekommen, weil ich das oberflächliche Leben in Amerika satthatte? Oder über diese Oberflächlichkeit schreiben wollte? Auf der Suche nach mir selbst und dem Sinn des Lebens? Deshalb bin ich doch gekommen, sagte ich mir, doch nachdem ich in drei Jahren keine einzige Geschichte verkauft hatte, begann ich zu zweifeln. Und während ich noch zweifelte, war ich diesem jungen Mann begeg­net …

Während ich auf der Bundesterrasse saß und auf den Gurten hinüberblickte, der sich in den Himmel erhob, hatte ich mich all das gefragt und mich dabei sehr seltsam gefühlt, ungefähr so, als würde ich genau in diesem Augenblick geboren. Allmählich zweifelte ich daran, dass es den Mann tatsächlich gegeben hatte (so sehr geht manchmal die Fantasie mit mir durch!) – vielleicht war es ja bloß eine imaginäre Verkörperung meiner eigenen Zweifel gewesen! Bei diesem Gedanken erfüllte mich ein erfrischendes Gefühl, aber dessen Wirkung war nicht nur tröstlich. Denn jetzt konnte ich mir eingestehen, dass mich die Frage des Mannes aus demsel­ben Grund so verstört hatte, aus dem ich seit über zwei Monaten nichts geschrieben hatte. Ich befürchtete, dass ich nichts zu sagen hätte oder nicht in der Lage wäre, es auszudrücken. Der Grund für diese Befürchtung ging noch tiefer und hatte mit moralischen Werten zu tun, der Bedeutung des Universums und mit meiner bewussten Beziehung zu Gott. Ist das möglich?, hatte ich mich gefragt. Bin ich wirklich so aufgebracht, weil mir ein kleiner Mistkerl mit seinen naiven Andeutungen blöd gekommen ist? Deshalb leide ich an Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen, deshalb schäme ich mich, dass meine Absätze abgelaufen sind; aus Überempfindlichkeit gegenüber tausendundsieben lästigen kleinen Illusionen: Weil ich mir über meine Beziehung zu Gott im Unklaren bin! Tja, hatte ich mir gesagt, das wirft natürlich ein ganz neues Licht auf die Angelegenheit!

Und dann dachte ich vor dem Einschlafen, nachdem ich alles durch eine eher zynische Brille betrachtet hatte, dass es ein kaltes abstraktes Licht war, das mir den Weg erhellt, mich aber auch mächtig geblendet hatte! Denn war ich nicht am Münchner Bahnhof wie ein Sünder in den Zug gestiegen, ein Sünder, der aus Furcht vor der Hölle bibberte und sich fragte, was er wohl in Bern finden würde, dabei wusste ich tief in meinem armseligen Herzen, dass ich nur mich selbst finden würde!

Als ich die Augen nicht länger offenhalten konnte, fiel ich in einen unruhigen, albtraumhaften Schlaf und träumte …

Bern

Der Bahnhof war ein altertümliches, malerisches Gebäude und in seiner Bescheidenheit auf sentimentale Art einladend. Dünne nackte Stahlrippen stützten die Dächer der Depots, in denen die Schmalspurwaggons standen. Gelbe, mit Gepäck beladene Elektrowägelchen flitzten wie laute kleine Pudel hin und her. Arbeiter in blauen Kitteln, die aussahen wie Kleider, kümmerten sich um den Zug wie pingelige Frauen um ihre Nähmaschine. Ganz anders als das riesige, weitläufige Gebäude aus Stahl und Marmor, die Union Station von Kansas City!, dachte ich. Beeindruckt von den schweren Taschen aus rotem, braunem und gelbem Leder, die die Schaffner sich über die Schultern geschnallt hatten und die bis zu den Knien baumelten, sagte ich mir: Sie müssen im Geld schwimmen! Die bunten Plakate mit Werbung für unbekannte Ziga­retten in Schweizerdeutsch, Deutsch und Italienisch, ganz zu schweigen von Französisch, überzeugten mich davon, dass ich mich in einem fremden Land befand, vor allem angesichts der jüngsten Erfahrung mit dieser Marshmallow-Sprache.

