Theorie und Therapie der Neurosen

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Vor der Royal Society of Medicine hielt J. F. Briggs einen Vortrag, dem wir folgendes entnehmen:

„I was asked to see a young man from Liverpool, a stutterer. He wanted to take up teaching, but stuttering and teaching do not go together. His greatest fear and worry was his embarassment by the stuttering so that he went through mental agonies every time he had to say anything. I remembered a short time before having read an article by Viktor Frankl, who wrote about a reaction of paradox. I then gave the following suggestions – ,You are going out into the world this week-end and you are going to show people what a jolly good stutterer you are.‘ He came up the following week and was obviously elated because his speech was so much better. He said ,What do you think happened! I went into a pub with some friends and one of them said to me ,I thought you used to be a stutterer‘ and I said ,I did – so what‘! It was an instance where I took the bull by the horns and it was successful.‘“

Ein anderer Fall von Stottern betrifft einen Studenten an der Duquesne University, der mir folgendes schreibt:

„17 Jahre hindurch war ich ein schwerer Stotterer. Es gab Zeiten, zu denen ich überhaupt außerstande war zu sprechen. Ich war auch wiederholt in Behandlung, hatte aber keinen Erfolg. Da wurde mir eines Tages von einem Professor der Auftrag erteilt, im Rahmen eines Seminars Ihr Buch Man’s Search for Meaning zu besprechen. So las ich es denn und stieß auch auf Ihre paradoxe Intention. Daraufhin beschloß ich, sie auch in meinem eigenen Falle zu versuchen, und siehe da, gleich das erste Mal wirkte sie fabelhaft. Von Stottern war keine Spur. Dann machte ich mich auf und begab mich in jene Situationen, in denen ich immer gestottert hatte, aber wieder blieb das Stottern aus, sobald ich die paradoxe Intention anwandte. Ein paarmal wandte ich sie aber nicht an, und sofort war das Stottern auch wieder da. Ich sehe darin einen Beweis dafür, daß es tatsächlich die paradoxe Intention war, die mich von dem Stottern befreit hatte.“

Der Pikanterie entbehrt nicht ein Bericht, den ich Uriel Meshoulam, einem Logotherapeuten von der Harvard University, verdanke:

Einer seiner Patienten wurde vom australischen Militär einberufen und war überzeugt, er würde nicht eingezogen werden, da er ein schwerer Stotterer war. Als er nun assentiert wurde, versuchte er vor dem Arzt dreimal, zu demonstrieren, wie schwer sein Stottern war, und war einfach total unfähig, überhaupt zu stottern. Schließlich wurde er zurückgestellt, aber auf Grund von hohem Blutdruck. „The Australian army probably doesn’t believe him until today“ – so schließt der Bericht – „that he is a stutterer.“

Die Anwendung der paradoxen Intentionen in Fällen von Stottern ist in der Literatur viel diskutiert worden. Manfred Eisenmann widmete dem Thema seine Dissertation an der Universität von Freiburg im Breisgau (1960). J. Lehembre publizierte seine Erfahrungen mit Kindern und hebt hervor, daß es nur ein einziges Mal zu Ersatzsymptomen gekommen wäre („L’intention paradoxale, procédé de psychothérapie“, Acta neurol. belg. 64, 725, 1964), was ja mit den Beobachtungen von L. Solyom, Garza-Perez, Ledwidge und C. Solyom übereinstimmt, die – nach paradoxer Intention – sogar in keinem einzigen Falle Ersatzsymptome feststellen konnten (l. c.).12

Jores (l. c.) behandelte einmal eine Patientin, die in der festen Vorstellung lebte, daß sie immer ausreichend Schlaf haben müsse. Sie war nun mit einem Manne verheiratet, der größere gesellschaftliche Verpflichtungen hatte, so daß es nicht ausblieb, daß sie immer wieder einmal recht spät ins Bett kam. Sie berichtete, daß sie das immer schlecht vertragen habe. Teilweise setzte schon nachts, so etwa gegen 1.00 Uhr, ein Migräneanfall ein oder spätestens am nächsten Morgen. Die Beseitigung dieser an das längere Aufbleiben gekoppelten Anfälle war durch die paradoxe Intention möglich. Es wurde der Patientin empfohlen, sich zu sagen: „So, jetzt willst du einmal einen richtigen, schönen Migräneanfall bekommen“. Daraufhin seien, wie Jores berichtet, die Anfälle ausgeblieben.

