Hotel Berlin

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»Herr Oberleutnant meinen das Fräulein Tilli«, sagte Schmidt; es klang, als hätte Kauders ihm ein Paßfoto der Dame vorgelegt. »Aber gewiß, Herr Oberleutnant, Fräulein Tilli wird gleich hier sein, wenn sie alle vom Luftschutzkeller heraufkommen.«

»Tilli – ganz recht! Großartiges Mädel! Wir haben uns nicht schlecht amüsiert, als ich das letztemal auf Urlaub hier war.« Beim Gestikulieren schlug er mit der verbundenen Hand gegen die Kante des Tresens. »Verdammter Mist«, fluchte er und starrte die schmerzende Stelle an. Doktor Hüningen war inzwischen beim Tresen angelangt. »Bitte, lassen Sie mich das mal sehn, Herr Oberleutnant«, sagte er. »Ihr Verband ist aufgegangen. Ich bin der Hotelarzt. Tut das weh?«

»Nicht im geringsten«, erwiderte der Flieger, aber er wurde bleich unter seiner Sonnenbräune, als der Arzt den Verband von der Brandwunde löste.

»Soll ich Ihnen ein Schlafpulver für heute nacht geben?«

»Zum Teufel mit Ihren Schlafmittelchen! Zum Schlafen habe ich keine Zeit. Drei Tage Urlaub. Mensch, Doktor, das ist nicht lange. Heiliger Vater im Himmel«, sagte er und sah plötzlich aus wie ein hungriger kleiner Junge, »diese drei Tage will ich leben und genießen, nicht schlafen.«

»Sind Sie denn nicht müde?« fragte der Arzt, während seine Finger unauffällig den Puls des jungen Helden fühlten; er ging unregelmäßig: tack, tack, tack, Tchk.

»Selbstverständlich bin ich müde. Alle sind müde, wenigstens alle, die ich kenne. Hören Sie, Doktor, ich brauche keine Beruhigungsmittel. Was ich brauche, ist etwas, damit ich aufgekratzt werde. Pervitin oder so was. Meine Ration habe ich aufgebraucht.«

»Tja, also –«, sagte der Doktor unschlüssig. Man gab diesen jungen Menschen Pervitin, Benzedrin, alle möglichen Aufputschmittel, um sie wach und angriffslustig zu halten. Nachher kamen dann die Depressionen, die Gefühle der Niedergeschlagenheit, der Katzenjammer, die bodenlose Erschöpfung. Aber schließlich, es ist nicht meine Sache, dem Jungen die drei Tage Urlaub zu verderben, dachte der Arzt. Er drückte ihm ein paar weiße Pillen in die gesunde Hand. Plötzlich gab sich Kauders einen Ruck. Die Linke an der Hosennaht, Hacken zusammengeschlagen, die Augen geradeaus, grüßte er unbeholfen mit der Rechten. Denn von der Treppe her näherte sich die imponierende Gestalt des Generals Arnim von Dahnwitz, des Siegers von Charkow.

Der General hatte die straffe Haltung eines wohltrainierten Sportsmannes, was ihn größer erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Sein Kopf war glattrasiert, und sein Gesicht war von Linien durchfurcht, wirkte aber irgendwie alterslos. Der General trug die beiden höchsten Auszeichnungen, die sein Vaterland zu vergeben hatte: den Pour le Merite des Ersten Weltkrieges und Hitlers Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern. Bei jedem Schritt, den er tat, klimperten die Orden. In seiner rechten Augenhöhle saß das Monokel so selbstverständlich arrogant, als wäre es ein Teil seines Gesichtes. Neidvoll starrte Kauders darauf. Im stillen hatte auch er versucht, ein Monokel zu tragen, aber es paßte nicht zu der plebejischen Form seines Schädels. Was den General betraf, so war ihm das Monokel neuerdings recht beschwerlich geworden. Seit er die Fünfzig überschritten hatte, fingen seine Augen an, ihm Schwierigkeiten zu machen. Die Tatsache, daß er die Welt durch ein Auge sah, dessen Sehkraft durch das Monokel verstärkt wurde, während dem andern alles verschwommen und undeutlich erschien, verursachte ihm gelegentliche Kopfschmerzen und übermittelte ihm ein verzerrtes Bild der Dinge. Aber nur in der Zurückgezogenheit seines eigenen Zimmers, wenn nicht einmal sein Adjutant zugegen war, gestattete sich der General die zuchtlose Bequemlichkeit einer Brille. Eine Brille in der Öffentlichkeit zu tragen, wäre, seiner Ansicht nach, ebenso unmöglich gewesen, wie in Galauniform mit Pantoffeln herumzuschlurfen. Daß sich der General die Erleichterung einer Brille versagte, war nur ein kleines Symptom seines täglichen Kampfes um jene undefinierbare preußische Haltung. Nicht lockerlassen. Nicht einmal sich selbst zugeben, daß man ein nicht mehr junger, reichlich müder Mann war …

