Hotel Berlin

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»Ich habe das Fräulein im Kino in ›Lieb in Fesseln‹ gesehen«, wagte sich der andere vor. »Habe leider nicht häufig die Gelegenheit, ins Kino zu gehen, aber der Film hat mir nu mal wirklich gefallen.« Seine Augen machten einen ausgiebigen Spaziergang über ihr Negligé. Plötzlich hatte Lisa genug von den beiden. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte sie. »Ich hoffe, daß Sie finden, was Sie suchen.«

»Bitte vielmals um Entschuldigung«, stammelten die beiden, zur Tür stolpernd. »Wir tun nur unsere Pflicht. Entschuldigen das Fräulein bitte die Störung. Heil Hitler.«

Kaum waren sie draußen, als Lisa eine unangenehme Möglichkeit in den Sinn kam. Schnell lief sie ins Badezimmer, aber Gott sei Dank, ihre kostbare Roger-und-Gallet-Seife war noch da; nur das kleine graue Stückchen rationierter Seife war verschwunden. Während sie noch so dastand, unschlüssig, ob sie lachen oder ärgerlich werden sollte, hörte sie ein sonderbares Geräusch im Zimmer nebenan. Sie stieß die Tür auf.

Der Kellner war in Ohnmacht gefallen.

Ein paar Augenblicke lang war Lisa völlig ratlos. Von alledem, was man ihr im Rot-Kreuz-Kurs beigebracht hatte, war plötzlich nichts mehr da. Sie kniete neben dem Mann nieder, nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Dann holte sie Wasser und goß es auf eine Serviette. Sie wusch sein Gesicht, rieb seine Handgelenke. Schließlich erinnerte sie sich, lockerte seinen Kragen und öffnete sein Hemd. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die entblößte Brust des Kellners, um seinen Herzschlag zu fühlen. Seine Haut war heiß und feucht. Ihre widerstrebenden Finger stießen an einen wulstigen, dunkel-verkrusteten Verband an seiner linken Schulter. Als sie diesen Verband etwas anhob, begann ein dünnes rotes Rinnsal über die Brustwarze an seiner linken Brust hinabzurinnen.

Auf der Bühne und im Film war Lisa in ungezählte problematische Situationen geraten, die sich alle nach den strengen und auf Wirkung bedachten Gesetzen des Dramas gelöst hatten; aber nun ergriff sie eine wilde Furcht. Sie ließ den Kopf Kellners von ihrem Schoß auf den Fußboden gleiten, wo er mit einem dumpfen Laut aufschlug. Über den Saum ihres Negligés stolpernd, stürzte sie zum Alkoven, riß den Hörer vom Telefon, das auf ihrem Nachttisch stand, und verlangte mit heiserer Stimme nach Herrn Kliebert.

»Legen Sie den Hörer auf«, sagte plötzlich der Mann auf dem Fußboden. Es war, als wenn ein Toter unerwartet zu reden begonnen hätte. Lisa rang nach Atem. »Legen Sie den Hörer auf, sofort!« wiederholte er.

Lisa stand da, den Hörer in der Hand, ihr Herzschlag flatterte wie ein verängstigter Vogel. Schwankend hatte der Kellner sich zu einer halbsitzenden Haltung aufgerichtet. Lisa kam sich vor wie in einem jener Alpträume, in denen sie auf einer unbekannten Bühne stand und in einem Stück spielte, von dem sie nie gehört hatte, eine Rolle, von der sie auch nicht ein einziges Wort wußte. In der Sekunde, die sie brauchte, um sich zu fassen, warf sich der Mann nach vorn und riß den Telefonstecker aus der Steckdose. Dies kam ihr plötzlich bekannt vor (»Ufermenschen«, zweiter Akt, dritte Szene), und in ihrem Kopf tauchte sogar ein Stichwort auf.

»Wenn Sie noch eine Bewegung machen, schieße ich«, sagte sie mit einer Stimme, die klein und armselig klang.