Auf den Gleisen wimmelte es von Menschen, und als ich aus dem Zug stieg, schienen mich alle anzustarren. Ich zog meine Krawatte fest, rückte den Hut zurecht und strich den Regenmantel glatt. Was gaffen sie denn so?, fragte ich mich, tastete verstohlen nach meinem Hosenschlitz, um mich zu vergewissern, dass ich nicht vergessen hatte, ihn zu schließen, und überlegte, ob ihre Blicke meinen Mantel durchdringen konnten. Während ich mir einen Weg durch die Menschenmassen bahnte, erinnerte ich mich an die wenigen Kinder in Amsterdam, die mich angestarrt hatten, und wünschte, ich wäre wieder dort. Manche Leute lächelten und flüsterten et­was, als ich an ihnen vorbeikam, andere lachten. Lachen sie etwa über mich? … Liebe Güte! Ratlos stolperte ich die Treppe hinauf und spähte verwirrt nach rechts und links. Plötzlich hörte ich etwas Schreckliches. Mir brach der kalte Schweiß aus, mein Magen drehte sich um. Ich hatte das Wort Neger gehört.

Meine heftige emotionale Reaktion beruhte auf seiner Ähnlichkeit mit dem Wort «Nigger», einem abwertenden Ausdruck, der seit dem Beginn der Sklaverei das Leben aller Schwarzen in Amerika definierte. Er hat eine Geschichte, ein starkes eigenes emotionales Leben. Historisch ist es ein Begriff des Hasses und der Erniedrigung (des Selbsthasses und der Selbsterniedrigung unter Schwarzen), dessen Entwicklung Amerikas Geschichte von nationaler Entwicklung entspricht. Es ist ein negativ besetztes Symbol, mit dem die schwarzen Nobodys bezeichnet werden, die ein Zehntel der nationalen Bevölkerung ausmachen. Ein Wort, das die Grundlage definiert, mit der die Mehrheit der amerikanischen Weißen ihre Habgier, ihre Angst, ihren Provinzialismus und ihre Liebe zu diesem ihrem Nachbarn rechtfertigt.

Meine Ohren waren derart konditioniert auf diesen Klang, dass die Nuancen zwischen «Nig…» – zu «Neg…» nur eine Ne­bensächlichkeit waren. «Nigger» war für mich mehr als nur ein Wort. Es war ein lebendiges Etwas, was ich mit einer königlichen, wenn auch teuflischen Auszeichnung versehen hatte. Es war eine Art Satan der Worte mit einem eigenen Gefolge satanisch edler Worte, beispielsweise «schwarz», «kinky» (mit diesem Wort wurde oft mein Haar beschrieben: es bedeutet kraus), «Plattnase», «wulstig», «Dickelippe», «rot», «hell», «weiß», «dunkel», «farbig», «traurig», «Blues», «singen», «glücklich», «tanzen», «kindlich» und unzählige an­dere. Es sind so viele, dass ich ganze Bände mit Beispielen für ihre wunderbaren Zauberkräfte füllen könnte. Ich könnte Beschreibungen ihrer unglaublichen Leistungen liefern, etwa, wenn es ihnen gelingt, etwas aus der Anonymität einer gedruckten Zeitungsseite so herauszustellen, dass es mir sofort ins Auge springt und mich meiner Selbstbeherrschung beraubt, oder unschuldigen Jugendlichen wie bei einem todes­mutigen Sprung über die honigsüßen Lippen purzelt, noch ehe ich meinen philosophischen Talisman zücken kann.

