Im Sternbild des Zentauren

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Menschenwelt, München …

Ben

Sabrina steht breit grinsend auf meiner Türschwelle, als ich ihr öffne.

„Hey, Hübscher!“ Sie mustert mich von oben bis unten und pfeift durch die Zähne. „Wow, du hast dich ja richtig in Schale geworfen zu deinem Geburtstag. Neues Hemd?“

Ich nicke und werfe ihr einen lasziven Blick zu.

„Wer weiß, vielleicht begegne ich heute einem richtig heißen Kerl. Da möchte ich ihm in nichts nachstehen.“ Ich zeige ihr meine Yoda-Socken, die ich schon anhabe. „Guck mal, von Kopf bis Fuß sexy, oder?“

Sie schüttelt sich vor Lachen, sodass ihre kinnlangen Locken wild umherfliegen. Dann schlingt sie die Arme um meinen Hals.

„Mit diesen Socken auf alle Fälle. Alles Gute nochmal, Benni. Gesundheit, Glück, eine Weltreise, unanständigen Sex … mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen.“

Ich lache auf und erwidere die Umarmung.

„Danke, Schatz. Komm rein.“

Als ich die Tür hinter uns geschlossen habe, sehe ich an meiner besten Freundin hinunter. „Ähm … der Gürtel ist toll, aber du hast anscheinend deinen Rock zuhause vergessen.“ Ich kratze mich gespielt ratlos am Kinn. Sabrina verdreht die Augen und schlägt mir gegen die Brust.

„Sehr witzig.“ Sie streift den ‚Rock‘ mit den flachen Händen nach unten, aber dadurch wird er auch nicht länger. „Willst du dein Geschenk gleich haben?“, fragt sie und klimpert mit ihren langen, getuschten Wimpern, worauf ich eifrig nicke.

„Natürlich. Ich kann es gar nicht erwarten.“

Sie kramt in ihrer riesigen Handtasche und holt ein in silbernes Papier gewickeltes Päckchen daraus hervor.

„Ich hoffe, es gefällt dir und du kannst es brauchen.“

Ich nehme Sabrinas Geschenk entgegen und packe es neugierig aus. Zum Vorschein kommt ein kleiner brauner Lederholster mit einem bekannten Logo und ich weiß bereits, was sich darin verbirgt.

„Ein Schweizer Taschenmesser!“, stoße ich überrascht hervor, während ich das Holster öffne und das Messer herausnehme. „Das ist das Victorinox Evolution Wood. Bist du verrückt? Das ist sauteuer!“

Sabrina winkt ab und grinst. „Ach was … ist es denn das Richtige? Ich dachte mir, das kannst du gut für deine Survival-Trips und Wandertouren gebrauchen.“

„Aber wie!“ Ich nicke begeistert, während ich das Multifunktionsmesser aus edlem Nussbaumholz genauer betrachte und die verschiedenen Tools ausklappe. „Ist das geil – es hat sogar eine Schere mit Mikrozahnung!“

„Was immer das auch ist“, erwidert Sabrina glucksend. „Freut mich, dass es dir gefällt.“

Ich umarme Sabrina stürmisch, hebe sie ein Stück hoch und drücke ihr einen festen Kuss auf die Wange.

„Wäre ich hetero, würde ich dir jetzt einen Heiratsantrag machen.“

Sabrina verdreht gespielt entsetzt die Augen.

„Gott bewahre!“

Nachdem ich mir jedes einzelne Tool meines neuen Spielzeugs akribisch angesehen habe, verlassen wir meine Wohnung und begeben uns ein Stockwerk tiefer, zu meinen Nachbarn. Mit Kreon, Anna und ihrer gemeinsamen Tochter Lilly bin ich von dem Tag an befreundet, als ich hier vor etwa vier Jahren eingezogen bin. Kreon ist ein beeindruckender Kerl, der aussieht, als könne er eine alte Eiche mit dem kleinen Finger zum Umkippen bringen. Ich weiß noch, als ich mich am Tag meines Einzugs mit einem Sessel abgeschleppt habe und beinahe mitsamt dem Ding die Stufen hinab gesegelt wäre. Kreon kam mir gerade von oben entgegen. Er erkannte die Situation sehr schnell und hat das schwere Möbelstück und mich quasi mit einer Hand am Abstürzen gehindert. Damit noch nicht genug, hat er den Sessel dann zwei Stockwerke hochgetragen, ohne auch nur ein bisschen außer Atem zu kommen. Anschließend hat er mir und meinen Freunden beim restlichen Umzug geholfen und uns Werkzeug ausgeliehen. Ich hab’ ihn und seine Familie dann zur Einweihungsparty eingeladen und seitdem sind wir Freunde.

