Hotel Berlin

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»Zu Befehl, Herr Oberleutnant«, sagte Tilli und salutierte abermals. »Komm, laß uns erst mal in die Bar gehen und unser Wiedersehen begießen, ja?«

»Vorschlag angenommen«, sagte Kauders mit preußischer Schnoddrigkeit im gequetschten Sächsisch. Das Pervitin hatte ihn erheblich aufgeputscht, aber auch gleichzeitig seine Empfindlichkeit gesteigert, und er spürte den Schmerz in seinen Brandwunden.

»Wer ist denn die Dame, um die da soviel Aufhebens gemacht wird?« fragte er, als er gegen die Menschenmauer stieß, die sich um die Schauspielerin gebildet hatte.

»Die? Das ist doch die Lisa Dorn«, sagte Tilli verbittert. Sie war eifersüchtig auf Lisa, und sie hatte mehr als einen Grund dafür. Lisa war so jung, wie sie selbst gerne gewesen wäre; Lisa hatte Erfolg, Geld und einflußreiche Freunde und genoß alle die Vorteile, die man durch gute Verbindungen im Dritten Reich erlangen konnte. Die Dorn konnte mit einem »Billet de couturier« nach Paris fahren und sich dort so viele neue Kleider kaufen, wie sie wollte; während Tilli ihre zwei alten Fetzen immer wieder ändern und flicken mußte. Die Dorn hatte so viele Zigaretten, wie sie nur wollte, und Nahrungsmittel haufenweise, sogar Milch, und ab und zu eine Orange – Kunststück, daß ihre Haut immer frisch blieb und ihr Haar seinen Glanz nicht verlor, während Tilli sich schlechte Fettschminke auf ihre graue anämische, vitaminhungrige Haut schmieren und sich mit ihrem gebleichten Haar herumärgern mußte, das spröde war und infolge Unterernährung immerfort ausfiel. Den allerbittersten Haß aber empfand Tilli gegen Lisa Dorn, weil die Schauspielerin so viele Schuhe hatte, wie sie nur wollte; weil sie nicht nachts schlaflos zu liegen brauchte, den Kopf voller verwickelter und erniedrigender Pläne, was die Erwerbung von einem Paar Schuhe anlangte – einem einzigen Paar anständiger Schuhe …

»Wahrhaftig? Die berühmte Dorn? Die Lisa Dorn? Tatsächlich? Die möchte ich aber gern kennenlernen«, sagte der Oberleutnant mit dem leicht beeindruckbaren Schuljungenherzen.

»Die würde dich noch nicht mal anspucken, mein Herzchen! Die geht nur mit Alten; schau dir das doch an: alles alte Männer, Herren mit Brieftasche, und Parteibonzen, die ihr alles geben können, was sie verlangt. Ich bin darin ganz anders. Mir gefallen die Jungen.«

»Was hast du gesagt?« fragte der Flieger; er hatte ihr gar nicht zugehört, sondern immerfort fasziniert die junge Schauspielerin angestarrt.

»Ich sagte, daß ich mir lieber einen jungen Flieger nehme, so ’nen netten lieben Kerl wie dich, Schnucki«, sagte Tilli, sich an ihn kuschelnd. Er schob ihren weichen, zu anschmiegsamen Körper von sich und drängte sich durch die Menge, bis er an der Seite des Generals war. Dahnwitz bemerkte den hungrigen Blick in den glasigen Augen des Fliegers und entschloß sich zu einem Akt der Generosität.

»Meine Liebe, darf ich dir Oberleutnant Kauders vorstellen? Einer von Arnims früheren Kameraden«, sagte er formell, und Kauders knickte zu einer Verbeugung zusammen.

»Sehr erfreut, Herr Oberleutnant«, sagte Lisa und schenkte ihm ein Lächeln, das sie für ihre Besuche in Fronttheatern und Soldatenspitälern bereithielt. Sie streckte die Hand aus, und er ergriff sie; die leichte Berührung versetzte ihm etwas wie einen elektrischen Schlag, er spürte es durch den ganzen Körper. Mit dem Gefühl, was er doch für ein toller Bursche sei, beugte er sich tief herab und küßte diese berühmte kleine Hand.

»Sie sind auf Urlaub, Herr Oberleutnant?«

»Jawohl, gnädiges Fräulein; für drei Tage – das ist nicht viel, aber besser als gar nichts.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie in drei Tagen allerhand Unheil anrichten können«, sagte sie lächelnd.

»Zum Unheilanrichten gehören immer zwei, gnädiges Fräulein«, antwortete er unternehmungslustig.