Doch während ich mich mit der Zeit an das Wort Neger gewöhnte – etwas anderes blieb mir nicht übrig, weil man es überall in Europa benutzt –, lernte ich, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn ich es in feiner Gesellschaft oder aus dem Mund unschuldiger oder liebenswürdiger alter Damen hörte, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ich betrachtete es etwas häufiger als einen neutralen Begriff wie «Apfel», «Tuberkulose» oder «Charlie» und wusste, dass es lediglich «schwarz» bedeutete und kaum etwas anderes und dass selbst dieses «kaum etwas anderes» eine andere Qualität und Quantität besaß als das «kaum etwas anderes», an das ich gewöhnt war.

Es war so, als verließe man eine Welt, in der es immer Tag ist, und betrete plötzlich eine andere, in der es immer Nacht ist oder zumindest eine, in der der Abend besonders hell ist, ein Abend, der sich vom Tag unterscheiden lässt, mit einem Hauch von Abenddämmerung oder Morgengrauen durchsetzt … Doch später, als meine Augen sich an das neue Licht gewöhnt hatten, wurde mir allmählich bewusst, dass das, was ich zuvor für zwei verschiedene Welten gehalten hatte, in Wirklichkeit eine Welt war, dieselbe Welt, nur von einem anderen Standpunkt aus gesehen. Wir alle haben irgendwann diese Erfahrung gemacht – nicht wahr? –, wenn wir beim Be­trachten einer Weltkarte plötzlich intuitiv erahnen, dass die verschiedenen Formen, die die Kontinente verbinden, wie Teile eines Bildes aussehen, das, wenn man es wieder zusammensetzen könnte, ein Ganzes, eine Kugel bilden würde, so wie wir sie immer sehen, wenn wir Geografie und Astronomie studieren. Ich staunte, dass man oft so lange braucht, um das Offensichtliche zu erkennen, es wirklich zu begreifen: dass die Welt eine Ganzheit ist, zum Beispiel, der Tag die Nacht ist und die Nacht der Tag! Ferner bemerkte ich mit einer Ehrfurcht, an der es mir gelegentlich mangelt, dass bestimmte, sehr seltene Menschen bei überraschend seltenen Gelegenheiten imstande waren, diesen fehlenden Unterschied zwischen scheinbar ungleichen Dingen wahrzunehmen, etwa dem, was sie befähigt, Dinge zu tun, die wir als Wunder bezeichnen: über Wasser zu gehen, als wäre es feste Erde, «Tote» zum Leben zu erwecken oder ein ganzes Universum auf eine Leinwand zu bannen. Sie versuchen, uns zu erzählen, was sie sehen, uns den Frieden nahezubringen, den ihre Perspektive ihnen bietet, sie verraten uns sogar, auf welchem Weg sie diese Höhe erreicht haben, aber wir verstehen sie nur selten, und ebenso selten wissen wir ihre Bemühungen zu schätzen … Doch das soll vermutlich auch so sein, denn wir können nur das sehen, was wir tatsächlich sehen, nur das hören, was wir tatsächlich hören, selbst wenn die Bilder und Klänge in den Höhlen unseres Bewusstseins bloß Luftspiegelungen und Echos sind.

 

Die Erklärung für den Wert von Gleichheit innerhalb der offensichtlichen Unterschiede in der Einstellung der Amerikaner gegenüber Rasse ist schwierig, denn ihr Europäer werdet, wie ihr es bereits bei verschiedenen Gelegenheiten getan habt, sagen: «Ich kann euch Amerikaner einfach nicht verste­hen. Wie könnt ihr im Umgang mit den Bürgern eures eigenen Landes so primitiv sein?» Diese Frage lässt sich nur in hundertsechzig Millionen Büchern von jeweils mindestens sechstausend Seiten erklären. Und selbst dann hat man nur an der Oberfläche gekratzt!

Ich werde versuchen, Ihnen auf mehreren Seiten eine historische «Erklärung» dieses Phänomens zur Prüfung vorzulegen, aber das wird nicht einfach sein, weil ich mich den gröbsten Verallgemeinerungen hingeben muss, die man sich vorstellen kann. Ich werde Übertreibungen und Untertreibungen machen, die für viele Amerikaner nicht nur unhaltbar erscheinen, sondern es auch tatsächlich sind, ungeachtet der Tatsache, dass es ohnehin nur wenige Amerikaner gibt, die in der Lage sind, mit diesem besonderen Aspekt des amerika­nischen Lebens umzugehen. Es ist kein Zufall, dass das maßgebliche Werk zu diesem Thema von einem schwedischen Soziologen verfasst wurde, der von der amerikanischen Re­gie­rung damit beauftragt wurde.