Anna öffnet die Tür und strahlt, als sie uns sieht. Mit ihren schwarzen, langen Haaren und ihrem zarten Gesicht bildet sie das krasse Gegenstück zu ihrem Mann. Anna und Kreon sind Yin und Yang …völlig verschieden, aber untrennbar miteinander verbunden. Ich kenne kein Paar, das einander so vergöttert, wie diese beiden.

„Hey, ihr Zwei“, begrüßt sie Sabrina und mich fröhlich. „Schön, dass ihr da seid.“ Sie grinst mich an und streckt die Arme aus. „Ben, mein Lieber. Alles Gute zum Geburtstag.“ Ich lasse mich von ihr in eine sanfte Umarmung ziehen und erwidere die Geste.

„Danke, Anna.“

Anna umarmt auch Sabrina und bittet uns rein. Wir sind noch gar nicht weit gekommen, als Lilly im Flur auftaucht und lachend auf uns zustürmt. Sie ist vor einem Monat sechs geworden und kommt nach den Sommerferien in die Schule.

„Ben! Sabrina!“, jubelt sie begeistert und begrüßt uns mit Küsschen und Umarmungen. „Ich hab’ dir was gemalt“, sagt sie stolz und hält mir ein Blatt Papier vor die Nase. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Ihre strahlend blauen Augen funkeln dabei so intensiv, dass ich für einige Sekunden völlig darin versinke. Ich denke an meine eigene Augenfarbe, die ich verstecken muss. Auch wenn Lillys Iriden nicht so intensiv leuchten, sind sie doch auffällig und ungewöhnlich. Ihre Haare glänzen wie Kastanien im Herbstlaub. Ich nehme ihr die Zeichnung aus der Hand und gehe in die Hocke, um sie mit Lilly auf Augenhöhe zu betrachten. Mit ihren sechs Jahren ist die Kleine unglaublich talentiert und so erkenne ich die Szene sofort, die sie gezeichnet hat. Es ist eine ihrer Lieblingsgeschichten aus der griechischen Mythologie, die ihr Kreon jeden Abend zum Schlafengehen erzählt. Die schöne Königstochter Andromeda wird von Perseus, dem strahlenden Helden vor einem grausamen Seeungeheuer gerettet. Dabei hat Lilly kein Detail ausgelassen. Die Prinzessin ist an einen Felsen gekettet, während Perseus mit seinen geflügelten Schuhen herbeieilt, um das Ungeheuer zu töten.

„Wow!“ Ich pfeife durch die Zähne und nicke anerkennend. „Lilly, das ist unglaublich gut, vielen Dank. Das bekommt auf alle Fälle einen Ehrenplatz.“ Ich drücke sie kurz an mich und stehe dann auf, um Sabrina mein Geschenk zu zeigen. Auch sie ist beeindruckt und überschüttet Lilly mit Komplimenten. Die Kleine ist sichtlich stolz und grinst bis über beide Ohren.

„Nächste Woche gehe ich mit Papa wieder in die Sternwarte und dann erzählt er neue Geschichten. Vielleicht mal ich dann nochmal was für dich.“

„Ich freue mich darauf“, antworte ich augenzwinkernd, während wir durch den Flur in die Wohnküche gehen. Als Kreon vom Tisch aufsteht, um uns zu begrüßen, wirkt alles um ihn herum plötzlich lächerlich klein. Seine hünenhafte Gestalt scheint den kompletten Raum auszufüllen. Das rotblonde, dichte Haar trägt er heute offen und so wirkt er mit seinem Vollbart wie ein Wikinger. Als er die Hand ausstreckt, um mir zu gratulieren, sprengen seine Armmuskeln fast das Shirt.

„Hey, Ben! Alles Gute zum Geburtstag. Schön, dass ihr es geschafft habt, noch vorbeizukommen.“

„Danke, Kreon.“ Meine Stimme klingt eine Oktave höher, als der Wikinger mir die Hand fast zerquetscht. Ich bin sehr sportlich, körperlich in Topform und besitze viel Kraft, aber gegen Kreon hätte ich im Zweikampf keine Chance. Der Mann ist einfach ein Tier. Als er Sabrina begrüßt, sehe ich genau, wie sie seine Muskeln bewundert.