»Schön – schießen Sie. Schießen Sie nur. Mir ist schon alles egal«, flüsterte Martin. Er war so erschöpft, so erledigt, daß er für einen Augenblick bereit war, sich aufzugeben. Nur die Augen schließen, sich aufgeben, und alles war vorbei …

Lisa schoß nicht. Erstens hatte sie keine Waffe, und zweitens würde sie doch nicht gewußt haben, wie man schießt. Ihre Angst verebbte, und sie fühlte etwas wie mitleidige Neugier für den Eindringling. Er sah so abgezehrt aus, so ganz und gar verzweifelt. Sein unrasiertes Gesicht war sonnenverbrannt, aber seine Lippen waren fast weiß. Er hatte brennende blaue Augen, in die tiefen Schatten dunkler Augenhöhlen und schwerer schwarzer Augenbrauen gebettet. Mit seiner entblößten Brust im feierlichen Schwarz des Fracks wirkte er geradezu komisch. Das Blut hatte aufgehört zu rinnen.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie hier? Sie haben mich erschreckt«, sagte sie. Martin versuchte seinen Blick auf sie zu konzentrieren, aber er konnte alles nur verschwommen erkennen, als ob er unter Wasser schwimmen würde. Endlich ließ das Schwindelgefühl nach, und er konnte sie deutlich sehen. Sie saß auf dem Bett, ihre Knie bis ans Kinn hochgezogen, sie war zierlich, verwöhnt, reich und schamlos; sie duftete nach Parfüm, und er haßte jeden Zentimeter ihrer kleinen Person.

»Geben Sie mir eine Zigarette«, verlangte er rauh. Sie deutete auf den Tisch, auf dem ihre goldene Zigarettendose lag. Sie enthielt nurmehr eine letzte Zigarette. Automatisch, wie dies nur ein Frontsoldat tat, brach er sie in zwei Teile, steckte eine Hälfte in seinen Mund und hielt ihr die andere hin.

»Danke«, sagte sie. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann sie zu rauchen. Als der bittere Rauch in seine Lungen strömte, war sich Martin darüber klar, daß die Gefahr gebannt war. »Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte er in dem Versuch, vernünftig zu erscheinen. »Ich leide an gelegentlichen Ohnmachtsanfällen, möchte aber nicht, daß es Aufsehen gibt. Ich kann mir’s nicht leisten, meine Stellung zu verlieren, wissen Sie«, fügte er mit einem bleichen, verkrampften Lächeln hinzu.

»Sind Sie krank?« fragte Lisa.

»Nicht wirklich krank. Ein bißchen angeknackst vielleicht. Hab’ eine Kugel in die Brust gekriegt – in Stalingrad. Sie haben mich zusammengeflickt und die Lunge für eine Weile stillgelegt; haben’s sogar recht gut gemacht, die russischen Doktoren. Wie ich dann aus der Gefangenschaft durchbrannte und nach Hause kam, kriegte ich den Gefrierfleischorden und wurde mit Ehren aus dem Militärdienst entlassen. Aber das ist eine lange Geschichte.« Red’ doch weiter, du Idiot, sagte er zu sich selbst; versuche, Zeit zu gewinnen. Mach’, daß sie dich was fragt. Mach’, daß du ihr leid tust …

»Ihre Mutter muß sehr stolz auf Sie sein«, sagte Lisa. »Dulce et decorum est pro patria mori.«

Wo haben Sie denn diesen Quatsch aufgeschnappt, Fräulein Dorn? dachte er. Laut sagte er: »Meine Mutter ist tot.«

Lisa fuhr fort, ihn forschend zu betrachten. Im großen und ganzen mißfiel ihr die Situation keineswegs. Das war doch mal was anderes. Das Dramatische daran sprach sie an. Sie fühlte sich jetzt sicher. Sie entschied sich, noch ein wenig weiter zu gehen, sie konnte ja aufhören, wann immer ihr es beliebte.

»Was haben Sie angestellt, daß Sie von der Polizei gesucht werden?« fragte sie ihn.

»Die Polizei sucht nicht nach mir. Gott weiß, wen die suchen, aber ich bin’s bestimmt nicht.«

»Sie müssen mich für dümmer halten, als ich bin. Es ist doch ganz klar, daß Sie kein Kellner sind und daß Sie von der Polizei gejagt werden.«

»Schön. Wenn Sie das glauben, warum liefern Sie mich dann nicht aus?« fragte er. Es war reine Tollkühnheit, aber er fragte es. Ich kann noch immer vom Balkon aus über das Dach entkommen, dachte er. Er wartete.

»Ich bin kein Gestapoagent«, erwiderte Lisa nach einer kleinen Pause. Sie setzte ihre bloßen Füße auf den Boden, faltete ihre Hände im Schoß und lächelte ihn an. Martin ging zum Tisch und fing an, die leergegessenen Teller aufzustapeln. Lisa beobachtete ihn gespannt.