»Nun, jedenfalls wünsche ich Ihnen recht viel Vergnügen, Herr Oberleutnant«, sagte Lisa mit einem offiziellen Lächeln.

Junge, Junge, warte nur, bis ich den Kameraden erzähle, daß ich die Lisa Dorn kennengelernt habe, Lisa persönlich, dachte Kauders in heller Erregung. Er zweifelte nicht daran, daß er eine Eroberung gemacht hatte. Zuweilen wußte er es ganz bestimmt, daß er jede Frau haben konnte, die ihm gefiel. Besonders nach ein paar Gläsern Alkohol und ein paar von den kleinen weißen Pillen wußte er das …

Der Wirbel von Menschen um Lisa begann sich aufzulösen, als von Stetten seine Gäste einlud, in den Bankettsaal zurückzukehren. »Wollen Sie nicht mitkommen, Lisa?« fragte er sie mit nicht mehr als der notwendigen Höflichkeit. Schließlich handelte es sich um einen wichtigen offiziellen Empfang, bei dem eine schöne Schauspielerin nur im Weg war. Stetten war sich klar darüber, daß Lisas Gegenwart die Männer ablenken und die Frauen eifersüchtig machen würde, und er war erleichtert, als sie antwortete: »Nein, besten Dank, lieber Baron. Für heute habe ich mir einen netten, stillen Abend versprochen. Ich muß noch meine Rolle für die morgige Vormittagsprobe studieren: Porzia, Kaufmann von Venedig.«

»Wie schade, Lisa. Aber dann müssen Sie mir wenigstens gestatten, daß ich Ihnen den General auf ein bis zwei Stunden entführe –«

»Was ist los? Entführen willst du mich, Stetten?« fragte der General, und seine Augenbrauen wölbten sich zu einem noch höheren Bogen als sonst. Stetten hielt seinen Blick mit Nachdruck fest.

»Jawohl, Dahnwitz«, sagte er mit fast unmerklicher Betonung. »Es tut mir leid, aber ich brauche dich beim Empfang – und ich muß dich nachher unbedingt sprechen.«

Eine unbehagliche Pause entstand. Lisa Dorn blickte von einem zum andern.

»Das ist aber gar nicht nett von Ihnen, Baron«, sagte sie schmollend, aber nicht wirklich enttäuscht, und der General bemerkte das. Ein wenig steif fragte er Stetten: »Ist das als Einladung oder als Befehl aufzufassen?«

»Wie immer du es auslegen willst«, antwortete Stetten mit einem gezwungenen Lächeln. Der General seufzte. »Da kann man nichts machen – die Pflicht kommt vor dem Vergnügen«, sagte er. »Ich werde dasein, Stetten. Darf ich dich anrufen, sobald dieser verdammte Empfang vorbei ist, meine Liebe?« Er beugte sich nieder, um Lisa die Hand zu küssen, und sie blickte hinunter auf das feine Netzwerk dünner Runzeln in seinem sonnengegerbten Nacken. Ein paar Minuten zuvor hatte sie noch die glatte junge Haut des Fliegers vor Augen gehabt. Ganz unvermittelt kam ihr ein Gedanke: Komisch, ich kenne so wenige junge Männer. Noch nie hat mich ein junger Mann geküßt. Sicher sind junge Männer kindisch und albern …

Zugleich hörte sie sich selbst sagen: »Ich fürchte, nach dem Empfang wird es ein bißchen zu spät sein. Ich bin ziemlich müde – und du wirst es sicher auch sein, Arnim.«

Der General schlug die Hacken zusammen und gab sich Mühe, seinen Ärger zu verbergen. »Wie du befiehlst, meine Liebe«, sagte er mit steifer Förmlichkeit, als er sie zum Fuß der Treppe geleitete.