Dieser Fall leitet über zur Anwendung der paradoxen Intention in Fällen von Schlafstörung.

Sadiq, den wir bereits zitiert haben, behandelte einmal eine 54 Jahre alte Patientin, die von Schlafmitteln abhängig geworden und dann in ein Spital eingeliefert worden war: „Um 10 Uhr abends kam sie aus ihrem Zimmer heraus und bat um ein Schlafmittel. Sie: Darf ich um meine Pillen bitten? Ich: Tut mir leid – die sind heute ausgegangen, und die Schwester hat vergessen, rechtzeitig neue zu bestellen. Sie: Wie soll ich jetzt schlafen können? Ich: Heute wird’s eben ohne Schlafmittel gehen müssen. – 2 Stunden später erscheint sie wieder. Sie: Es geht einfach nicht. Ich: Und wie wärs, wenn Sie sich wieder hinlegten und zur Abwechslung einmal versuchten, nicht zu schlafen, sondern – im Gegenteil – die ganze Nacht aufzubleiben? Sie: Ich hab immer geglaubt, ich bin verrückt, aber mir scheint, sie sind’s auch. Ich: Wissen Sie, manchmal macht mir’s Spaß, verrückt zu sein, oder können Sie das nicht verstehen? Sie: War das Ihr Ernst? Ich: Was denn? Sie: Daß ich versuchen soll, nicht zu schlafen. Ich: Natürlich war das mein Ernst. Versuchen Sie’s doch einmal! Wir wollen einmal sehen, ob Sie die ganze Nacht wach bleiben können. Nun? Sie: O. K. – Und als die Schwester morgens ihr Zimmer betrat, um ihr das Frühstück zu bringen, war die Patientin noch immer nicht erwacht.“

Übrigens gibt es eine Anekdote, die es verdienen würde, in diesem Zusammenhang zitiert zu werden, und zwar aus dem bekannten Buch von Jay Haley, „Strategies of Psychotherapy“ (Grune & Stratton, New York 1963):

Während eines Vortrags, den der berühmte Hypnotiseur und Therapeut Milton H. Erickson hielt, stand ein junger Mann auf und sagte zu ihm: „Vielleicht können Sie andere Leute hypnotisieren – mich bestimmt nicht.“ Daraufhin lud Erickson den jungen Mann ein, sich aufs Podium zu begeben und Platz zu nehmen, und dann sagte er zu ihm: „Sie sind hellwach – Sie bleiben wach – Sie werden immer wacher, wacher und wacher ... “ Und prompt fiel die Versuchsperson in tiefe Trance.

R. W. Medlicott, dem Psychiater von der Universität Neuseeland, ist es vorbehalten geblieben, erstmalig die paradoxe Intention nicht nur aufs Schlafen, sondern auch aufs Träumen angewendet zu haben. Er hatte mit ihr schon viel Erfolg gehabt – auch, wie er hervorhebt, im Falle eines Patienten, der von Beruf Psychoanalytiker war.

Da war aber eine Patientin, die an regelmäßigen Alpträumen litt, und zwar träumte sie jeweils, daß sie verfolgt und schließlich niedergestochen werde. Dann schrie sie auf, und ihr Mann wachte ebenfalls auf. Medlicott trug ihr nun auf, alles daranzusetzen, um diese schrecklichen Träume zu Ende zu träumen, bis auch die Messerstecherei ein Ende habe. Und was geschah? Es gab keine Alpträume mehr, aber der Schlaf des Mannes war nach wie vor gestört: die Patientin schrie zwar nicht mehr auf, während sie schlief, aber dafür mußte sie nunmehr so laut lachen, daß der Mann auch jetzt nicht ruhig schlafen konnte. („The Management of Anxiety“, New Zealand Medical Journal 70, 155, 1969.)

Ähnliches berichtet uns eine Leserin aus den USA.