»Ist Fräulein Dorn noch nicht vom Theater zurück?« fragte der General mit einer überraschend sanften Stimme, und Herr Kliebert, Ahlsen beiseite schiebend, versicherte eifrigst, daß Fräulein Dorn noch nicht zurückgekehrt sei, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Alarm aufgehalten worden sei und daß er seine Exzellenz sofort benachrichtigen würde, sobald Fräulein Dorn käme.

»Danke, danke; sehr nett von Ihnen«, sagte der General liebenswürdig. »Aber sagen Sie ihr bitte nicht, daß ich hier bin. Soll ’ne Überraschung sein, verstanden?«

Des Generals Liebenswürdigkeit war sprichwörtlich in der Armee – von jenen Momenten abgesehen, wenn einer seiner schwarzen Wutanfälle über ihn kam, Wutanfälle, die ihn und sämtliche Zeugen allemal schwach und zitternd zurückließen. »Das ist das Tatarenblut in ihm«, pflegte seine Mutter zu sagen, wobei sie sich auf die Heirat eines gewissen Joachim von Dahnwitz bezog, der von 1765 bis 1772 Gesandter am russischen Hof gewesen war und auf das Dahnwitzsche Majorat Elgede bei Hannover mit einer Russin als Frau zurückkehrte. Tatsächlich hatte der rundlich geformte Schädel des Generals etwas Mongolisches, ebenso wie seine leicht schräg gestellten Augen, sein sinnliches Vergnügen an hübschen Frauen, seine Leidenschaft für Pferde und die dunklen Stürme seiner Wutausbrüche; aber das Tatarische war an die Kandare gelegt durch das Erbe seiner norddeutschen Ahnen, durch die Gesetze seiner Kaste und die unbeugsame Disziplin seiner Erziehung.

Als er sich vom Tresen umwandte, entdeckte der General den jungen Flieger, der noch immer in strammer Haltung dastand. »Schon gut, Herr Oberleutnant«, sagte er. Kauders nahm eine respektvoll entspannte Haltung an und nannte Namen, Rang und Truppenteil.

»Jagdstaffel Lützow? Da haben Sie wohl meinen Sohn gekannt, den Hauptmann von Dahnwitz?« fragte der General. Worauf Kauders erwiderte, daß er den Herrn Hauptmann gekannt, ja, in der Tat die Ehre gehabt habe, ein paar Beobachtungsflüge in Hauptmann von Dahnwitz’ Staffel mitzufliegen. Nichtsdestoweniger war er etwas erstaunt über die Frage des Generals. Es war nicht üblich, tote Flieger zu erwähnen, und er wunderte sich, daß der General die Regel durchbrochen hatte.

»Ja, Arnim war ein braver Junge. Nun, er hat seine Pflicht fürs Vaterland getan«, sagte der General. »Ich sehe, Sie sind verwundet?«

»Jawohl, Herr General. Nichts Besonderes. Nur ein paar kleine Blasen, Herr General.«

»Und wo haben Sie sich diese Blasen zugezogen?«

»Über Mühlheim, Herr General. Als meine Kiste Feuer fing und ich aussteigen mußte«, entgegnete Kauders, und während er es aussprach, begann die ganze gräßliche Geschichte wieder vor seinen Augen abzurollen wie ein Film. Er flog durch das Netzwerk der Leuchtspurgeschosse, hart am Heck der viermotorigen Lancaster; er gab dem großen Biest eine ordentliche Ladung zwischen die Rippen, und der Heckschütze gab es ihm zurück; zing, zing, zing sangen die Geschosse, als sie seine Maschine durchschlugen. Es wurde rasch heiß und immer heißer, der Fahrtwind trieb die Flammen von der rechten Tragfläche in den Führerstand, und er dachte: diesmal hat’s mich erwischt. Plötzlich war er starr vor Angst, und er brauchte eine Ewigkeit, um den Sicherheitsgurt loszuschnallen, während die heißen, weißen, glühenden Flammen ihm schon ins Gesicht züngelten … Er sprang – oder vielmehr, er glaubte, zu springen, aber seine Füße blieben in der Luke hängen, und er dachte: Jetzt ist alles aus. Dann folgte eine Ewigkeit trächtiger Angst, die ihm übel machte. Er riß sich los und stürzte hinaus in die bodenlose Hölle von Flakgeschossen und kämpfenden, donnernden, brennenden Flugzeugen.