Doch zuerst ein kleiner gefühlsstabilisierender Aperitif, um in die richtige Stimmung zu kommen. Denken Sie einmal über folgende Fragen nach:

Sind Sie Protestant? Katholik? Jude? Atheist? Sind Sie reich oder arm? Sind Sie zufällig Sohn oder Tochter geschiedener Eltern? Hat Ihre Mutter Sie in einer mondbeschienenen Nacht hinter einem duftenden Fliederbusch im Park empfangen und Ihr Vater dann vergessen, sie zu heiraten? Sind Sie also unehelich? Hält man Sie für ein bisschen beschränkt? Und sind Sie infolgedessen leicht verhaltensgestört? Sind Sie zu groß? Zu dick? Haben Ihre Eltern Sie um drei Uhr morgens vor der Tür eines sadistischen Fremden ausgesetzt? Wenn Sie ein Kriegsflüchtling sind, der versucht, in einem fremden Land Fuß zu fassen, wenn Sie hinter dem Eisernen Vorhang oder vor dem Anblick von Spitzengardinen leiden, wenn Sie Segelohren oder vorstehende Zähne haben, wenn Sie ein Junge mit blauen Augen in einer Familie mit braunen Augen sind, dann meine ich Sie. Sind Sie Teller­wäscher, wenn Sie das Leben eines Millionärs führen sollten? Sind Sie das Kind eines Geistlichen? Der unbedeutende Sohn, die unbedeutende Tochter, der Bruder, die Frau oder der Mann eines bedeutenden Mitglieds Ihrer Familie? Vielleicht sind Sie intelligent, aber bloß gefühllos? Oder vielleicht allzu vernünftig? Sind Sie Engländer, jetzt, wo das Pfund nichts mehr wert ist und im Britischen Empire allmäh­lich die Sonne untergeht? Haben Sie Angst vor dem Kommunismus? Wenn eins dieser kleinen Probleme Sie betrifft, werden Sie verstehen oder, besser gesagt, nachempfinden können, welche Wirkung das Wort «Nigger» auf mein Bewusstsein hat. Für die anderen vierzehn Millionen Schwarzen in den Vereinigten Staaten kann ich nicht sprechen. Hier nun meine historische Erklärung in Gestalt einer Kleinen Subjektiven Soziologie:

Man kann die Vereinigten Staaten von Amerika unter anderem als ein Land mit großen dynamischen Spannungen beschreiben. Ein Land, in dem praktisch alle Bürger Einwanderer sind. Die meisten kamen als Nobodys, und ihre weitere Geschichte, und damit auch die von Amerika, ist die Geschichte ihrer Bestrebungen, etwas aus sich zu machen. Diese Verbrecher, Prostituierten, Glücksritter, Spekulanten, religiös Unterdrückten und Menschen, die darauf aus waren, ein Stück Land in Besitz zu nehmen, hatten ihre Ideen und Kultur aus England, Frankreich, Deutschland, Russland, Spanien, Armenien, Irland, Italien und weiß der Himmel woher mitgebracht. Das überrascht Sie? Sind Sie erstaunt, zu entdecken, dass das Ihre Vorfahren waren, nur ein paar Generationen von der Alten Welt entfernt? Kein Grund, überrascht zu sein: Enkel, seht euch eure Großeltern an! All diese europäischen Nobodys, die darum kämpften, es in einem Land, das den Indianern und Eskimos gehörte, zu etwas zu bringen – das ist Amerika!