„Donnerstag morgens erwachte ich deprimiert und dachte, ich würde überhaupt nicht mehr gesund werden. Im Laufe des Vormittags fing ich dann zu weinen an und war einfach verzweifelt. Da fiel mir die paradoxe Intention ein und ich sagte zu mir: Wollen mal sehen, wie deprimiert ich werden kann. Jetzt wird einmal so geweint, daß ich die ganze Wohnung nur so überschwemme mit Tränen. Und ich stellte mir vor, meine Schwester kommt heim und jammert: Zum Teufel noch einmal, hat das wirklich sein müssen, diese Flut von Tränen? Woraufhin ich dermaßen lachen mußte, daß ich Angst bekam. Und so blieb mir denn nichts anderes übrig, als mir zu sagen: Das Lachen wird so arg werden, daß die Nachbarn zusammenlaufen werden, um nachzusehen, wer denn da so laut lacht. Währenddessen hatte ich aufgehört, deprimiert zu sein, ich lud meine Schwester ein, mit mir auszugehen, und das war wie gesagt Donnerstag, und heute haben wir Samstag, und ich fühle mich nach wie vor sauwohl. Ich glaube halt, die paradoxe Intention wirkte vor 2 Tagen wie ein Versuch, zu weinen und gleichzeitig in den Spiegel zu schauen – weiß Gott warum, aber es ist dann einfach nicht möglich, weiter zu weinen.“

Und sie mag nicht ganz so unrecht haben. Ist doch beides – die paradoxe Intention ebenso wie die Selbstbespiegelung – ein Vehikel der menschlichen Fähigkeit zur Selbstdistanzierung.

Immer wieder konnte beobachtet werden, daß die paradoxe Intention auch in schweren und chronischen, lang anhaltenden Fällen wirkt, und sie tut es auch dann, wenn die Behandlung kurz dauert. So wurden Fälle von Zwangsneurose beschrieben, die 60 Jahre lang bestanden hatten, bis mit der paradoxen Intention eine entscheidende Besserung herbeigeführt wurde (K. Kocourek, Eva Niebauer und Paul Polak, in: Ergebnisse der klinischen Anwendung der Logotherapie, Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, herausgegeben von Viktor E. Frankl, Victor E. v. Gebsattel und J. H. Schultz, Urban & Schwarzenberg, München-Berlin 1959). Die therapeutischen Erfolge, die sich mit dieser Technik erzielen lassen, sind zumindest dann erstaunlich und bemerkenswert, wenn wir sie mit dem ubiquitären Pessimismus konfrontieren, mit dem der Psychiater von heute schweren und chronischen Zwangsneurosen gegenübertritt. So verweisen L. Solyom, Garza-Perez, Ledwidge und C. Solyom (l. c.) auf das Ergebnis von 12 nachgehenden Untersuchungen, die aus 7 verschiedenen Ländern stammen und denen zufolge sich die Zwangsneurose in 50% der Fälle als therapeutisch unbeeinflußbar erwies. Die Autoren halten die Prognose der Zwangsneurose für schlechter als die Prognose jeder anderen Neurosenform, und die Verhaltenstherapie, meinen sie, habe da keinen Wandel zuwege gebracht, denn nur 46% der von Verhaltenstherapeuten publizierten Fälle seien gebessert worden. Aber auch D. Henkel, C. Schmook und R. Bastine (Praxis der Psychotherapie 17, 236, 1972) weisen unter Berufung auf erfahrene Psychoanalytiker darauf hin, „daß sich besonders schwere Zwangsneurosen trotz intensiver therapeutischer Bemühungen als unbehandelbar erweisen“, während die paradoxe Intention, die im Gegensatz zur Psychoanalyse stehe, „deutlich Möglichkeiten zu einer wesentlich kurzfristigeren Beeinflussung zwangsneurotischer Störungen erkennen läßt.“

 

Friedrich M. Benedikt hat in seiner Dissertation „Zur Therapie angst- und zwangsneurotischer Symptome mit Hilfe der paradoxen Intention und Dereflexion nach V. E. Frankl“ (München 1968) gezeigt, daß für die Handhabung der paradoxen Intention in schweren und chronischen Fällen ein unerhörter persönlicher Einsatz erforderlich sei. In diesem Zusammenhang möchten wir aber auch wiederholen, daß „der therapeutische Effekt der paradoxen Intention damit steht und fällt, daß der Arzt auch den Mut hat, dem Patienten ihre Handhabung vorzuspielen“ (Viktor E. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Franz Deuticke, Wien 1961), was anhand eines konkreten Falles bereits demonstriert wurde (l. c.). Die Verhaltenstherapie anerkennt ja die Bedeutung solchen Vorgehens ebenfalls, wenn sie dafür sogar einen eigenen Ausdruck geprägt hat und von modeling spricht.