»Ach ja, Mühlheim«, sagte der General. »Und wie sieht’s da draußen aus?« Er sagte »da draußen«, als ob der Westen Deutschlands ein anderes Land sei. Kauders riß sich zusammen.

»Ausgezeichnet, Herr General. Unsere PW-190 S mit den 20-mm-Geschützen schlagen alles, was die Tommies herüberschicken. Sie haben große Verluste erlitten. Erst gestern holten wir zwölf von ihren Lancastern runter. Wenn wir so weitermachen, kann’s der Engländer nicht mehr lang aushalten.«

»Gewiß, gewiß –«, sagte der General abwesend. Er hielt seinen Blick auf die Drehtür geheftet, durch die Lisa Dorn nun jeden Augenblick hereinkommen mußte. In der Ungeduld, mit der er sie erwartete, einer süßen, bohrenden, beinahe schmerzhaften Ungeduld, fühlte er sich wieder jung.

»Herr Major Kant hat uns versprochen, daß wir bald die neuen ME-109 G-28 fliegen dürfen; das bedeutet das Ende für die Tommies. Ein 20-mm-Geschütz, das durch den Propeller feuert, Herr General, dazu zwei 7 - 9 mm über dem Motor, und, wenn’s nötig ist, noch ein 20 mm unter jeder Tragfläche, Herr General! Wenn wir bloß genug von denen kriegen könnten –«

»Sie werden sie kriegen – bestimmt«, sagte der General zerstreut. »Und da haben wir die Sirene, der Alarm ist vorbei. Hals- und Beinbruch, Oberleutnant Kauders.«

Mit einem Male begann die Hotelhalle sich zu beleben und wurde wieder zu einem strahlenden, eleganten Mittelpunkt. Die Lichter waren angegangen, plaudernd und lachend strömten die Menschen von den Luftschutzkellern zurück. Telefone klingelten, das Radio spielte den Einzugsmarsch aus »Tannhäuser«, die Hotelpagen in ihren unpraktischen himmelblauen Uniformen flitzten durch die Halle, und um den Empfangstresen war ein Summen von Geschäftigkeit. Das Schild »Geschlossen« verschwand vom Eingang der Bar. Die hohen Doppeltüren öffneten sich, um eine Herde durstiger Gäste einzulassen. Es wimmelte von Uniformen jeglicher Art – da war nicht nur das Graugrün der Deutschen, es gab französische, italienische und sogar spanische Uniformen zu sehen, gar nicht zu reden von den operettenhaften überladenen Waffenröcken der rumänischen Militärkommission. Zum großen Teil bestand die Menschenmenge aus Mitgliedern der Handelskommission der europäischen Zentralmächte, denen zu Ehren an diesem Abend ein Bankett stattfand. Auch Damen gehörten dazu; manche bildhübsch und elegant, andere schwerfällig und häßlich, der Stempel »Hausfrau« unauslöschlich ihrer ganzen Erscheinung aufgeprägt. Die fetteste, lauteste und am meisten aufgetakelte von allen war Frau Plottke, Gattin des Gauleiters Heinrich Plottke. Der Gauleiter selbst, ein höchst unsympathischer Mensch, dessen Haare, Augen und Sommersprossen die gleiche bräunliche Rostfarbe aufwiesen und dessen weiches, schlappes Fleisch in eine enge braune SA-Uniform gezwängt war, hielt den Minheer Vanderstraaten, von der Vanderstraaten Kommerzbank in Amsterdam, in einer Ecke im Gespräch fest. Plottke machte sich nichts aus seiner Frau. Niemand machte sich etwas aus ihr. Aber sie gehörte zur alten Garde, die den Führer kriecherisch bewunderte – zu den hysterischen Weibern, die von den Parteihengsten die »Krampfaderbrigade« genannt wurden. Sie erfreute sich der Wertschätzung des Führers – und das war Grund genug, mit ihr verheiratet zu sein.

 

»Bleibst du heute nacht in der Stadt?« fragte Gestapokommissar Joachim Helm im Vorübergehen den Gauleiter; er war ein kahler, langbeiniger, sanftmütiger Mann mit dünnen Lippen und einem festgefrorenen Lächeln im länglichen Gesicht, das niemals die Augen erreichte.