Es war zwanzig Minuten nach neun; im Bankettsaal spielte die Zigeunerkapelle, die Champagnerpfropfen knallten, und die Mitglieder der Handelskommission der europäischen Zentralmächte brachten einen Toast auf die Neue Ordnung aus, auf die glorreiche Zukunft Europas und auf das Band der Freundschaft, das ihre Länder mit dem Dritten Reich verknüpfte. Die Menschen in diesem Hotel – diese neue, schillernde Aristokratie von Hitlers Gnaden – waren alle wohlgenährt, gut gekleidet und wußten sich zu benehmen. Aber außerhalb dieser Mauern war Berlin erfüllt mit verzweifelten, müden, erschöpften Menschen; Menschen mit grauen Gesichtern und schlechten Zähnen, Menschen, die durch Sorgen, Ängste und Haß vergiftet waren. Außerhalb dieser Insel von Berechnung, Lüge, Zweckoptimismus und Schein gab es nichts als Elend, wohin man auch blickte. Elend im ganzen Land, in ganz Europa. Leere Marktstände, versagende Transportmittel und ein übles Bürokratentum, das wie ein bösartiges Krebsgeschwür am Körper Europas wucherte. Da draußen gab es Gefängnisse voll von Gefolterten, gab es Spitäler und Lazarettzüge erfüllt vom Stöhnen der Verwundeten, gab es die Geisterstille der Gestorbenen. Da gab es brennende Städte und zerstörte Provinzen, berstende Dämme und gesprengte Fabriken. Da wurden Menschenmassen erbarmungslos entwurzelt und Zwangsarbeiter dem Druck und Schrecken in der Fremde ausgesetzt. Überall herrschte Chaos, Panik, Entsetzen, apokalyptische Zerstörung. Aber im Hotel war man dabei, die letzten Bestände an Pâté de fois gras zu verzehren und sie mit Champagner hinunterzuspülen. Eine Zigeunerkapelle fiedelte dazu die Begleitmusik, und von der abbröckelnden Wand blickte heroisch das Bild des Führers herab.

Im Weinkeller aber hinter den eisernen Türen, die Philippe mit seinem großen Schlüssel versperrt hatte, kauerte Martin Richter, der Student, der einen Tag vor seiner Hinrichtung der Gestapo entkommen war, und der sich nun hier verborgen hielt.

Es war kalt da unten, und die künstlich erzeugte Kühle, die in den hohen Kellerwölbungen hing, ließ eisige Schauer über Martin Richters Rücken laufen. Für ein Weilchen war er eingenickt, denn die Spannung der letzten Tage war groß gewesen, und er war zu Tode erschöpft. Im Schlaf hatte er alle Schrecken nochmals durchlitten; vage, verwischte, zerfließende Schrecken ohne Gesichter, sehr verschieden von den Schrecken der Wirklichkeit, die hinter ihm lag. Dann hatten die Schmerzen in seiner verwundeten Schulter ihn aufgeweckt, und etwas später hörte er das Heulen der Sirenen; die Flaschen hatten in ihren Gestellen geklirrt, und es war auch ein wenig das entfernte Dröhnen der Flak zu vernehmen gewesen.

Eine Zeitlang konzentrierte er sich darauf, eine Adresse in sein Gedächtnis einzugravieren. Rindelenstraße 39 Berlin N., Hinterhof, vierter Stock, Tür 78. Nach Walter fragen. Das war die Adresse, die die beiden alten Franzosen ihm eingeprägt hatten; dort sollte er am Morgen hingeschafft werden.

 

»Hier unten sind Sie vorläufig sicher; morgen früh schmuggeln wir Sie mit der Müllabfuhr hinaus, und von da an wird Walter Ihnen weiterhelfen. Wir sind gut organisiert; uns ist noch nie etwas schiefgegangen. Sie sind in Sicherheit.«

Martin glaubte nicht an Sicherheit, noch war ihm viel daran gelegen. Sicherheit war etwas sehr Relatives. Es ging ums Ganze, um die Sache. Aber: Mich haben sie nicht untergekriegt, dachte er, und darin lag etwas Edelsteinhartes, ein bitterer Stolz. Trotz allem, was sie mit mir gemacht haben – mich haben sie nicht untergekriegt. Mich werden sie niemals unterkriegen. Er war durstig. Er war schrecklich durstig. Sein Mund war so trocken wie der Mund eines Mannes in Todesangst. Er versuchte zu schlucken, aber es ging nicht.

Wasser! dachte er. Wasser! Wasser! Er hielt seinen Atem an. Es schien ihm, als könne er das Geriesel eines tropfenden Wasserhahns hören. Aber als er wieder atmete, hörte auch das Rieseln auf. Die nächsten Minuten verbrachte er in einem Niemandsland zwischen Wachen und betäubter Ermattung. Es war ihm, als ob er die Wasserleitung gefunden habe, den Hahn vollends aufdrehte und den Mund daranpreßte. Das Wasser strömte kühl und köstlich in seine verdorrte Kehle. Dann erwachte er mit einem Ruck und kauerte noch immer im selben Winkel, durstiger als zuvor. Er erhob sich und begann tastend nach der Wasserleitung zu suchen, die nicht da war. Plötzlich wurde er sich der Ironie der Situation bewußt. Da stand er, umgeben von Tausenden und Abertausenden von wohlgefüllten Weinflaschen, und kam fast um vor Durst. Er starrte auf die Fächer, in denen die Flaschen aufgeschichtet lagen. Weiter unten, am andern Ende des Ganges, wurden die auserlesenen Jahrgänge in Asbeströhren aufbewahrt wie Honig in der Wabe.