Daß auch in Fällen von langer Dauer die paradoxe Intention helfen und dabei die Behandlung von kurzer Dauer sein kann, soll mit folgender Kasuistik belegt werden.

Ralph G. Victor und Carolyn M. Krug („Paradoxical Intention in the Treatment of Compulsive Gambling“, American Journal of Psychotherapy 21, 808, 1967) vom Department of Psychiatry an der University of Washington wandten diese Technik im Falle eines Mannes an, der seit seinem 14. Lebensjahr ein ausgesprochener Spieler war. Und zwar wiesen sie ihn an, täglich 3 Stunden lang zu spielen, obzwar er dabei so verlor, daß ihm nach 3 Wochen das Geld ausging. Und was taten die Therapeuten? Sie empfahlen ihm kaltblütig, er solle doch seine Uhr verkaufen. So oder so: es war das erste Mal nach mehr als 20 Jahren („after 20 years and five psychiatrists“, wie es in der Publikation wörtlich heißt), daß der Patient von seiner Spielleidenschaft loskommen konnte.

In dem von Arnold A. Lazarus herausgegebenen Buch „Clinical Behavior Therapy“ (Brunner-Mazel, New York 1972) bespricht Max Jacobs folgenden Fall:

Mrs. K. hatte mindestens 15 Jahre lang an einer schweren Klaustrophobie gelitten, als sie ihn in Südafrika aufsuchte, und zwar eine Woche, bevor sie von dort nach England fliegen mußte, das ihre Heimat ist. Sie ist Opernsängerin und muß viel in der Welt herumfliegen, um ihren Engagementverpflichtungen nachzukommen. Dabei konzentrierte sich die Klaustrophobie ausgerechnet auf Flugzeuge, Aufzüge, Restaurants und – Theater.

„Frankl’s technique of paradoxical intention was then brought in“, heißt es weiter, und tatsächlich wies Jacobs die Patientin an, die ihre Phobie auslösenden Situationen aufzusuchen und sich zu wünschen, was sie immer so gefürchtet hatte, nämlich zu ersticken – auf der Stelle will ich ersticken, mußte sie sich sagen, los – „let it do its damndest“. Dazu kam noch, daß die Patientin in „progressive relaxation“ und „desensitization“ instruiert wurde. 2 Tage später stellte sich heraus, daß sie bereits imstande war, ohne weiteres ein Restaurant aufzusuchen, im Aufzug und sogar in einem Autobus zu fahren. 4 Tage später konnte sie ohne Angst ein Kino besuchen und sah ihrem Rückflug nach England ohne Erwartungsangst entgegen. Aus London berichtete sie dann, daß sie sogar imstande war, erstmalig nach vielen Jahren wieder in der Untergrundbahn zu fahren. 15 Monate nach der so kurzen Behandlung ergab sich, daß die Patientin beschwerdefrei geblieben war.

Jacobs beschreibt anschließend einen Fall, in dem es sich nicht um eine Angst-, sondern um eine Zwangsneurose handelte.

Mr. T. hatte 12 Jahre lang an seiner Neurose gelitten und ohne Erfolg sowohl eine Psychoanalyse als auch eine Elektroschockbehandlung über sich ergehen lassen. Hauptsächlich fürchtete er zu ersticken, und zwar beim Essen, beim Trinken oder beim Überqueren einer Straße. Jacobs wies ihn nun an, genau das zu tun, was er immer so gefürchtet hatte: „Using the technique of paradoxical intention, he was given a glass of water to drink and told to try as hard as possible to make himself choke“ – im Sinne der paradoxen Intention reichte Jacobs dem Patienten ein Glas Wasser und forderte ihn auf, alles daranzusetzen, um zu ersticken. „He was instructed to try to choke at least 3 times a day“ – er sollte sich vornehmen, mindestens dreimal täglich zu ersticken. Daneben wurde Entspannung geübt, und während der 12. Sitzung konnte der Patient berichten, daß er komplett beschwerdefrei geworden war.