Die Ersten, die kamen, mussten hart arbeiten und kämpfen, um sich etwas anzueignen und es zu verteidigen. Diejenigen, die später kamen, mussten gegen jene kämpfen, die bereits gekämpft hatten, und anschließend erneut kämpfen, um das zu bewahren, was sie sich angeeignet hatten. Das ist das Narrativ. Jene, die mehr mitbrachten, mehr Geld, mehr Macht, verfügten über die notwendigen Mittel, um Menschen und deren Dienste zu kaufen, daher wurden einige von Anfang an «mächtiger» als andere. Manche waren stärker und energischer, und sie überwältigten die weniger starken und energischen. So verändern sich die Dinge, und so entsteht eine Organisation, die Soziologen als «Gesellschaft» bezeichnen.

Dann erkannten einige Mächtige, dass sie im Süden Baumwolle anbauen konnten und dass es nicht genügend andere Leute gab, um das Land zu bearbeiten (in jenen Tagen kam man nur dann nach Amerika, wenn man keine andere Wahl hatte), daher erinnerten sie sich an eine praktische Idee, die schon die alten Griechen und andere berühmte Völker vor ihnen gehabt hatten. Sie legten sich Sklaven zu, die die Arbeit machen sollten. Manche Sklaven kauften sie, andere stahlen sie. Auf Schiffen brachte man sie nach Amerika, aneinander gekettet, damit sie nicht fliehen konnten, Männer, Frauen und Kinder in Schiffsbäuchen mit Luken aus Eisen. Es war eine teure Unternehmung, denn unterwegs starben sehr viele von ihnen und mussten über Bord geworfen werden. Und wenn man sie erfolgreich verschifft hatte, mussten sie untergebracht, ernährt und für die Arbeit aufgepäppelt werden. Außerdem musste man sie bewachen, weil sie ständig zu flüchten versuchten. Die Eigentümer taten ihr Bestes, um ihre Investitionen zu retten.

Wozu war ein Nigger gut, wenn nicht zum Arbeiten. Er war ja kein Mensch. Man schlug ihn, und er sang; er las die Bibel. Man verkaufte seine Mutter, seine Frau oder sein Kind, und er grinste einem ins Gesicht. Er ist ein Tier, eine Kuh oder ein Esel und dementsprechend zu behandeln. So lautete die vorherrschende Meinung, der Standpunkt, der in einem christlichen Land die Sklaverei rechtfertigte. Er erlaubte es den Sklavenbesitzern, am Sonntag ungestört in die Kirche zu gehen, sie hatten es ja nicht mit Menschen zu tun.

Nun ist die Absicht aller Menschen moralisch, weil der Mensch von Natur aus gut ist. Er kann nicht lange Böses tun, ohne sich selbst irrezuführen, und das geht nun mal nicht lange gut. Am Ende kommt die Wahrheit ans Tageslicht, egal wie sehr man sie unterdrückt. In diesem Fall auf peinlichste Weise: Aus dem Schoß schwarzer Frauen kamen halb-weiße Kinder; aus dem Schoß weißer Frauen – Gott behüte! – halb-schwarze. Im Rassenbewusstsein der Amerikaner tauchte ein neues Wort auf: Vergewaltigung. Ich vermute, dass mehr weiße Frauen von Schwarzen «vergewaltigt» wurden als von je­der anderen Rasse in der Geschichte der modernen Welt! Und welcher Preis für diese beschämende Art menschlicher Verfehlung zu zahlen war, ist ja bekannt …

Mittlerweile wuchs Amerika. Die Puritaner hatten alle Hände voll zu tun, die Quäker im Norden zu verbrennen. Alle kämpften gegen die Indianer. In jedem Kino der Welt kann man sehen, wie der weiße Mann Religion und Kultur gegen Gold, Land und Menschenleben eintauschte, sofern man ei­nen wilden Indianer überhaupt als «Menschen» bezeichnen konnte. Amerika bewegte sich nach Westen, und im Süden herrschte König Baumwolle. In jedem Geschichtsbuch lässt sich nachlesen, wie zu Lincolns Zeit die Baumwolle entthront wurde, die wirtschaftliche Entwicklung der Nation auf dem Spiel stand, wie Mr. Lincoln beschloss, die Sklaverei als wirtschaftliche Maßnahme abzuschaffen, und was der Süden da­von hielt.