Martin berührte eine der Flaschen, zaghaft erst, dann packte er sie mit beiden Händen, als ob er sie zerdrücken wolle. Durch Spinnweben und dicken Staub konnte er die wunderbare Flüssigkeit sehen. Er hob die Flasche gegen das Licht der elektrischen Birne. Er schüttelte sie nahe an seinem Ohr, um das herrliche glucksende Geräusch zu hören. Er war verrückt vor Durst. Er trug die Flasche zu der eisernen Tür, um ihr den Hals an der Klinke abzuschlagen.

Vor seinen Augen tanzten gelbe Ringe. Seit zwei Tagen hatte er nichts gegessen. Einen Augenblick lang lag er wieder flach ans Seeufer gepreßt, atemlos von der Flucht, wusch seine Wunde, trank von dem trüben, moorigen Wasser. Dann fand er sich im Keller wieder, halbtot vor Durst und mit einer Flasche Weißwein in den zitternden Händen.

»Du Idiot, was machst du denn da?« fragte er laut. »Besaufen willst du dich? Aufgeben willst du dich? Leg die Flasche zurück! Leg die Flasche zurück!«

Ja. Ich muß einen klaren Kopf behalten, sagte er zu sich selbst. Er trug die Flasche den Gang hinunter und legte sie behutsam auf ihren Platz zurück. Er fühlte sich erschöpft und stolz. Er kauerte sich in den Winkel hinter der Tür und erwartete den Morgen.

Gleich nach seiner Ankunft am Nachmittag hatte der General im Blumenladen in der Halle den letzten Rest der Rosen aufgekauft und sie auf Lisas Zimmer bringen lassen. Ihr Duft, dem bereits etwas Welkendes beigegeben war, stieg ihr aus dem Dunkel entgegen, als sie die Tür ihres Zimmers aufschloß. Sie legte ihre Handtasche beiseite, drehte das Licht an und nahm zwei der schweren, hängenden Blütenköpfe in ihre Hände. »Ihr armen Dinger«, sagte sie mitleidig. »So müde seid ihr? Und solchen Durst habt ihr?«

Lisa führte ständig Unterhaltungen mit den Dingen, die für sie beseelte Lebewesen waren, Gesichter, Stimmen und Charakter besaßen. Im Grunde war es wohl so, daß Lisa Dorn, die beliebte, berühmte Schauspielerin, niemals die Zeit gehabt hatte, ein erwachsener Mensch zu werden. Als ob das Leben sie um die flaumfederzarten Jahre der Kindheit betrogen hätte, fuhr sie fort, in einer Märchenwelt zu leben, in der die Dinge ein Stimmchen und Seelchen besaßen.

Als eines von fünf Kindern eines Volksschullehrers war sie, ein kleines, mausgraues Etwas, in einem freudlosen Fabrikbezirk von Wien aufgewachsen. Nur in der geheimbündlerischen Zugehörigkeit zur verbotenen Ostmarkjugend hatte ihr romantisches kleines Herz Befriedigung gefunden. Dann war der Anschluß gekommen: berauschende Tage, donnernde Flugzeuge über der Stadt, wehende Fahnen und Standarten, Trommelwirbel und in den Straßen der nimmer endende Rhythmus marschierender Soldatenregimenter, der Anblick der Panzerwagen und Geschütze. Fanfaren, Reden und ein Jubel ohnegleichen, das ganze glühende Delirium der »Befreiung«; und all dies gesteigert zum Triumph der einen schwindelerregenden Minute, als der Wagen des Führers hielt und er sich herauslehnte, um aus ihren zitternden Händen einen Blumenstrauß zu empfangen. Des Führers Lächeln, seine Stimme, Fotografen, Blitzlicht, die Menschenmenge, die sie bestürmte: »Was hat er zu dir gesagt? Du Glückspilz!« Ihr Bild in den Zeitungen: Sonne schimmerte auf ihrem hellen Haar, und der Führer lächelte auf sie herab. Ihr Bild in der Wochenschau, ihr Bild auf Plakaten, ihr erster Filmvertrag. Dann wurde sie von Johannes König entdeckt; eiligst brachte er ihr bei, zu gehen, zu reden, zu lachen, zu lesen, Theater zu spielen, zu lieben, zu weinen. Drei Monate nach dem glorreichen Einzug des Führers in Wien stand Lisa bereits auf der ehrwürdigen Bühne des Berliner Staatstheaters, wo sie die Hauptrolle in Königs Drama »Das kühne Herz« spielte. Der Führer saß in seiner Loge, er lächelte wieder, er applaudierte ihr. Als Lisa Dorn am nächsten Morgen erwachte, war sie berühmt. Manchmal kam es ihr noch immer so vor, als ob eine Explosion sie mitten in den Schoß Fortunas geschleudert hätte. Sie hätte gern gewußt, ob das, was mit ihr geschehen war, zu der Sache gehörte, die Johannes König »Die Dynamik der Revolution« nannte …