Immer wieder wird gefragt, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen eine Ausbildung in der logotherapeutischen Methode möglich sei. Gerade die Technik der paradoxen Intention bestätigt jedoch, daß es mitunter durchaus genügt, sich mit ihr auf Grund der vorliegenden Literatur vertraut zu machen. Jedenfalls gehören zu jenen Psychiatern und Psychologen, die mit der paradoxen Intention am erfolgreichsten und verständnisvollsten umgehen, auch solche, die kein einziges Mal mit uns Kontakt aufgenommen hatten. Wie sie die paradoxe Intention nur von unseren Publikationen her kennen, so wissen wir von ihren Erfolgen und Erfahrungen nur von ihren Publikationen her. Es ist aber auch interessant festzustellen, wie die diversen Autoren die paradoxe Intention modifizieren und mit anderen Verfahren kombinieren. Diese Feststellung bekräftigt nur unsere Überzeugung, daß die Psychotherapie, also nicht nur die Logotherapie, angewiesen ist auf die ständige Bereitschaft zur Improvisation. Wo die Möglichkeit gegeben ist, die Ausbildung in Form klinischer Demonstrationen zu bewerkstelligen, ist es nicht zuletzt dieses Improvisieren, was gelehrt werden muß – und auch gelernt werden kann.

Es ist erstaunlich, wie häufig auch Laien die paradoxe Intention mit Erfolg auf sich selbst anwenden.

Vor uns liegt der Brief einer 14 Jahre lang an Platzangst Leidenden, die 3 Jahre lang ohne Erfolg in orthodox-psychoanalytischer Behandlung gestanden war. 2 Jahre lang wurde sie von einem Hypnotiseur behandelt, woraufhin sich ihre Platzangst ein wenig verbesserte. Für die Dauer von 6 Wochen mußte sie sogar interniert werden. Nichts half wirklich. Immerhin schreibt die Kranke: „Nothing has really changed in 14 years. Every day of those years was hell.“ Dann war es wieder einmal so weit, daß sie auf der Straße umkehren wollte. So arg überkam sie die Platzangst. Da fiel ihr ein, was sie in meinem Buch „Man’s Search for Meaning“ gelesen hatte, und sie sagte sich: „Jetzt werd’ ich einmal all den Leuten rings um mich hier auf der Straße zeigen, wie ausgezeichnet ich das alles kann: in Panik geraten und kollabieren.“ Und auf einmal war sie ruhig. Sie setzte ihren Weg zum Supermarkt fort und besorgte ihre Einkäufe. Als es aber dann zum Zahlen kam, geriet sie in Schweiß und begann zu zittern. Da sagte sie sich: „Dem Kassier da werd’ ich jetzt einmal wirklich zeigen, was ich zusammenschwitzen kann. Der wird Augen machen.“ Erst auf dem Rückweg bemerkte sie, wie ruhig sie geworden war. Und so ging es weiter. Nach wenigen Wochen war sie imstande, mit Hilfe der paradoxen Intention die Platzangst so weit zu beherrschen, daß sie manchmal nicht glauben konnte, daß sie jemals krank gewesen war. „I have tried many methods, but none gave me the quick relief your method did. I believe in paradoxical intention, because I have tried it on my own with just a book.“

Der Pikanterie halber sei noch erwähnt, daß die – nunmehr gesundete – Kranke den Ehrgeiz gehabt hatte, ihr aus der Lektüre eines einzigen Buches gewonnenes Wissen um die paradoxe Intention zu komplettieren. Schließlich hatte sie in der „Chicago Tribune“ sogar eine Annonce aufgegeben, die sie eine Woche lang erscheinen ließ. Der Zeitungsausschnitt lag ihrem Brief bei. Die Annonce lautete folgendermaßen: „Would like to hear from anyone having knowledge of or treated by paradoxical intention for agoraphobia.“ Aber niemand meldete sich auf die Annonce hin.

Daß der Laie die paradoxe Intention überhaupt und noch dazu auf sich selbst anwenden kann, wird verständlich, wenn wir bedenken, daß sie auf coping mechanisms zurückgreift, die – wie ja auch die von uns bereits zitierten Beobachtungen von Hand beweisen – im Menschen bereitliegen. Und so ist denn auch ein Fall wie der folgende zu verstehen.