»Wenn das gnädige Fräulein mit dem Abendbrot fertig sind, kann ich jetzt wohl den Tisch hinausnehmen«, sagte er höflich. Ihre Augen folgten ihm, als er das Tischchen zur Tür rollte. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf und spähte nach allen Seiten in den Korridor hinaus. Ein SS-Mann stand in lässiger Haltung am Ende des Ganges. Es war nicht einer der beiden Polizisten, die den Raum durchsucht hatten. Martin zuckte in den Schutz der Tür zurück. Jetzt bin ich in der Falle, dachte er verzweifelt. Jetzt ist es aus mit mir. Jetzt haben sie mich doch gekriegt. Ich könnte versuchen, den Tisch ganz kaltblütig an dem Posten vorbeizurollen. Ja – und was dann? Wohin rollen? Ich werde ja doch an der nächsten Ecke eingefangen. Seit seiner Flucht war er von einer gefährlichen Situation in die andere gehetzt worden. Gefahr, höchste Gefahr bei jedem Schritt; auf der Straße, im Schilf am See, hinter den Marktständen, im Heizraum, im Weinkeller. Er hatte gewußt, daß er verloren war, als Gaston ihn aus dem Keller herausgeholt und ihm in Panik diese ungeschickte Verkleidung aufgezwungen hatte, ihn in dieses parfümierte Zimmer hineinstieß, als schon die Gestapoleute die Treppe heraufkamen. Nun hatten sie draußen überall Wachen aufgestellt, auf jedem Korridor, in jedem Treppenhaus, bei jeder Tür und jedem Ausgang. Der SD war von einer erschreckenden Tüchtigkeit und litt noch lange nicht an einem Mangel an Arbeitskräften. Sein Hirn durchraste jede Fluchtmöglichkeit, vergleichend, verwerfend. Wenn er bloß in diesem Zimmer bleiben könnte. Dann würde Gaston vielleicht irgendeinen Weg finden, um ihn herauszuholen. Rindelenstraße 39, nach Walter fragen. Berlin N. schien so weit entfernt wie der Saturn …

»Wenn Sie mich verraten, bringe ich Sie um«, flüsterte er heiser. Sein Mund war wieder trocken geworden, und er konnte nur mit Mühe sprechen. Aber auch dies war ein Stichwort, das Lisa von der Bühne her kannte, und deshalb erschreckte es sie nicht im geringsten. Sie mußte, im Gegenteil, lächeln, als sie nicht ohne Mitleid antwortete: »Warum fürchten Sie sich eigentlich so sehr vor mir? Ich bin ja mäuschenstill.«

Plötzlich verließ ihn die Spannung, und er erschlaffte. »Sie haben recht«, sagte er. »Sie sind hinter mir her. Ich bin in der Falle. Wenn Sie mich verraten, geht mein Kopf morgen früh unters Beil.«

Es war fraglich, ob Lisa die Bedeutung dieser Worte erfaßte, sie war an eine Scheinwelt voll Gefahren, hochtönenden Leidenschaften und großen Worten gewöhnt; sie fuhr fort zu lächeln, als ob er seinen Text gut gesprochen hätte. Ich täte besser daran, sie zu fesseln und zu knebeln, dachte Martin, während sie sich ihre Antwort überlegte. Das Schrum-Schrum der Baßgeige tönte in der Stille.

 