Lisa drehte für einen Augenblick das Licht ab, öffnete die Verdunklungsvorhänge und trug die Rosen auf den kleinen Balkon hinaus. Ein Dutzend rote Rosen, dachte sie. Es ist immer dasselbe. Alle schicken sie das gleiche: ein Dutzend rote Rosen. Sie stand für ein Weilchen auf dem Balkon. Sie fühlte sich unzufrieden. Aber Lisa wußte nicht, was es war, das sie ruhelos und unzufrieden machte. Andere Blumen, wer schenkte ihr andere Blumen? Einen Riesenstrauß, einen ganzen Korb voll mit Blumen. Keine gekauften Rosen, nein, wilde Blumen, noch naß vom Regen, und mit Gräsern und Unkraut dazwischen. Armer Arnim, dachte sie mit einem kleinen Seufzer, als sie ins Zimmer zurücktrat, die Vorhänge zuzog und Licht machte. Ein Dutzend rote Rosen. Nicht elf und auch nicht fünfzehn. Ein Dutzend Rosen, gekauft, bezahlt. Armer Arnim. Arme Lisa.

Die Fotografie des Generals, die in einem Silberrahmen auf Lisas Nachttisch stand, schien mit einem Male lebendig. Es war ihr, als würde sie voll Kälte beobachtet. Gewiß hatte sie sich über seinen unerwarteten Besuch gefreut, denn sie hatte ihn wirklich gern. »Jawohl, ich hab’ dich sehr gern«, sagte sie so ungestüm zu dem Bild, als ob die Ehrlichkeit ihrer Gefühle bezweifelt würde. Und trotzdem – als sie den General unten in der Halle entdeckte, war ihr erster Gedanke gewesen: Nun ist’s um meinen stillen Abend geschehen. Erst nachdem sie den widerspenstigen Gedanken verjagt hatte, konnte sie für ihn lächeln.

Es war noch früh am Abend. Seit die Luftangriffe häufiger geworden waren, gaben die Theater jede Woche mehrere Nachmittagsvorstellungen und blieben am Abend geschlossen. Vorläufig hatten sich Lisas Nerven noch nicht an die Umstellung gewöhnt, denn sie war ein Nachtgeschöpf, das erst am Abend anfing, lebendig zu werden. Es war hart, in der Nüchternheit des Tages mit Hingabe und Schwung zu spielen, und oft kam sie sehr unzufrieden mit sich selbst nach Hause. Aber heute hatte sie sich darauf gefreut, den Abend allein zu verbringen. Für diesen Abend hatte sie sich vorgenommen, alle die neuen Kleider anzuprobieren, die sie sich aus Paris mitgebracht hatte. Das war aufregend wie ein heimliches Stelldichein. So zumindest schien es Lisa, denn sie hatte noch nie ein solches Stelldichein gehabt. Alle ihre Verbindungen spielten sich mehr oder weniger in der Öffentlichkeit ab. Eigentlich nett von Baron Stetten, daß er mir den General abgenommen hat, dachte sie vergnügt. Auf diese Weise ist mir trotz allem mein stiller Abend geblieben. (»Weißt du, was der höchste Luxus im Leben einer Frau ist?« fragte Maria in Königs Drama »Das kühne Herz«. »Das Recht, allein zu schlafen.«)