Ruven A. K. aus Israel, der an der U. S. International University studiert, wurde im Alter von 18 Jahren zum Militärdienst eingezogen. „I was looking forward to serving in the army. I found meaning in my country’s struggle for survival. Therefore, I decided to serve in the best way I could. I volunteered to the top troops in the army, the paratroopers. I was exposed to situations where my life was in danger. For example jumping out of the plane for the first time. I experienced fear and was literally shaking and trying to hide this fact made me shake more intensively. Then I decided to let my fear show and shake as much as I can. And after a while the shaking and trembling stopped. Unintentionally I was using paradoxical intention and surprisingly enough it worked.“

Aber die paradoxe Intention wird nicht nur von einzelnen Individuen ad usum proprium erfunden. Das ihr zugrunde liegende Prinzip wurde auch schon von der vorwissenschaftlichen Psychiatrie entdeckt. J. M. Ochs hielt in der Pennsylvania Sociological Society an der Villanova University einen Vortrag („Logotherapy and Religious Ethnopsychiatric Therapy“, 1968), in dem er die Ansicht vertrat, die Ethnopsychiatrie wende Prinzipien an, die später von der Logotherapie systematisiert worden seien. Im besonderen sei die Volksmedizin der Ifaluk ausgesprochen logotherapeutisch. „The Shaman of Mexican-American folk psychiatry, the curandero, is a logotherapist.“ Ochs verweist auch auf Wallace und Vogelson, denen zufolge die Volksmedizin auch im allgemeinen Prinzipien zur Anwendung bringe, die auch in der modernen Psychiatrie eine Rolle spielen. „It appears that logotherapy is one nexus between the two systems.“

Solche Hypothesen werden plausibel, wenn wir zwei Berichte wie die folgenden miteinander vergleichen.

Der erste handelt von einem 24 Jahre alten Schizophrenen, der an akustischen Halluzinationen litt. Er hörte Stimmen, die ihn bedrohten und verspotteten. Unser Gewährsmann hatte mit ihm im Rahmen eines Spitalsaufenthalts zu tun. „Der Patient verließ mitten in der Nacht sein Zimmer, um sich darüber zu beklagen, daß ihn die Stimmen nicht schlafen lassen. Es sei ihm empfohlen worden, sie zu ignorieren, aber das sei eben unmöglich. Es entspann sich nun folgender Dialog. Arzt: Wie wär’s, wenn Sie’s einmal auf eine andere Tour versuchten? Patient: Wie meinen Sie das? Arzt: Legen Sie sich jetzt einmal hin und verfolgen Sie so aufmerksam wie nur möglich, was Ihnen die Stimmen sagen – lassen Sie sich kein einziges Wort entgehen, verstehen Sie? Patient: Ist das Ihr Ernst? Arzt: Selbstverständlich meine ich das im Ernst. Ich seh’ auch nicht ein, warum Sie nicht zur Abwechslung einmal diese Scheiß-Stimmen (,these God damn things‘) genüßlich auskosten sollen? Patient: Ich hab doch gedacht ... Arzt: Jetzt versuchen Sie’s einmal – dann reden wir weiter. – 45 Minuten später war er eingeschlafen. Am Morgen war er begeistert – so sehr hatten ihn die Stimmen für den Rest der Nacht in Ruhe gelassen.“

Und nun das Gegenstück. Jack Huber (Through an Eastern Window, Bantam Books, New York 1968) besuchte einmal eine von Zen-Psychiatern geführte Klinik. Das Motto, das die Arbeit dieser Psychiater beherrscht, lautet: „Emphasis on living with the suffering rather than complaining about it, analyzing, or trying to avoid it.“

Da wurde nun eines Tages eine buddhistische Nonne eingeliefert, die sich in einem schweren Verwirrtheitszustand befand. Sie war ängstlich erregt, denn sie glaubte, Schlangen kriechen auf ihr herum. Europäische Ärzte, Psychiater und Psychologen hatten den Fall bereits aufgegeben, als eben der Zen-Psychiater beigezogen wurde. „Was ist los“, fragte er. „Ich fürchte mich so vor den Schlangen – überall sind da Schlangen um mich herum.“ Der Zen-Psychiater überlegte eine Weile, und dann sagte er: „Ich muß jetzt leider wieder gehen, aber in einer Woche komme ich wieder. Während dieser Woche möchte ich nun, daß Sie die Schlangen ganz genau beobachten – wenn ich Sie wieder besuche, müssen Sie nämlich ganz genau jede einzelne Bewegung beschreiben.“ Eine Woche später war die Nonne längst wieder normal und versah ihren Dienst. „Nun, wie geht’s“, fragte der Zen-Psychiater. „Ich hab die Schlangen so aufmerksam wie nur möglich beobachtet, aber das ging nicht lange, denn je mehr ich es tat, desto mehr machten sie sich aus dem Staube.“