In Lisas Leben hatte es noch nie einen Konflikt gegeben. Ihre Laufbahn war leicht und mühelos gewesen. Ihre Kollegen hatten sie gern, das Publikum betete sie an. Bei den einfachen Leuten auf der Straße, den Lastwagenfahrern, den Soldaten im Felde hieß sie einfach: Unsre Liesel. Sie spielte die besten Rollen in den besten Stücken in Deutschlands bestem Theater. Das war das einzige, was sie wußte. Da sie glücklich und erfolgreich war, erschien ihr das ganze Universum in bester Ordnung. Möglicherweise hatte Lisa nie einen Konflikt gekannt, weil sie nie geliebt hatte. Die Männer, die das Land regierten, waren ihre Freunde, und sie war stolz darauf. Es hatte sie nicht die geringste Überwindung gekostet, mit einigen von ihnen intim zu werden. Sie hatte jeden ihrer Freunde gern gehabt, respektiert und bewundert, genau so, wie sie jetzt den General respektvoll und bewundernd gern hatte. Im geheimen taten ihr jene großen Männer, in deren Seelenleben sie einen flüchtigen Einblick getan hatte, sogar ein bißchen leid. Denn Männer wie der General waren alt, und alte Männer waren immer müde und sorgenvoll; selbst wenn sie Macht besaßen und die Welt vor ihnen zitterte, waren alte Männer merkwürdig demütig und empfindlich, sobald sie sich in eine junge Frau verliebten. Es war eine große Befriedigung, gütig und freigebig zu einem mächtigen Mann wie es der General war, sein zu können. Und deshalb war der bittere Konflikt zwischen Liebe und Pflicht noch nie in Lisas Leben getreten. Auch die Konvulsionen, die die Welt erbeben ließen, hatten sie nur oberflächlich berührt. Sie liebte ihr Vaterland und hatte niemals Deutschlands Überlegenheit angezweifelt. Sie war überzeugt, daß alles Edle und Feine in dieser Welt deutsch war. Deutsche Musik und deutsche Dichtung, deutsche Wissenschaft, deutsche Philosophie, das deutsche Theater, der deutsche Film, die deutsche Landschaft – der sie übrigens mit einer tiefen und innigen Zuneigung verbunden war. In aller Unschuld und Unwissenheit war Lisa als ein Kind des Dritten Reiches aufgewachsen und glaubte ohne Gewissensbisse oder Zweifel an das Evangelium der Neuen Ordnung. Es war ihr in die Ohren geblasen worden, daß es Deutschlands Sendung sei, diese Neue Ordnung über den Rest der Erde zu verbreiten; wenn sie überhaupt jemals über all dies nachdachte, machte es sie glücklich zu wissen, daß eines Tages die ganze Welt an diesen Sendungen teilhaben würde. In ihrer Vorstellung bestand alles, was nicht deutsch war, aus Chaos und Unordnung, aus Egoismus und barbarischer Grausamkeit. Was die Feinde des Reiches betraf, die Bolschewiken, Amerikaner, Juden und Demokraten, so hatten sich ihre Vorstellungen nach den Vorbildern auf den Propagandaplakaten geformt: Sie waren verkommen, verkrüppelt, sie schielten, hatten Hakennasen, waren äußerst abstoßend und feige, reif zur Vernichtung.

»Viel Feind, viel Ehr«, hieß das alte deutsche Sprichwort. Da war der Krieg, den man Deutschland aufgezwungen hatte. Da waren unvermeidliche Verluste, und einige von Lisas Freunden waren den Tod auf dem Felde der Ehre gestorben. Aber sogar das hatte niemals den Kern ihres Wesens berührt. Im Kampf zu fallen war heldenhaft, edel und nicht ganz wirklich; es war ein bißchen so, wie auf der Bühne getötet zu werden. Sobald das Stück aus war, wurden die Toten wieder lebendig, verbeugten sich vor dem Vorhang, und dann gingen sie hin und aßen bei Kranzler zu Abend. Irgendwie waren die Menschen, die im Krieg fielen, für Lisa nicht wirklich tot. Nach dem Krieg würden sie nach Hause zurückkehren.

Deshalb hatte es in Lisas Leben noch nie einen Konflikt gegeben, und auch jetzt gab es keinen. Sie zögerte nicht für eine Sekunde, wie sie sich in dieser Situation benehmen sollte. Sie hatte nie von einem Theaterstück gehört, in dem die Heldin einen Flüchtling an den Henker ausgeliefert hätte. So etwas hätte in der Tat ein sehr schwaches Theaterstück und eine schlechte Rolle abgegeben. Und obwohl die Lehren der Nazis von Lisas Verstand Besitz ergriffen hatten, so war ihr Herz doch unversehrt.

»Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten«, sagte sie noch einmal, und in ihrem Mitleid war eine Spur von Spott. »Wenn es wirklich so schlimm um Sie steht, können Sie noch ein paar Minuten hierbleiben.«

»Danke«, sagte Martin, sie aus brennenden Augen beobachtend. Er war nicht sicher, ob er ihr trauen konnte.