Erwartungsvoll öffnete sie die Schiebetür ihres Kleiderschrankes, der die volle Länge einer Wand einnahm, und tauchte unter in der herrlichen Fülle. Samt und Seide, Spitzen und Chiffon, Grau in allen Schattierungen, Hortensienblau, das zarte Rosa von Malvenblüten und das feine Grün unreifer Äpfel … Strenge Kleider für die Straße, schmeichelnde Nachmittagskleider, Schlafröcke, Pyjamas, Negligés und die elegante Parade der großen Abendtoiletten. Sie schlüpfte aus ihrem silbergrauen Kleidchen und probierte eine der Pariser Kreationen nach der anderen. Sie besah sich in dem hohen zweiteiligen Wandspiegel, der zum Überfluß noch die Spiegeltür des Badezimmers reflektierte. Sie wurde trunken von all dem Glanz und Reichtum; sie war Aschenbrödel unter dem Bäumchen, das Gold und Silber über sie warf. Sie seufzte und sang und drehte sich nach allen Seiten und versuchte sogar ein paar schüchterne Tanzschritte. Vom Bankettsaal herauf drang das Schrum-Schrum der Baßgeige und die melancholische Klage einer Geige. Schließlich wählte sie ein blaßblaues Negligé und trug ein Chiffonnachthemd der gleichen Farbe zu ihrem breiten Bett im Alkoven. Sie hob das Hemd hungrig an ihr Gesicht, als ob sie es aufessen wolle. Lisa war verliebt in Seide und Chiffon, in hauchdünne Strümpfe und die Liebkosung zartester Wäsche. Nichts konnte sie so glücklich machen, wie feine Stoffe zu berühren. »Die Liesel ist ein Fetischist«, hatte Johannes König einmal von ihr gesagt, »andere Frauen leben mit ihrem Herzen oder mit ihrem Verstand oder mit den Augen. Die Liesel lebt mit ihren Fingerspitzen. Sie liest das Leben wie ein Braillebuch.«

»Was weißt du denn schon von mir?« hatte sie ihn geneckt. Sie war sicher, daß er keine Ahnung hatte, was es hieß, in Armut aufzuwachsen; auf einem ächzenden alten Sofa zu schlafen, dessen Roßhaar harte Klumpen bildete und das man überdies mit einer unruhig schlafenden kleinen Schwester teilen mußte. Er wußte nicht, was es hieß, gemeinsam mit der Schwester ein schmuddliges Handtuch zu benutzen, das nur einmal in zehn Tagen gewechselt wurde, immer nur die von den älteren Schwestern abgelegten häßlichen Kleider zu tragen, die ihre Mutter mühsam für sie zurechtschneiderte. Zu spüren, wie sich die Haut gegen die kratzigen, gestopften Baumwollstrümpfe sträubte und der Körper gegen die abscheuliche graue Unterwäsche und dabei stets die Spinnwebträume von feineren, schöneren Dingen mit sich herumzutragen. Gerade als ihr Aufstieg begann, verschwanden all diese luxuriösen Dinge, nach denen es sie so sehr verlangte, aus dem Leben der deutschen Durchschnittsfrau. Aber Lisa Dorn war ja keine Durchschnittsfrau. Noch war sie Persona grata beim Führer, noch applaudierte er, noch lächelte er ihr zu, und das Dritte Reich erkannte offiziell und mit Freigebigkeit ihre Ausnahmestellung an, und sie wurde mit Privilegien überschüttet.

Plötzlich erinnerte sich Lisa ihrer Rolle, die sie an diesem ihrem netten stillen Abend lernen wollte. Rasch hängte sie alle neuen Kleider in den Schrank zurück und schob die Tür zu, um die Ablenkung los zu sein.

Als sie ihre Hand nach dem kleinen Reclambuch auf ihrem Schreibtisch ausstreckte, erschien auf ihrer Stirn eine ernsthafte Falte; sie legte einen Finger zwischen die Seiten und memorierte:

Halb bin ich Eu’r, die andre Hälfte Euer –

Mein, wollt’ ich sagen; doch wenn mein, dann Euer,

Und so ganz Euer. O die böse Zeit,

Die Eignern ihre Rechte vorenthält!

Und so, ob Euer schon, nicht Euer. –

Der Teufel sollte diese Zeilen holen! Ungeduldig streifte Lisa ihre Schuhe ab, stieß sie von sich und begann dann barfuß im Zimmer auf und ab zu gehen, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie einen Text auswendig lernte.

Halb bin ich Eu’r, die andre Hälfte Euer …

Nein, das klang viel zu niedlich.

Mein, wollt’ ich sagen; doch wenn mein, dann

Euer …

Ganz unmöglich, da irgendein Gefühl hineinzubringen. Moment mal – vielleicht konnte man versuchen, da einen kleinen Lacher rauszuschinden:

Halb bin ich Eu’r, die andre Hälfte Euer …

Vielleicht wenn ich mir mit der Hand einen kleinen Klaps auf den Mund gebe: so! Da werden sie vielleicht lachen. Mein liebes Publikum, die sind mir ja so dankbar, wenn ich sie zum Lachen bringe. Jawohl, das ist unser Beitrag im Kampf um den Sieg. Stundenlang stehen sie an für eine Vorstellung, und danach sind sie voll Mut und Entschlossenheit. Die Deutschen sind doch ein großartiges Volk! Sicher gibt es kein anderes Land, wo im Krieg die Theater ausverkauft sind – überlegte Lisa in glücklicher Unwissenheit. Sie überblätterte einige Seiten und kam zu einer Stelle, die ihr besser gefiel:

 

… doch meine volle Summa

Macht etwas nur: das ist, in Bausch und Bogen,

Ein unerzogenes, ungelehrtes Mädchen,

Darin beglückt, daß sie noch nicht zu alt

Zum Lernen ist; noch glücklicher, daß sie

Zum Lernen nicht zu töricht ward geboren.