 

Bliebe noch, das dritte pathogene Reaktionsmuster zu besprechen. Während das erste für angstneurotische und das zweite für zwangsneurotische Fälle charakteristisch ist, handelt es sich beim dritten pathogenen Reaktionsmuster um einen Mechanismus, dem wir bei Sexualneurosen begegnen, also in Fällen, in denen Potenz und Orgasmus gestört sind. Und zwar beobachten wir in diesen Fällen wieder, wie bei den Zwangsneurosen, daß der Patient kämpft, aber bei den Sexualneurosen kämpft er nicht gegen etwas – wir sagten doch, der Zwangsneurotiker kämpfte gegen den Zwang. Sondern der Sexualneurotiker kämpft um etwas, und er tut es insofern, als er, eben in Form von Potenz und Orgasmus, um sexuelle Lust kämpft. Aber leider: je mehr es einem um Lust geht, um so mehr vergeht sie einem auch schon. Dem direkten Zugriff entzieht sie sich nämlich. Denn Lust ist weder der wirkliche Zweck unseres Verhaltens und Handelns noch ein mögliches Ziel, vielmehr ist sie in Wirklichkeit eine Wirkung, eine Nebenwirkung, die sich von selbst einstellt, wann immer wir unsere Selbst-Transzendenz ausleben, wann immer wir uns also entweder liebend einem anderen oder aber dienend einer Sache hingeben. Sobald wir aber nicht mehr den Partner meinen, sondern nur noch Lust, steht dieser unser Wille zur Lust auch schon sich selbst im Wege. Die Selbst-Manipulation scheitert. Der Weg zu Lustgewinn und Selbstverwirklichung führt nun einmal über Selbst-Hingabe und Selbst-Vergessenheit. Wer diesen Weg für einen Umweg hält, ist versucht, eine Abkürzung zu wählen und auf die Lust wie auf ein Ziel loszusteuern. Allein, die Abkürzung erweist sich als eine Sackgasse.


Abb. 3

Und wieder können wir beobachten, wie sich der Patient in einem Teufelskreis verfängt. Der Kampf um die Lust, der Kampf um Potenz und Orgasmus, der Wille zur Lust, die forcierte, eine Hyper-Intention (Abbildung 3) der Lust bringt einen nicht nur um die Lust, sondern bringt auch eine ebenso forcierte, eine Hyper-Reflexion mit sich: man beginnt, während des Aktes sich selbst zu beobachten und auch den Partner zu belauern. Um die Spontaneität ist es dann geschehen.

Fragen wir uns, was in Fällen von Potenzstörung die Hyper-Intention ausgelöst haben mag, so läßt sich immer wieder feststellen, daß der Patient im Sexualakt eine Leistung sieht, die von ihm verlangt wird. Mit einem Wort, für ihn hat der Sexualakt einen Forderungscharakter. Bereits 1946 (Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, Franz Deuticke, Wien) haben wir darauf hingewiesen, daß der Patient „sich zum Vollzug des Sexualakts gleichsam verpflichtet fühlt“, und zwar könne dieser „Zwang zur Sexualität ein Zwang seitens des eigenen Ich oder der Zwang seitens einer Situation sein.“ Der Zwang könne aber auch von der Partnerin ausgehen („temperamentvolle“, sexuell anspruchsvolle Partnerin). Die Bedeutung dieses dritten Moments wurde inzwischen sogar an Tieren experimentell bestätigt. So konnte Konrad Lorenz ein Kampffisch-Weibchen dazu bringen, dem Männchen bei der Paarung nicht kokett davon-, sondern energisch entgegenzuschwimmen, woraufhin der Kampffisch-Mann, wie es heißt, menschlich reagierte: es verschloß sich ihm auf reflektorischem Weg der Paarungsapparat.