»Gehen Sie ins Badezimmer, waschen Sie sich und ziehen Sie dieses lächerliche Kostüm aus«, sagte sie mit einem kleinen Lachen tief in ihrer Kehle. Sie schien die ganze Sache als einen guten Spaß zu betrachten. Er zögerte einen Augenblick, doch dann ging er ins Badezimmer, ließ die Tür aber offenstehen und fuhr fort, sie im Spiegel zu beobachten. Wenn sie versuchen würde, das Telefon wieder einzustöpseln oder die Wachen hereinzurufen – aber sie tat nichts von alledem. Sie legte sich auf dem Bett zurück, die Arme unterm Kopf gekreuzt, und summte eine Melodie. Martin entspannte sich. Sein eigenes Bild im Badezimmerspiegel gab ihm einen Schock; er sah schrecklich aus: abgemagert und unrasiert, das Haar starr von kaltem Schweiß; seine Brust, von eingetrocknetem Blut verschmiert, sah nackt und lächerlich aus Gastons altem Frack hervor. Schnell zog er diesen idiotischen Frack aus, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und tauchte seinen Kopf hinein. Es war so herrlich, wie an einem heißen Hochsommertag in einen kalten grünen Bergsee zu tauchen. Er trank die Hälfte des Waschbeckens leer, nicht wie ein Mensch, sondern wie ein durstiges Tier; dann füllte er es wieder, spülte mit dem kalten Wasser seine Brust und rieb seine Arme, bis sie glühten. Er löste den verkrusteten Notverband, den er sich aus seinen Socken gemacht hatte, und untersuchte die Wunde an seiner Schulter. Es war eine üble Wunde mit ausgerissenen, klaffenden Rändern, die ungut pochte. Für ein paar Augenblicke hatte er ganz das Mädchen vergessen. Als sein Blick dem ihren wieder im Spiegel begegnete, lag sie noch immer auf ihrem Bett und lächelte, als ob sie keine Ahnung hätte, daß es gefährlich war, ihn zu verstecken. In dem Medizinschränkchen über dem Waschbecken fand er ein Fläschchen Jod und, die Zähne zusammenbeißend, pinselte er die Wunde damit aus. Seine Schulter schien dazu noch ausgerenkt zu sein. Als er das Jod zurückstellte, stieß er auf einen kleinen Rasierapparat. Er drehte und wendete das winzige Ding in seiner Hand. Schließlich ging er dazu über, sein Gesicht mit Seife einzureiben und sich mit großer Konzentration die Bartstoppeln abzurasieren. Nun fühlte er sich besser. Viel besser fühlte er sich jetzt. Er warf eines der feuchten Handtücher um seine Schultern und kehrte ins Nebenzimmer zurück. Lisa nahm die Verwandlung mit einem schnellen, belustigten Blick zur Kenntnis.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie. »Sie sehen müde aus. Und was haben Sie da an der Schulter?«

»Die habe ich mir an einem Meilenstein aufgerissen. Der Polizei-Lkw hatte 80 Kilometer drauf, als ich absprang, und meine Hände waren gefesselt. Das macht einen ungeschickt.«

Lisa kaute auf diesem Krümelchen von Erklärung herum. »Jetzt erzählen Sie mir einmal, warum Sie verfolgt werden«, verlangte sie. »Sie sehen nicht aus wie ein Verbrecher.«

»Man braucht kein Verbrecher zu sein, um den SD hinter sich her zu haben – oder wissen Sie das vielleicht nicht, Fräulein Dorn? Die Sache liegt gerade umgekehrt. Die größten Verbrecher sind bei der Gestapo und dem SD untergekommen«, sagte er schroff. Lisa erinnerte sich, daß der General in einem seiner Wutausbrüche etwas Ähnliches geschrien hatte, aber damals hatte es keinen Eindruck auf sie gemacht.

»Wie können Sie erwarten, daß ich Ihnen helfe, wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?« sagte sie beinahe schüchtern.

Martin wägte alle Möglichkeiten ab und entschied, daß es am besten sei, die Wahrheit zu sagen. »Ich bin Martin Richter«, erklärte er.

»Ja – und?« fragte sie unbeeindruckt. »Ich habe den Namen nie zuvor gehört.«

»Nein. Sie haben sicher noch nichts von mir gehört, nichts von mir und nichts von den andern, von meinen Freunden, von meiner Schwester. Sie nicht –«, sagte er mit tiefer Bitterkeit. Es gab Lisa einen Stich. Da war sie nun, gütig und großzügig, und versuchte ihm beizustehen, aber er schien weder dankbar dafür, noch so demütig, wie es ihm zukam.

»Es ist möglich, daß ich sehr wenig weiß, aber ich bin stets zum Lernen bereit«, sagte sie ärgerlich. (… ein unerzogenes, ungelehrtes Mädchen, darüber beglückt, daß sie noch nicht zu alt zum Lernen ist … Porzias Worte kamen ihr in den Sinn.)