Auf ihrem Nachttischchen stand das Telefon; sie nahm den Hörer ab, und ohne sich ablenken zu lassen, verlangte sie eine Verbindung mit dem Restaurant.

… noch glücklicher, daß sie

Zum Lernen nicht zu töricht ward geboren.

»Hallo? Restaurant? Ja, wollen Sie Gaston bitte sagen, daß er jetzt mein Abendessen bringen kann? … Aber gewiß, was immer Sie haben … Heute abend keine Apfelsine für mich? … Nein, nein, das macht gar nichts.«

Am glücklichsten, weil sich ihr weich Gemüt

Dem Euren überläßt, daß Ihr sie lenkt …

Sie legte das Büchelchen nieder und ging vor sich hin murmelnd ins Badezimmer, um warmes Wasser einlaufen zu lassen. Während sie ihr Haar bürstete, fuhr sie fort, ihre Rolle herzusagen. Sie war in ihr Haar beinahe so verliebt wie in ihre neuen Kleider, obwohl der General sie mit ihrem feinen Babyhaar zu necken pflegte. Aber auf jeden Fall konnte man mit diesem Haar auf der Bühne allerhand Wirkung erzielen.

… weil sich ihr weich Gemüt

Dem Euren überläßt, daß Ihr sie lenkt …

Das war es! Das war es, wie man Porzias Charakter anlegen mußte, auf ihr weich Gemüt hin. Bloß nicht den Unsinn machen, sie als ein emanzipiertes, intellektuelles Frauenzimmer darzustellen, obwohl sie sich als Mann verkleidete. Sie waren ja so innig süß, diese Shakespeareschen Frauengestalten! So gar nicht englisch! Englische Frauen hatten enorme Füße und Pferdezähne. Außerdem hatte Lisa gehört, daß die Engländer kaum wußten, wer Shakespeare überhaupt war, wohingegen in Deutschland jedes Schulkind seine Stücke kannte.

… ihr weich Gemüt

Dem Euren überläßt, daß Ihr sie lenkt …

murmelte sie zufrieden und ließ sich dabei in die Badewanne gleiten. Heute abend war das Wasser zur Abwechslung einmal richtig warm, und auf dem Glasregal standen Flaschen mit Eau de Cologne und französischen Parfüms und Badesalzen; sogar ein kostbares Stück französischer Seife der Marke Roger und Gallet war vorhanden. Es gehörte zu der Beute, die sie von Paris mitgebracht hatte. Sie seufzte vor Vergnügen. Sie spürte gern, daß sie lebte, und daß dies in Deutschlands größter Zeit geschah, war ein ganz besonderes Glück; aber selten war ihr die Welt so vollkommen erschienen wie in diesem Augenblick. Schrum-Schrum tönte die Zigeunerbaßgeige durch die Wände. Lisa war gerade dabei, mit ihren Knien Eisberg zu spielen und höchst abenteuerlich mit dem Seifenschüsselchen durch die Wanne zu navigieren, als sie hörte, wie nebenan der Zimmerkellner den Tisch mit dem Abendbrot ins Zimmer rollte. Das angenehme Klappern von Silber auf Porzellan brachte ihr plötzlich zu Bewußtsein, daß sie rasend hungrig war.

»Warten Sie einen Augenblick, Gaston«, rief sie durch die Türe. »Ich habe Ihnen was mitgebracht.« Sie erhielt keine Antwort, aber sie lächelte spitzbübisch in sich hinein. Schnell stieg sie aus der Wanne, trocknete sich nur oberflächlich ab und schlüpfte in das neue Negligé. »Also jetzt kenne ich auch Ihr geliebtes Paris, Gaston«, sagte sie vergnügt. »Und ich habe Sie nicht vergessen. Raten Sie einmal, was ich Ihnen mitgebracht habe.«

Sie nahm ein kleines Paket vom Sims und hielt es dem Kellner entgegen. »Ach«, sagte sie überrascht und blieb wie angewurzelt stehen. »Ich dachte, es wäre Gaston.«

Sie hatte den jungen Kellner noch nie gesehen; er war aufmerksam über den Tisch geneigt und versuchte, das Spiritusflämmchen unter der Wärmeplatte anzuzünden. Ihr Negligé legte sich an ihren noch feuchten Körper an, und plötzlich fühlte sie sich nackt. Mit Gaston war es etwas anderes; Gaston war alt, er bediente sie jeden Abend, und sie war an ihn gewöhnt. Enttäuscht legte sie das Päckchen weg. Es enthielt ein Album mit Ansichten von Paris und irgendeine Medizin, die es nur in Paris gab und die Gaston benötigte.