Es gefiel ihm nicht, weil es seine ökonomische und gesellschaftliche Existenz komplett auf den Kopf stellte. Trotz der Horden von halb-weißen und halb-schwarzen Kindern, die ständig zunahmen, war ein Nigger kein Mensch. Welche Regierung würde den Niggern die Freiheit schenken, damit sie sich mit den Weißen vermischen, die Schule besuchen, schreiben und lesen lernen, arbeiten und sich frei bewegen konnten wie der weiße Mann? Was für eine Katastrophe für die Gesellschaft der Südstaaten! Stellen Sie sich vor, wie ein großer grinsender schwarzer Teufel Ihrer Tochter den Arm um die Hüften legt! Nein, Sir! Eher würden sie aus dem Staatenbund austreten. Genau das taten sie, wie wir alle wissen. Und ich bezweifle, dass Sie oder ich anders gehandelt hätten, wenn Sie, Sie, Sie oder ich damals gelebt hätten und von diesen Umständen konditioniert worden wären. Wir sind alle Produkte unserer Zeit und der Orte, in denen wir geboren werden. Man muss stark sein, um sich über Zeit und Raum hinwegzusetzen, und an solch starken Menschen mangelt es der Welt.

Als der Schwarze «frei» war, hatte er es ziemlich schwer, mit dem Weißen zu konkurrieren. Er war im Rückstand, beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Sein vordringlichstes Ziel war, sich zu bilden und voranzukommen. Viele hatten es so ei­lig, dass sie nicht darauf warten konnten, bis sich Raum und Zeit veränderten, und blieben auf der Strecke. Viele warteten vergebens, und auch sie blieben auf der Strecke.

Währenddessen wuchs Amerika weiter. Es gab Kriege. Es gab Veränderungen in der Bevölkerung. Der Schwarze entwi­ckelte wie andere Minderheiten auch alle möglichen Tugenden und Laster in dieser komplexen Atmosphäre. Er kam so weit voran, wie Zeit und Raum es jeweils zuließen, und immer noch blieben manche auf der Strecke.

Der Südstaatler ist das Produkt eines heißen Klimas; daher ist er ein Hitzkopf. Liebe und Hass sind bei ihm heftig. Wenn er einen Schwarzen an einen Baum fesselte und verbrannte, wenn er ihn an der Stoßstange eines fahrenden Wagens durch die Straßen schleifte, war das ein Ausdruck der Liebe, wenn auch pervers, gewalttätig und primitiv, mit dem er das Ausmaß an Schmerz kundtat, den auch er erlebt haben musste. Das ist keineswegs absurd, wir alle wissen, dass Liebe und Hass zwei Seiten derselben Medaille sind.

Deshalb war die Assimilation der Schwarzen in die allge­meine Gesellschaft von größeren dramatischen Konflikten begleitet als die anderer amerikanischer Minderheiten. Die meisten Schwarzen kommen vom Süden in den Norden und bringen ihre hitzige, komplexe Persönlichkeit mit. Gleichzeitig ziehen andere Amerikaner vom Norden in den Süden und von der Ostküste nach Westen. All diese Migrationen waren durch unterschiedlich starke Spannungen gekennzeichnet, die sich aus den sozialen Bedingungen in den jeweiligen Gebieten ergaben. Die Dynamik der amerikanischen Kultur verstärkt sich noch, wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass regionale Spannungen oft ethnischen Spannungen entgegenstehen, weil, wie bereits gesagt, und das dürfen wir niemals vergessen, die meisten Amerikaner Einwanderer sind. Amerika ist kein Land mit einem festen gesellschaftlichen Muster und einer vorherrschenden kulturellen Ordnung. Der erste Präsident wurde 1789 gewählt! Es hat über hundertsechzig Millionen Einwohner! Daher ist es ein Land von erschreckenden Gegensätzen. Und seine Konflikte werden mit Gewalt ausgetragen!