»Wozu das alles? Wenn ich Ihnen die Wahrheit erzählen würde, dann würden Sie mir doch nicht glauben. Sie wollen sie wissen? Schön. Ich will sie Ihnen also sagen: Einer von den Parteiführern hat meine Schwester wie eine Prostituierte behandelt, und ich habe sie verteidigt. Das ist alles. Das ist mein Verbrechen.«

»Haben Sie ihn getötet?« fragte Lisa, die mit Schillers Dramen großgezogen worden war. Er antwortete nur mit einem grimmigen kurzen Lachen. »Ihn getötet? Nein. Ich wollte, ich hätte es getan. Es ist uns braven kleinen Studenten einfach nicht eingefallen, daß wir einen Gauleiter töten könnten. Wir haben bloß ein bißchen getrampelt und gezischt. Das hat bis jetzt vierzehn von uns den Kopf gekostet, und meiner ist auch nicht sicher. Erst jetzt verstehe ich, daß wir Rebellion gespielt haben wie die Kinder. Eine kleine Geheimdruckerei, ein Flugblatt, eine kleine Demonstration, ein kleiner Aufstand – und vierzehn von uns sind tot. An Mord hatten wir nicht gedacht. Aber wir lernen, wir lernen schnell. Wenn ich diesmal lebend davonkomme, werde ich besser wissen, was getan werden muß.«

Schweigend beobachtete Lisa den erregten Jungen. Jetzt hatte sie ein bißchen Angst vor ihm, aber nicht sehr. Es war ein prickelndes, aufregendes Gefühl, wie sie es nie zuvor im täglichen Leben erfahren hatte – nur in ihren großen Szenen auf der Bühne. Wann immer ich genug davon habe, kann ich ja um Hilfe rufen, sagte sie sich. Martin hatte begonnen, das Zimmer auf geräuschlosen Sohlen zu durchmessen, um sich mit jedem Detail bekannt zu machen, wie es ihm während des russischen Feldzugs zur zweiten Natur geworden war. Vorsichtig erwog er im Geist alle Möglichkeiten des Angriffs und der Verteidigung.

»Wohin führt dieser Balkon?«

»Nach der Straße; er liegt über dem Haupteingang.«

»Und das Fenster im Badezimmer?«

»Nach dem Hof.«

»Was liegt denn neben dem Badezimmer?«

»Ich glaube, die Herrentoilette.«

Martin untersuchte das Badezimmer. Es hatte keinen zweiten Ausgang. Das ist schlimm, dachte er. Er drehte das Licht ab, zog den schwarzen Rollvorhang hoch und öffnete das Fenster. Der Hof war abgedunkelt, aber beim Schimmer des aufsteigenden Mondes konnte er sehen, daß unter ihm ein Glasdach war; auch dieses war abgedunkelt. Martin nahm an, daß es die Hotelhalle überdeckte. Die Musik vom Bankettsaal herauf wurde ein wenig lauter. Undeutlich unterschied er Balkone und Regenrinnen. Im schlimmsten Fall konnte man irgendwo da draußen einen Halt finden. Zur Vorsicht ließ er das Licht im Badezimmer abgedreht und das Fenster geöffnet. Er kehrte ins Zimmer zurück.

»Was liegt auf der andern Seite neben der Herrentoilette?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe das Hotel nicht gebaut. Ich glaube, da wohnt ein kranker englischer Schriftsteller. Geoffrey Nichols. Er ist so eine Art Kriegsgefangener, wissen Sie?«

Martin schob die Türe von ihrem Ankleideschrank zurück. Seine Hand wühlte sich durch die Kleider und berührte die Hinterwand. Kein Ausgang, aber im Notfall war dieser Schrank tief genug, um als Versteck zu dienen. An der Wand waren vier Schiebetüren und eine, die nur so aussah.

»Was ist das?«

»Das seh’n Sie ja – eine Tür. Sie ist zugesperrt.«

»Wer wohnt im Zimmer nebenan?«

»Das ist kein Zimmer. Die Tür geht nach dem kleinen Treppenabsatz beim Personalfahrstuhl.«

»Geben Sie mir den Schlüssel.«

»Ich habe keinen. Ich benütze diese Tür nie. Sie ist für die Zimmermädchen.«

Martin ging zum Tisch, auf den Lisa ihren Zimmerschlüssel gelegt hatte; es war ein unhandliches Ding, mit einem Kettchen an einem plumpen Holzpflock befestigt. Nummer 69. Er nahm den Schlüssel und versuchte damit, die Hintertür aufzusperren, was auch nach einigen Mühen gelang. Lisa beobachtete Richter mit glänzenden, interessierten Augen.