»Ich hatte vor, nach Ruppertshof rauszufahren und mich ein paar Tage auszuruhen. Warum?«

»Ich würde dir empfehlen, in Berlin zu bleiben. Morgen früh um elf Uhr fünfzehn möchte ich dich in meinem Büro sprechen.«

Seit wann erteilst du mir Befehle? dachte Plottke verärgert, aber er hatte nicht die Courage, es auszusprechen. Helm lächelte geringschätzig in das wütende Gesicht des Gauleiters und ließ diesen stehen, um auf Baron von Stetten zuzugehen.

»Hören Sie, Stetten, wenn Sie die Affäre Dahnwitz diskret für uns erledigen, denke ich, daß ich einigen Druck auf Plottke ausüben könnte«, sagte er leichthin. Stetten sah an ihm vorbei, als er antwortete: »Besten Dank. Ich wünschte bloß, der General wäre nicht gerade jetzt von der Front gekommen. Es wird ziemlich schwierig sein, kein Aufsehen zu machen. Überhaupt – warum muß ich immer derjenige sein, der die Kastanien für euch aus dem Feuer holt?«

Baron von Stetten, schlank und elegant in der grauen Uniform mit den weißen Aufschlägen des Ministeriums des Äußeren, war der offizielle Gastgeber des Abends. Er war in der Abteilung W des AA verantwortlich für den Ablauf des Empfangs, und es war wirklich Pech, daß der Fliegeralarm dazwischengekommen war. Eine Unterbrechung dieser Art mußte einen schlechten Eindruck auf die Gäste machen – gerade, wenn es darauf ankam, Vertreter der neutralen Mächte, der Alliierten Deutschlands und der übrigen Satelliten des Dritten Reiches günstig zu beeinflussen. Stetten, ein gewandter Diplomat alter Schule, war bald hier, bald dort zu sehen. Einige Momente mit dem türkischen Professor der Ökonomie Mazhar Cevdet Onat ins Gespräch vertieft, im nächsten Augenblick in eifriger Konversation mit Herrn Dahlin, Repräsentant der schwedischen Bolander-Minen; er hörte zu, was Minheer Vanderstraaten zu sagen hatte, und lachte mit Major Philippescu von der rumänischen Militärkommission über einen angestaubten Balkanwitz. Geschickt versuchte er überall, den Boden für die kommenden wichtigen Sitzungen vorzubereiten. Da halste man ihm nun auch noch diese höchst peinliche Affäre Dahnwitz auf. Er fing einen ironischen Blick Kommissar Helms auf.

»Dahnwitz behauptet, Zahnschmerzen zu haben; ich nehme an, daß er sich hier sicherer fühlt als im Hauptquartier«, sagte der Kommissar.

»Man kann auch an Zahnschmerzen sterben …«, erwiderte Stetten.

»Stimmt; besonders Generäle, die in Ungnade gefallen sind«, erwiderte Helm. In einem Wandspiegel sah er, daß Plottke hinter ihn getreten war, um die Unterhaltung mit anzuhören. Ohne sich umzudrehen und lauter fügte er hinzu: »Sogar Gauleiter kann’s von einem Tag zum anderen erwischen.« Damit wandte er sich ab und ging zum Fuß der Treppe, wo ein SS-Mann Haltung annahm und flüsternd Meldung machte.

Von Stetten, auf der Suche nach dem General, fand diesen schließlich an den Empfangstresen gelehnt und die Augen auf die Drehtür gerichtet.

»Ach, da bist du ja, Dahnwitz. Ich habe dich überall gesucht. Was machen die Zahnschmerzen?«

»Danke. Fischer hat mir den Abszeß heute nachmittag geöffnet – meinte, daß es höchste Zeit gewesen sei. Es scheint, daß unser Zahnarzt im Hauptquartier die Sache von A bis Z verpatzt hat. Geradezu lächerlich, daß man deswegen von der Front weg muß, aber andererseits – Generäle mit Zahnweh gewinnen keine Schlachten.«

»Napoleon hat’s geschafft –«, sagte Plottke hinzutretend und wie immer der Elefant im Porzellanladen.

»Also vergiß nicht, daß ich dich unbedingt nach dem Empfang noch sprechen muß«, sagte Stetten zu Dahnwitz und eilte davon, um seine Gäste in den Bankettsaal zurückzulotsen.