Zu den aufgezählten drei Instanzen, von denen sich die Patienten zur Sexualität gedrängt fühlen, kommen nun neuerdings zwei weitere Faktoren hinzu. Zunächst einmal der Wert, den die Leistungsgesellschaft nicht zuletzt auch auf die sexuelle Leistungsfähigkeit legt. Die peer pressure, also die Abhängigkeit des einzelnen Individuums von seinesgleichen und davon, was die anderen, die Gruppe, der er angehört, für „in“ hält, – die peer pressure führt dazu, daß Potenz und Orgasmus forciert intendiert werden. Aber nicht nur die Hyper-Intention wird solcherart im kollektiven Maßstab gezüchtet, sondern auch die Hyper-Reflexion. Den Rest von Spontaneität, den die peer pressure noch unangetastet läßt, nehmen dem Menschen von heute dann die pressure groups. Wir meinen die sexuelle Vergnügungsindustrie und die Aufklärungsindustrie. Der sexuelle Konsumationszwang, auf den sie es abgesehen haben, wird durch die hidden persuaders an die Leute herangebracht, und die Massenmedien geben sich dazu her. Paradox ist nur, daß sich auch der junge Mensch von heute dazu hergibt, sich solcherart vom Industriekapital gängeln und von der Sexwelle schaukeln zu lassen, ohne zu bemerken, wer ihn da manipuliert. Wer gegen die Heuchelei auftritt, sollte es auch dort tun, wo die Pornographie, damit es zu keiner Geschäftsstörung kommt, je nachdem für Kunst oder Aufklärung ausgegeben wird.

Die Situation hat sich zuletzt insofern verschärft, als immer mehr Autoren unter den jungen Leuten eine Zunahme der Impotenz beobachten konnten und diese Zunahme auf die moderne Frauenemanzipation zurückführen. So berichtet J. M. Stewart über „impotence at Oxford“: Die jungen Frauen, heißt es da, rennen herum und fordern ihre sexuellen Rechte („demanding sexual rights“), und die jungen Männer fürchten sich davor, von Partnerinnen mit viel Erfahrung für armselige Liebhaber gehalten zu werden (Psychology and Life Newsletter I, 5, 1972). Aber auch George L. Ginsberg, William, A. Frosch und Theodore Shapiro brachten unter dem Titel „Die neue Impotenz“ eine Arbeit heraus, in der sie ausdrücklich davon sprechen, daß „der junge Mann von heute insofern gefordert ist, als sich bei der Exploration erweist, daß in diesen Fällen einer neuen Form von Impotenz die Initiative zum Geschlechtsverkehr von der weiblichen Seite kam“ (Arch. gen. Psych. 26, 218, 1972).

Der Hyper-Reflexion treten wir logotherapeutisch mit einer Dereflexion entgegen, während zur Bekämpfung der in Fällen von Impotenz so pathogenen Hyperintention eine logotherapeutische Technik zur Verfügung steht, die auf das Jahr 1947 (Viktor E. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Franz Deuticke, Wien 1947) zurückgeht. Und zwar empfehlen wir, den Patienten dazu zu bewegen, daß er den Sexualakt „nicht programmatisch sich vornimmt, sondern es bewenden läßt bei fragmentarisch bleibenden Zärtlichkeiten, etwa im Sinne eines mutuellen sexuellen Vorspiels“. Auch veranlassen wir „den Patienten, seiner Partnerin gegenüber zu erklären, wir hätten vorderhand ein strenges Koitusverbot erlassen – in Wirklichkeit soll sich der Patient über kurz oder lang nicht mehr daran halten, sondern – nunmehr entlastet vom Druck sexueller Forderungen, wie sie bis dahin seitens der Partnerin an ihn ergangen waren – in einer zunehmenden Annäherung ans Triebziel heranmachen, auf die Gefahr hin, daß er von der Partnerin – eben unter Hinweis auf das vergebliche Koitusverbot – abgewiesen würde. Je mehr er refüsiert wird, desto mehr reüssiert er auch schon.“

William S. Sahakian und Barbara Jacquelyn Sahakian („Logo-therapy as a Personality Theory“, Israel Annals of Psychiatry 10, 230, 1972) sind der Ansicht, daß die Forschungsergebnisse von W. Masters und V. Johnson unsere eigenen durchaus bestätigt haben. Tatsächlich ist ja auch die 1970 von Masters und Johnson entwickelte Behandlungsmethode der 1947 von uns publizierten und soeben skizzierten Behandlungstechnik in vielen Punkten sehr ähnlich. Im folgenden sollen aber unsere Ausführungen wieder einmal kasuistisch belegt werden.