»Warum wollen Sie diese Tür offenlassen?«

»Sollte ich fliehen müssen.«

 

»Wenn Sie hinauskönnen, dann kann ebensogut jemand hereinkommen«, sagte Lisa vernünftig. Er lachte sie an, es war ein Aufleuchten von Humor, das sein Gesicht vollkommen veränderte. Aber dieses Lachen war so schnell verschwunden wie ein Blitzstrahl, der eine Landschaft für einen Moment aus der Nacht hebt und sie wieder in Dunkelheit zurückfallen läßt.

»Sie sind klug, Fräulein Dorn«, sagte er anerkennend, sperrte beide Türen zu und behielt den Schlüssel in der Hand.

»Wenn Sie sicher sein wollen, müssen Sie den Riegel vorschieben«, sagte Lisa mit halb unterdrücktem Lachen. Es war ihr plötzlich eingefallen, daß der General einen Schlüssel zu ihrem Zimmer besaß und jeden Augenblick hereinspazieren konnte. Aber noch spielte die Musik, jetzt, da das Badezimmerfenster offenstand, hörte man sie lauter als zuvor; es war ein sicheres Zeichen dafür, daß der Empfang unten noch im Gange war. Martin schob die Riegel an beiden Türen vor, und seinen Rücken gegen die Wand lehnend, betrachtete er sie mit einem nachdenklichen und etwas erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht.

»Sie haben keine Angst vor mir?«

»Nicht halb soviel Angst, wie Sie vor mir haben, das kann ich Ihnen versichern«, antwortete Lisa beinahe übermütig. »Nun hören Sie einmal auf, sich wie ein gefangener Tiger zu benehmen; setzen Sie sich nieder und nehmen Sie sich zusammen. Atmen Sie tief durch; das tue ich immer, wenn ich Lampenfieber habe. Und nun erzählen Sie mir die ganze Geschichte von Anfang an. Was Sie da vorher sagten, klingt wie lauter Unsinn. Los.«

Warum kommt Gaston nicht? fragte sich Martin verzweifelt. Wie lange kann ich mich noch hier versteckt halten? Wann wird dieses Bündel von Launenhaftigkeit ihrer Kaprize überdrüssig werden und mich ausliefern? Los, jetzt! Erzähl ihr eine Geschichte, Junge, aber eine gute! Eine merkwürdige Scheherezade haben sie aus dir gemacht. Erzähl doch was, es geht ums Leben …

Er faltete seine Hände zwischen den Knien und senkte den Kopf, um sich besser konzentrieren zu können.

»Ich weiß nicht, wie die ganze Geschichte anfing, nicht wann, nicht wo. Vielleicht war es in Stalingrad. Wann immer ich versuche, mir die Dinge, die passiert sind, ins Gedächtnis zurückzurufen, komme ich nicht weiter als bis zu der Nacht, da Kurt starb. Kurt war mein Kamerad, wir hatten zusammen eine Menge durchgestanden. Er bekam einen Granatsplitter in den Bauch; als die blutigen Gedärme aus seinem Bauch quollen, versuchte er, sie wieder hineinzustopfen. Das kann man oft sehen im Krieg. Jungens, die ihre zerschmetterten Beine und Arme festhalten, als ob sie wieder ganz gemacht werden könnten. So was sieht komisch aus. Kurt starb sehr schwer. Fünf Stunden lang schrie er wie ein angestochenes Schwein. Es heißt, daß die Verwundeten nicht schreien – und wie sie schreien, Fräulein Dorn! Nach Mitternacht hatte er keine Kraft mehr zum Schreien, und bald danach starb er. Wir konnten es nicht sehen, weil in dem Keller, wo wir uns eingebuddelt hatten, pechschwarze Nacht war, aber wir wußten, daß er tot war. Wir verteilten seine Uniform und wickelten uns in die verschiedenen Stücke, denn es war so kalt, daß die Kälte einem auf der Haut brannte. Wir konnten Kurt nicht begraben, weil die Erde gefroren war. Wir stapelten die Leichen unserer Kameraden gegen die Wand wie Gefrierfleisch. Daß Kurt sterben mußte, war so sinnlos. Er war so ein netter Junge und wollte so gerne leben. Es quälte ihn, daß wir das Leben versäumten, während wir im Krieg waren. Wenn er vom Leben sprach, klang das, als ob es ein Eisenbahnzug wäre, den er Angst hatte, zu verpassen. Er hatte ein Mädel zu Hause, wollte Architekt werden. Manchmal redete er stundenlang von all den Dingen, die er nach dem Krieg tun würde. Wir alle haben so von Zeit zu Zeit vor uns hin phantasiert.