Monsieur Rougier bemühte sich, den Blick des Gauleiters auf sich zu ziehen, aber Plottke lag nichts daran, mit dem dubiosen Burschen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Zäh wie Lava begann die Menge, in Richtung des Bankettsaales zu strömen. »Den letzten statistischen Berichten zufolge ist der Gesundheitszustand unseres Volkes noch nie so gut gewesen«, hörte man den Gauleiter sagen. »Denken Sie nur, meine Liebe, ich habe einen kleinen Händler entdeckt, der noch echte Seidenstrümpfe verkauft! Nur fünfundsiebzig Mark das Paar«, flüsterte Frau Plottke Frau Helm ins Ohr. »Ganz zu schweigen von unseren Erfolgen an der Ostfront –«, bemerkte von Stetten im Gespräch mit Dahlin. »In London ist die dänische Goldanleihe letzte Woche um fünfeinhalb Prozent gestiegen«, meinte Rougier zu Vanderstraaten, der dies ohnehin wußte und daraus bereits seine Schlüsse gezogen hatte. »Jawohl –«, entgegnete er denn auch, »und in der Schweiz ist die Reichsmark um sieben Punkte gefallen –«

»Eine schöne Suppe hast du uns da eingebrockt mit deiner Rede in Leipzig«, ging Helm ohne Umschweife Plottke an. »Studentenunruhen. Das hat uns gerade noch gefehlt. Als ob wir nicht schon genug Unannehmlichkeiten hätten!«

»Wenn die Gestapo tüchtiger wäre, gäbe es keine Studentenunruhen; es ist geradezu ein Skandal! Flugzettel, Broschüren, Tumulte; wenn wir diesen Grünschnäbeln nicht die eiserne Faust zeigen, solange es noch Zeit ist, werden sie uns in den Rücken fallen. Hätte ich etwas zu sagen in eurer Gestapo –«

»Aber du hast es nicht, mein Lieber. Dank sei Gott dafür und unserem Führer.«

Offener Haß loderte zwischen diesen beiden Exponenten des Reiches auf.

»Du wirst auch noch mal vom hohen Roß runtermüssen«, giftete Plottke.

»Möglich – aber nach dir, lange nach dir, Goldfasan«, lautete Helms Retourkutsche.

Aus dem Radio kam ein Fanfarenstoß. Die eindringliche Stimme des Radioansagers forderte die Aufmerksamkeit für einen Sonderbericht. Die Gäste hielten auf ihrem Weg zum Bankettsaal inne. Alle Gespräche verstummten. Die Hotelpagen erstarrten auf ihren Plätzen, und der französische Kellner Gaston, der ein Tablett mit Flaschen und Gläsern über seinem Kopf balancierte, stand so reglos, als sei er eine Figur in einem Film, den man angehalten hatte.

»Achtung! Achtung! Sie hören einen Sonderbericht des Oberkommandos der Wehrmacht«, tönte es schneidig aus dem Radio. »Von der Ostfront wird gemeldet, daß unsere siegreichen Truppen während der fünftägigen Offensive vor Kiew 1 197 russische Flugzeuge sowie 1 709 Panzer zerstört oder erbeutet haben; unsere eigenen Verluste belaufen sich auf 54 Flugzeuge und 26 Panzer. Die russischen Verluste an Toten, Verwundeten und Gefangenen sind enorm; sie betragen über 35 000 Mann. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, daß sämtliche russischen Panzereinheiten einschließlich ihrer Reserven in diesem Abschnitt vernichtet und die russischen Luftstreitkräfte aufgerieben wurden. Damit wurde jeglicher Versuch zum Gegenangriff im Keime erstickt.«

Alle hörten in strammer Haltung, aber mit apathischem Gesichtsausdruck zu. Natürlich gab es Ausnahmen; Gauleiter Plottke zum Beispiel lauschte in ostentativer Hingerissenheit, Hilfsempfangschef Ahlsen hielt sein Kinn drohend vorgestreckt, und aus seinen Augen leuchtete der unerschütterliche Glaube an das Dritte Reich. Auch einige der ausländischen Gäste stellten Begeisterung zur Schau. Zum Schluß des Kommuniqués ertönte ein neuerlicher Fanfarenstoß, worauf das Horst-Wessel-Lied folgte. Die Arme flogen zum Hitlergruß in die Höhe, die Köpfe wandten sich automatisch dem Bild des Führers zu, und das Stakkato eines dreimaligen Sieg-Heil, Sieg-Heil, Sieg-Heil schallte durch die Halle. Im Radio war jetzt »Deutschland, Deutschland über alles« zu hören. Die Anwesenden lauschten, respektvoll und zugleich mit einem gewissen Unbehagen, wie Nationalhymnen überall auf der Welt aufgenommen werden. In diesem Augenblick, da die Menschen in der Halle erstarrt wie ein Operettenchor zum Aktschluß dastanden, geschah es, daß Lisa Dorn durch die Drehtür hereingeweht kam.