Das Land wächst weiter. Es gibt Kriege, die Bevölkerung verändert sich, alte Einwanderer verschmelzen mit der herrschenden Gesellschaft, während die neuen Einwanderer ­leiden, so wie ihre Vorgänger gelitten haben. Der ökonomische Status der verschiedenen Minderheiten stabilisiert sich. Die Pionierzeit ist vorbei, neue, unerschlossene Ressourcen werden rarer. Man beginnt, diese Ressourcen zu erhalten, man baut auf, statt abzureißen. Zivilisation und Kultur im Sinne der Alten Welt machen sich langsam bemerkbar, und damit nehmen die ethnischen und regionalen Spannungen ab. Eine Folge dieses Prozesses ist, dass die Schwarzen weißer werden und die Weißen aufgrund gegenseitiger ethnischer Befruchtung physiognomisch vielfältiger. Und das setzt sich fort, solange es einen Stift gibt, mit dem man es festhalten kann …

Ich stand unter dem Vordach des Bahnhofs und sog die kühle, feuchte Luft ein. Während mein Körper sich entspannte, wurde mir die einzigartige Szene, die sich vor meinen Augen abspielte, bewusst. Minutenlang hatte ich die Fassade des luxuriösen Hotels Schweizerhof betrachtet und dabei zu­gesehen, wie der blaue Zug in den kleinen Bahnhof davor einfuhr und anschließend zu einem Ort namens Zollikofen aufbrach, bei dessen Aussprache ich mir fast die Zunge abge­brochen hätte. Ein feiner Nieselregen fiel, und viele Passanten liefen mit roten, blauen, weißen und schwarzen Regenschirmen an mir vorbei. Glänzende Taxis parkten in einer Reihe vor einem Zeitungsverkäufer mit einem glänzenden schwarzen Umhang. Er trug einen flachen schwarzen Hut mit einem Schirm aus Lackleder und einer gelben, mit schwarzen Großbuchstaben bedruckten Banderole. Gelegentlich stieß er eine monotone Salve unverständlicher Worte aus. Sie klangen wie Berner Togg Slopp! … Berner Togg Slopp! … Dann fiel mir auf, dass es sich bei den Taxis um Chryslers und Dodges handelte, und ich war froh, etwas Vertrautes zu sehen. Unmengen von bunten Flaggen, manche mit schwarzen oder braunen Bären mit herausgestreckter roter Zunge und rot hervorgehobenen Genitalien vor einem leuchtend gelben Hintergrund. Sie sahen ziemlich harmlos und irgendwie auch komisch aus, wie Kinderspielzeug, wurden aber offenbar sehr ernst genommen, denn sie schmückten die strengsten Fas­saden, die ich bisher in Europa gesehen hatte. Ohne die grimmig-graue Fassade der Kirche, die auf der rechten Seite des Platzes stand, hätten sie der Stadt eine festliche Aura verlie­hen.

 

Kurz darauf fiel mir eine erstaunlich hübsche junge Frau auf, die aus dem Bahnhof kam und in ein Taxi stieg. Als es wegfuhr, fiel mir ein, dass ich mein Gepäck loswerden und meine Freunde anrufen sollte. Sie arbeiteten in der Botschaft und wohnten in einem Berner Stadtteil, der Kirchenfeld hieß, wie ich später erfuhr. Mein Freund zu Hause, bei dem ich sie 1947 kennengelernt hatte, hatte mir erzählt, dass sie in Bern lebten und noch keinen einzigen Schweizer ken­nengelernt hätten. In ihren Briefen hatten sie über Einsamkeit geklagt. Deshalb hatte er mir geraten, sie zu besuchen. Ich rief sie also aus einem angenehmen Gefühl der Gleichheit heraus an, denn auch ich fühlte mich einsam – und ängstlich.