Wie wir uns in den Keller einbuddelten, waren wir zwölf, aber nachdem Kurt zu schreien aufgehört hatte, waren nur mehr vier von uns übrig. Das Höllische daran war, daß die Bolschies sich in demselben Haus eingenistet hatten, im oberen Stockwerk. Das Dach war schon wegrasiert worden, bevor wir kamen. Großer Gott, der Gestank von Pulver und Menschenleibern – den Gestank werde ich nie mehr aus meiner Nase kriegen! Wir hatten überhaupt nichts mehr; nichts zu essen, keine Zigaretten, keine Streichhölzer, keine Munition, zum Schluß konnten wir nur mehr mit unsern Bajonetten kämpfen. Wir warteten auf Verstärkung von der Sechsten, und die Bolschies warteten auf ihre Truppen. Inzwischen brachten wir uns gegenseitig um. Wenn man erst einmal anfing, darüber nachzudenken, war gar kein Sinn und Verstand drin. Entweder waren die Bolschewiken unsere Feinde, oder sie waren es nicht; entweder war dieser Krieg Deutschland aufgezwungen worden, oder Deutschland hatte ihn den anderen aufgezwungen. Erinnern Sie sich noch an die Rede des Führers vom zweiten September 1939? Nie wieder wird es geschehen, daß Deutschland und Rußland einander im Kampf gegenüberstehen! Jawohl, und da waren wir nun, in Stalingrad, und Tausende krepierten auf beiden Seiten. Das gab uns zu denken. Wir redeten oft darüber, wir bewegten uns mit unseren Gedanken im Kreis. Wenn man einmal begonnen hatte, den Faden abzuspulen, dann lief die ganze Geschichte auseinander. Ja, so fing es an. Sie wissen nicht, wie es in Stalingrad war. Das war nicht eine Hölle, das waren zehn Höllen, eine immer schlimmer als die andere. Zuerst waren wir ganz sicher, daß wir die Stadt einnehmen würden; nach und nach waren wir nicht mehr so sicher. Dann waren wir noch immer sicher, daß unsere Divisionen kommen und uns herausschießen würden. Wir warteten und warteten. Über das Radio bekamen wir unsere Befehle, wir gehorchten den Befehlen, glaubten noch immer an den Quatsch, und später warteten wir nurmehr darauf, daß unsere Flugzeuge kamen und Lebensmittel abwarfen. Schließlich wußten wir, daß sie uns aufgegeben hatten. Ihr hier zu Hause habt das nie erfahren. Alles, was euch gesagt wurde, war, daß unsere tapferen Truppen sich erfolgreich vom Feinde abgesetzt hätten. Derweil krepierten wir in unserem Keller, während die Generäle sich davonmachten; wir wurden den Wölfen vorgeworfen, damit unsere Generäle Zeit hatten, ihre kostbare Haut zu retten. Ja, ich glaube, daß es damals anfing. Wenn man erst einmal begann nachzudenken, dann kam man bald darauf, daß alles Lüge war.«

Martin verstummte; seine Stimme war heiser geworden, als der alte Kummer, die alte Wut wieder aufbrachen.

»Sprechen Sie weiter«, flüsterte Lisa, abgestoßen und fasziniert zugleich. »Weiter – weiter –«

»Ich hatte genug Zeit zum Nachdenken«, sagte er, ruhiger. Seine Augen waren auf die Fotografie des Generals geheftet, aber seine Gedanken rasten über die hartgefrorenen Steppen der Vergangenheit. »An dem Tag, an dem ich den Lungenschuß erwischte, waren nur noch zwei von uns im Keller am Leben. Ich war bewußtlos. Sie hätten einfach Schluß mit mir machen können, aber sie nahmen mich gefangen. Ich kam zu mir, weil der russische Arzt, der mich operierte, nicht genug Betäubungsmittel hatte. Immerhin – er hat es gut gemacht. Als es anfing, mir besser zu gehen, gaben die Russen mir sogar Bücher. Deutsche Bücher. Natürlich war alles Propaganda und machte zunächst keinen Eindruck auf mich. Erst viel später wurde mir klar, wieviel davon hängengeblieben war. Damals war ich noch ein treuer deutscher Soldat. Ich hatte solches Heimweh nach Deutschland. Alles, was ich denken konnte, war immer nur: Deutschland, Deutschland, Deutschland!«

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