Sie war sehr jung und bezaubernd hübsch. Kein Wunder, daß die Männer überall im Land in sie verliebt waren. Ihre Stirn war glatt, zierlich gewölbt und die blonden Augenbrauen, die immer etwas wie Verwunderung ausdrückten, lagen weit auseinander. Ihr Haar, das zu einer kleinen Krone hochgesteckt war, hatte die Farbe von frisch gefälltem Fichtenholz; auch die Wimpern waren sehr hell; es war ein Gesicht, wie es die niederrheinischen Meister des fünfzehnten Jahrhunderts ihren kindlichen und zugleich kapriziösen Madonnen zu verleihen pflegten. Auch Lisas Körper war zierlich und wirkte nahezu gewichtslos, was sie wie ein vom Winde dahergewehtes Blatt erscheinen ließ. Als gute Schauspielerin, die sie war, war sie sich durchaus ihrer Wirkung bewußt, und sie nutzte ihr Können geschickt, um weitere Effekte zu erzielen. In diesem Moment wurde ihre Zartheit noch betont durch den mächtigen Körper und das große, schwere Löwenhaupt ihres Begleiters. Er war hinter ihr durch die Tür getreten und ließ nun seine wasserblauen Augen mit einer Spur von Ironie über die Anwesenden gleiten. Er war der Dichter des Dritten Reiches. Johannes König. Lisa Dorn, die die Situation erfaßte, in die sie da hineingeschneit war, blieb stehen, erhob ihren Arm und heftete die Augen anbetend auf das Bild des Führers. Es war die Pose, die sie am Ende verschiedener vaterländischer Filme eingenommen hatte und die sie mit großer Selbstverständlichkeit beherrschte. Aber schon hatte ihr scharfes Auge den General in der Menge erspäht, und sie schenkte ihm eines ihrer strahlenden Lächeln, die wie flüchtige Sternschnuppen waren.

Nach all der drängenden Ungeduld des Wartens war Dahnwitz der erste, der ihren Eintritt bemerkt hatte. Behutsam schob er sich in ihre Richtung, und bei den letzten Worten der Hymne stand er dicht hinter ihr.

»Guten Abend, Kleines«, flüsterte er in ihren Nacken.

»Arnim! Was für eine Überraschung! Du solltest bloß mein Herz spüren – wie die große Trommel im Zirkus! Wann bist du angekommen? Wieso bist du hier?«

»Seit mehr als zwei Monaten habe ich dich nicht gesehen. Das hält kein Mann aus!«

»Und wer führt deinen Krieg, während du hier bist?«

»Der Krieg führt sich selber –«

Die Radiodurchsage endete mit einem abermaligen Fanfarenstoß, der ohne jede Überleitung in einen Walzer überging. Die Arme klappten herab, die Marionetten bewegten sich wieder. Gaston, der bejahrte Kellner, konnte, sein Tablett auf den Fingerspitzen balancierend, seinen Weg fortsetzen. Nahe einem der Palmkübel, die Herr Kliebert über die Löcher im Teppich hatte plazieren lassen, stieß er mit einem anderen alten Franzosen zusammen; dies war Philippe, der Kellermeister. Der große Schlüssel zum Weinkeller hing an einer Kette um seinen Hals, und er war dabei, eine Flasche Burgunder in einem Körbchen zu einem Tisch im Hintergrund zu tragen. Im Aneinanderstreifen wechselten die beiden Alten ein paar Worte auf französisch.

»Alles in Ordnung in deinem Keller, mon vieux?«

»In perfekter Ordnung.«

»Niemand hat versucht, einzubrechen?«

»Niemand. Der Keller ist sicher – vorläufig.«

»Bon, très bon.« Und Gaston ging mit seinem Tablett weiter.

»Jetzt überlasse ich dir die Bühne«, sagte Johannes König leise und verließ Lisa Dorn, um auf seinen Tisch zuzusteuern, auf den Philippe eben den Burgunder niedersetzte. Lisa, die Schauspielerin, spielte ihre nächste Szene mit dem General als Partner, wobei sie den venezianischen Springbrunnen in der Mitte der Halle als Kulisse benützte. Um sie herum wogten die Menschen, man lächelte ihr zu, man beobachtete sie mit neugierigen Blicken; es fehlte nicht viel, und man hätte ihr applaudiert …

 

»Kleines, du bist noch viel schöner, als ich dich in der Erinnerung hatte«, sagte der General, ihr die Hand küssend. »Viel, viel schöner.« Er hatte die Gewohnheit, Worte, denen er besonderen Nachdruck verleihen wollte, zu wiederholen; eine Gewohnheit, erworben in der Notwendigkeit, seinem Stab bestimmte Einzelheiten einzuschärfen.