«Oh! Wer? … Ach ja. Wo bist du denn? Am Bahnhof? Wie schön … Das Baby war krank, und wir sind alle sehr müde, weil wir in letzter Zeit so viele Amerikaner zu Besuch hatten. Scheinbar sind gerade alle gleichzeitig hier. Sorry, dass wir dich nicht bei uns aufnehmen können, aber zurzeit haben wir kein Bett frei. Das Haus ist ein einziges Durcheinander. Wir haben uns nach dem Umzug noch nicht richtig einrichten können. Wir sind gerade dabei, uns in einer neuen – viel schöneren! – Wohnung einzuleben. Aber vielleicht könnten wir wenigstens zusammen zu Abend essen. Prima. Wäre dir das recht? Gut! Mal sehen. Du bist am Bahnhof? Ich muss nur den Wagen holen und … okay, dann bis gleich, es dauert nicht lange …»

Sie legte auf. Ich hatte gerade mal drei Worte gesagt! Alles war bereits geregelt, noch ehe ich «Ja», «Nein» oder «Vielleicht» sagen konnte. Genau fünfzehn Minuten später hielt die Dame im Regenmantel und atemlos vor dem Bahnhof, entschuldigte sich vielmals, dass sie nicht früher hatte kommen können und Mr. X, ihr Ehemann, (man kann nie vor­sich­tig genug sein, wenn es um die Namen des Botschaftsper­sonals geht) mich nicht hatte abholen können. «Angesichts der Lage in Russ … äh … er hat dieser Tage so viel zu tun», er­­klärte sie in einem verlegenen, vertraulichen Tonfall. «Aber du wirst ihn bald wiedersehen, heute Abend. Wir gehen in ein wirklich uriges Restaurant. Es wird dir gefallen, es ist typisch für die Schweiz. Du wirst sehen. Das Essen ist gut – und obendrein nicht allzu teuer.» Sie lächelte nett und unpersönlich, drehte den Lockenkopf zur Seite und raste durch die dunstigen Straßen, als wäre ihr Wagen der einzige im Universum.

Wir fuhren direkt zu ihr nach Hause. Es war ein angenehmes mit Blumen geschmücktes Viertel in der Nähe eines weit­läufigen Parks. Nach unserer Ankunft bot sie mir einen Drink an und stellte mich ihren Kindern vor, einem dreijährigen Jungen namens Paul und dem acht Monate alten Baby ­Morty. Sie waren ganz zutraulich, und wir spielten ein bisschen miteinander, während ihre Mutter sich umzog. Kurz nach sieben kam mein Gastgeber nach Hause. Er war hochgewachsen, müde und sehr nett.

Nachdem sich alle zurechtgemacht hatten und das Kindermädchen die Kinder ins Bett gebracht hatte, fuhren wir zum Kornhauskeller, einem ehemaligen Getreidespeicher, wo wir uns ein opulentes Mahl aus gegrillten Schweinekoteletts und gekochtem Gemüse genehmigten. Anschließend bestellten wir noch einen grünen Salat und Kaffee, und ich rauchte eine hervorragende Dannemann-Zigarre, die ein Franken dreißig kostete. Die Mahlzeit war mit angenehmen Erinnerungen an Amerika und Spekulationen über meine Zukunft als Schriftsteller garniert. Nach dem Abendessen fuhren wir ein bisschen durch die Stadt. Davon ist mir nur im Gedächtnis geblie­ben, dass mir die Straßen sehr eng, alt und fremd erschienen. Etwa eine Stunde nach Einbruch der Nacht gingen wir in einem Club namens Chikito tanzen, dort gab es eine Liveshow und eine verwirrende Anzahl hübscher Frauen. Als wir den Club schließlich verließen, war es schon zu spät, um ein Hotelzimmer zu suchen, daher luden meine Gastgeber mich ein, die Nacht bei ihnen zu verbringen und versprachen, mir am folgenden Tag bei der Suche nach einem Zimmer behilflich zu sein.

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