»Wo ist denn Gaston heute abend?« fragte sie den Kellner. Er feuchtete seine Lippen an, bevor er antwortete: »Gaston muß unten aushelfen. Da ist so ein Empfang –«

»Ja, ich weiß. Sind Sie neu hier?« fragte Lisa, als er erfolglos versuchte, das dritte Streichholz anzuzünden.

»Jawohl, Madame. Ich bin Aushilfskellner, bin nur für heute abend hier«, erwiderte er, ohne den Kopf zu heben.

»Sind Sie auch Franzose?« Der Kellner schüttelte den Kopf. Sie sah nur seinen Hinterkopf mit dem dichten dunklen Haar und seine nervösen Finger im Kampf mit dem Streichholz. »Lassen Sie mich das machen«, sagte sie, nahm ihm das Streichholz aus der Hand und zündete die Spiritusflamme an. »So. Und nun rollen Sie bitte den Tisch näher zum Fenster.«

Gerade als der Kellner einen Löffel fallen ließ, klopfte es schüchtern an die Tür. Das ist der General, dachte sie (denn selbst in Gedanken fühlte sie sich nicht vertraut genug mit Dahnwitz, um ihn beim Vornamen zu nennen). Ihr »Herein« klang etwas enttäuscht. Nun ist es doch um meinen schönen stillen Abend geschehen, dachte sie bei sich. Die Tür öffnete sich zögernd. Zwei uniformierte Männer standen auf der Schwelle. Lisa erhob sich.

»Entschuldigen das Fräulein. Polizei«, sagte der eine.

»Polizei?« fragte Lisa erstaunt. »Was will denn die Polizei von mir?«

»Es tut uns leid, das Fräulein stören zu müssen«, sagte der Größere. »Aber Befehl ist Befehl. Jedes einzelne Zimmer im Hotel muß durchsucht werden«

»In diesem Fall ist das natürlich nur eine reine Formsache, wenn Fräulein Dorn gestatten«, fügte der andere hinzu.

»Na, dann tun Sie nur, als ob Sie zu Hause wären, meine Herren«, sagte Lisa, der die sichtliche Verlegenheit der Polizisten Spaß machte. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich mein Abendbrot esse, bevor es kalt wird. Kann ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«

Beide griffen gierig zu, als sie ihnen ihre goldene Zigarettendose darbot. »Danke vielmals, Fräulein«, sagte der Größere. »Meinen besten Dank auch«, sagte der Kleine. »Entschuldigen das Fräulein«, sagten beide wie aus einem Munde und schickten sich an, das Zimmer zu durchsuchen. Lisa schaute ihnen zu, während sie dem Kellner ihre Tasse hinhielt, damit er ihr von der braunen Flüssigkeit eingieße, die sich Kaffee nannte. Das ist ja wie auf der Bühne, dachte Lisa Dorn; mein Gott, was für eine Komödie! Der Lange näherte sich ihrem Bett im Alkoven, als ob er erwartete, daß es jeden Augenblick in die Luft gehen könnte. Beim Anblick des blauen Chiffonnachthemdes traten ihm fast die Augen aus dem Kopf. Der andere hatte sich irgendwo in den Tiefen des Kleiderschrankes verloren. Dann unterzogen sie den Balkon einer Inspektion und marschierten daraufhin ins Badezimmer. Das Ganze dauerte kaum zwei Minuten.

»Entschuldigen das Fräulein«, sagten sie, als sie wieder auftauchten. Der Kleinere faßte sich ein Herz: »Das hab’ ich mir ja denn doch nicht träumen lassen, daß ich heute noch die Gelegenheit haben würde, die persönliche Bekanntschaft von Fräulein Lisa Dorn zu machen«, stotterte er. »Was meinen das Fräulein wohl, wie meine Frau angeben wird, wenn ich ihr das erzähle! Und meine Kleine erst! Wenn ich mir am Ende gar erlauben dürfte, das Fräulein um ein Autogramm zu bitten? Meine Kleine sammelt sie nämlich. Allergehorsamsten Dank auch, Fräulein Dorn. Das Fräulein sind wirklich zu gütig!«