»Wie gefalle ich dir in meinem neuen Kleid? In Paris gekauft«, erklärte Lisa und deutete eine Pirouette an, die den Rocksaum ihres silbergrauen Kleides wippen machte; sie trug stets silberschimmernde Farben, nebelzarte Stoffe, die ihre Pastellschönheit hervorhoben. »Ach, Arnim, es ist schön, dich hier zu haben«, sagte sie. »Ich hab’ mich so um dich gesorgt! Sag mir – ist es sehr gefährlich, was du tust?« Dabei sah sie keineswegs besorgt aus.

Der General lächelte auf sie hinab. Mit Lisa an seiner Seite fühlte er sich immer ein paar Zentimeter größer, und das war ein angenehm schmeichelhaftes Gefühl. Lisa ihrerseits wußte sehr genau, wie sie neben dem General wirkte. Ein Auftritt in seiner Begleitung war stets effektvoll und ließ sie noch einmal so zierlich und hilflos erscheinen als sie war. Sie war sich klar darüber, daß die Zierlichkeit ihrer kleinen Person – im Gegensatz zur kuhartigen Schwerfälligkeit der Nazifrau – alle Welt in sie verliebt machte. Alle Welt in sich verliebt zu wissen, das war ihr so notwendig wie Luft und Licht. Sie schob ihren Arm durch den des Generals und zog ihn fort, fort von den anderen.

»Gefährlich? Nein, Kind«, sagte der General lächelnd. »Es ist ja allgemein bekannt, daß die meisten Generäle im Bett sterben.«

»In wessen Bett?« fragte sie mit dem verschmitzten Gesichtsausdruck eines Gassenjungen. Sie zog sämtliche Register ihres Charmes, um die sie beobachtenden Gäste auf ihre Kosten kommen zu lassen. Plötzlich fiel alle Fröhlichkeit von ihr ab. Traurigkeit legte sich wie eine großäugige Maske über ihr Gesicht. »Ach, Arnim«, sagte sie behutsam, »ich war so unglücklich, als ich die schlimme Nachricht wegen deines Sohnes bekam. Ich schrieb dir einen langen Brief – und dann habe ich ihn doch nicht abgeschickt. Worte sind solch armselige Tröster, nicht wahr? Aber du weißt, wie ich mit dir fühle, gelt?« Ohne jede Anstrengung waren ihr die Tränen in die Augen getreten, und ihre Unterlippe zitterte schwach. Der General sah es mit Schrecken; sooft er Lisa weinen sah, kam er sich wie ein Klümpchen Butter auf einer heißen Ofenplatte vor.

»Laß uns nicht davon sprechen«, sagte er in sehr preußischem Ton. »Er hat seine Pflicht getan. Nur seine Pflicht.«

Inzwischen hatte die Menge begonnen, sich immer dichter um sie zu drängen. Zeitungsberichterstatter, ausländische Korrespondenten, Pressefotografen versuchten, in dem dichten Menschenknäuel nach vorn zu drängen.

»Schnucki!« sagte jemand zu Plottke, der ärgerlich Helms verschwindendem Rücken in der schwarzen Uniform nachstarrte. Er drehte sich, um zu sehen, wer ihn am Ärmel gezupft hatte.

Es war Tilli. Sie war der ausgelassenste der ausgelassenen Nachtfalter, die sich in der Hotelhalle herumtrieben und in der Bar Stimmung machten. Sie war nicht mehr ganz so jung, wie sie auszusehen versuchte, ihre Hübschheit war an den Rändern bereits ausgefranst und ein bißchen vulgär. Brüste, Schenkel, der weiße Nacken, die sanften Schatten da, wo der Rock sich eng um ihren Schoß schmiegte, die Knie und Beine, alles zusammen war eine Einladung für jeden Mann. Tilli konnte ihre Wirkung auf- und abdrehen wie einen Wasserhahn. In diesem Augenblick wollte sie auf Heinrich Plottke wirken. »Schnucki«, hauchte sie und ließ dabei eine Welle von Parfüm über den Gauleiter hinwegbranden, »du hast doch hoffentlich dein kleines Mäuschen nicht vergessen?«

»’l Hitler«, sagte Plottke. »Wie geht’s?«

»Wie gefällt dir meine neue Frisur, Schnucki?« fragte sie, die Hände odaliskenhaft im Nacken gekreuzt, was ihre Brüste dicht unter die Augen des Gauleiters brachte.

»Das hier ist weder der Ort noch die Zeit für solche Geschichten«, beschied er sie unfreundlich; sie sah, wie das Blut seine kränklichgelben Hängebacken färbte.

»Wie steht’s mit deinem Versprechen?« fragte sie mit ihrem verführerischsten Lächeln.

»Was für ein Versprechen denn?«

»Aber das weißt du doch, Schnucki. Du hast versprochen, mir neue Schuhe zu besorgen; du weißt, wie dringend ich sie brauche.«

»Bist du verrückt? Ich habe andere Sorgen, als mich um deine Schuhe zu kümmern.«

»Sie mal einer an! Andere Sorgen hat der Herr Gauleiter!« machte Tilli. »Natürlich, wenn der Herr Gauleiter in so ’nem Paar zerrissener Schuhe rumlaufen müßte, da würde er nicht darauf vergessen. Paß mal auf, du«, sagte sie, zorniger und zorniger werdend, »seit sechs Wochen hast du dich jetzt um ein Paar Schuhe herumgedrückt, und ich hab’s satt. Ich brauche ein Paar neue Schuhe, und du tätest gut daran, sie mir zu beschaffen, kapiert?«

Plottke wurde nun seinerseits ärgerlich. »So eine Unverschämtheit!« gab er zurück. »Wenn du in einer Munitionsfabrik arbeiten würdest, wie es die Pflicht jeder deutschen Frau ist, dann würdest du dir nicht die Sohlen durchtanzen, wie du es bei dem Luderleben, das du führst, tust.«

»Ich will dir mal was sagen, Schnucki«, bemerkte Tilli plötzlich sehr liebenswürdig. »Wenn du willst, daß ich Stunk mache, brauchst du mich’s nur wissen zu lassen. Ich könnte ja gleich jetzt zu deiner Frau rübergehen und ihr verschiedenes erzählen.«

»Geh doch rüber! Na los, geh doch!« erwiderte der Gauleiter, seine fetten Wangen bebten vor verhaltener Wut. »Aber dann kannst du erleben, was ich dir für Stunk machen werde!«

Woraufhin Tilli erschrocken schwieg. Wo soll ich denn nun Schuhe herkriegen? dachte sie trostlos. Vielleicht könnte Helm mir welche besorgen? Das nächste Mal, wenn er wieder seine Informationen von mir haben will, werde ich kein Geld dafür nehmen, sondern ihn um Schuhe bitten. Für Tilli existierte nur noch der eine, brennende Wunsch, sich neue Schuhe zu verschaffen. Was ging es sie an, ob die da draußen Krieg führten, ob sie in Rußland oder sonstwo angriffen, ob der Feind in Italien einmarschierte oder die Ruhr gebombt wurde. Das einzige, was sie bedrückte, waren diese alten, ausgetretenen Latschen, an die sie nächstens die Sohlen würde mit Ersatzbindfaden anbinden müssen.

»Na, da bist du ja endlich! Hurra! Mein ganzes Geld habe ich mit mir gewettet, daß ich dich schließlich doch finden würde!« rief hinter ihr jemand. Sie wandte sich um und sah sich einem jungen Flieger gegenüber. Auf jeden Fall salutierte sie erst einmal, indem sie mit zwei Fingern schneidig an die Stirn tippte, was ihr stereotyper Gruß für alle Offiziere war. »Hurra, mein Schnucki ist von der Front zurück!« rief sie vergnügt. »Na, und wie geht’s dir, Schnucki?«

Sie nannte alle männlichen Wesen ein für allemal Schnucki, was ihr das Leben wesentlich vereinfachte und sie vor peinlichen Verwechslungen bewahrte.

»Du hast mich also nicht vergessen, und was wir für Spaß gehabt haben?«

»Ich – dich vergessen? Was fällt dir ein! Tag und Nacht habe ich an dich gedacht, mein Schnucki!« beteuerte Tilli, die sich absolut nicht an ihn erinnern konnte. »Und ob wir Spaß gehabt haben! Junge, Junge, einfach fantastisch war das!«

»Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was heute nacht passieren wird, Puppe. Ich hab’ mir schon alles ausgedacht. Du wirst staunen. Heute nacht gibt’s großes Feuerwerk!«