„Torte“, säuselt sie eintönig und im ersten Moment habe ich Angst, dass ihr die Muskelberge den Verstand geraubt haben. Doch dann hält sie die Tupperbox mit den Resten von Marlies’ Geburtstagstorte hoch und schaut von Kreon zu Anna. „Bens Stiefmama hat uns Torte für euch mitgegeben.“

„Oh, das ist aber lieb, danke.“ Anna nimmt Sabrina die Box ab und blickt lächelnd auf ihre Tochter herab. „Willst du etwas von Bens Geburtstagstorte, Schatz?“

Lilly bejaht die Frage ihrer Mutter mit Jubelgeschrei, während Kreon Sabrina und mir etwas zu trinken anbietet.

Kurz darauf mampft die Kleine genüsslich ihr Stück Torte, Sabrina und Anna haben sich eine Flasche Sekt aufgemacht und Kreon und ich trinken Helles aus der Flasche.

„Lilly begleitet mich nächste Woche wieder in die Sternwarte“, sagt Kreon zwischen zwei Schluck Bier. „Habt ihr nicht Lust, uns zu begleiten?“

„Oh ja!“, meldet sich Lilly von der anderen Seite des Tisches. Sie trägt jetzt einen Sahnebart und grinst breit. „Ihr müsst mitkommen!“

Ich sehe Sabrina fragend an und sie nickt begeistert.

„Ich bin dabei“, sagt sie, worauf ich mit der flachen Hand auf die Tischplatte klopfe.

„Gut, dann ist es beschlossene Sache. Wir freuen uns darauf.“

Kreon nickt zufrieden und nennt uns Datum und Uhrzeit. Sein großes Hobby sind die Sternbilder und deren mythologische Geschichten dazu. Er kennt unglaublich viele davon und ich bin immer wieder fasziniert von seinem Wissen. Kreon ist Hausmeister an einer Hochschule mit einer eigenen Sternwarte. Seit ich ihn kenne, repariert er dort nicht nur alles, sondern er hält auch alle zwei Wochen Vorträge an der großen Kuppel, auf dem Dach der Schule. Die Augen der zum größten Teil weiblichen Besucher hängen jedes Mal wie gebannt an seinen Lippen (und an seinem breiten Oberkörper), wenn er mythische Sagen von Göttern, Ungeheuern, Helden und anderen geheimnisvollen Wesen zum Besten gibt. Kreon hat etwas an sich, das die Menschen um ihn herum in einen beinahe magischen Bann zieht. In jedem Wort und in jedem Atemzug spürt man seine Leidenschaft für die Astronomie. Lilly ist der größte Fan ihres Vaters und jedes Mal an seiner Seite, wenn er erzählt. Sabrina und mich hat er auch schon damit angesteckt.

Kreon und Anna schenken mir eine Jahreskarte für den Zoo, den ich besuche, so oft es geht. Ich liebe es, durch dieses riesige Areal zu spazieren und die Tiere zu beobachten. Am liebsten bin ich im Tropenhaus, wo mich vor allem die Flora fasziniert. Auch hier habe ich bereits mit Pflanzen kommuniziert und still und heimlich meine Gabe der Heilung angewendet.

 

****

Weil wir ohnehin schon spät dran sind, entschließen wir uns, die U-Bahn zu nehmen und steigen einige Minuten später an der Haltestelle „Universität“ aus. Von dort sind es nur noch zwei Querstraßen bis zu unserem Lieblings-Mexikaner. In Schwabing gibt es unheimlich viele Restaurants und Kneipen Tür an Tür, außerdem sind die Technische Universität, sowie die Ludwig-Maximilian-Universität in unmittelbarer Nähe. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Straßen auch lange nach Feierabend noch sehr belebt sind. Kurz bevor wir unser Ziel erreichen, spüre ich plötzlich ein heftiges Kribbeln im Nacken und bleibe abrupt stehen. Jemand rennt in mich hinein und flucht. Ich entschuldige mich halbherzig, doch meine Aufmerksamkeit gilt etwas, oder besser gesagt jemandem auf der anderen Straßenseite. Wie erstarrt sehe ich direkt in smaragdgrüne Augen, die fest auf mich gerichtet sind. Sie ist wieder da, denke ich mit rasendem Herzen, während sich unsere Blicke aneinanderheften. Sie wirkt traurig und doch liegt ein Lächeln auf ihrem zarten Gesicht, das von dunklen Locken eingerahmt ist. Auf ihrem Kopf sitzt ein Kranz aus bunten Blüten, der ihr elfenhaftes Aussehen noch unterstreicht. Ich habe Angst zu blinzeln, weil sie dann vielleicht fort sein könnte. Wie immer gilt mein erster Gedanke meiner Mutter, doch dafür ist sie viel zu jung. Sie kann kaum älter sein als ich selbst, allerhöchstens Ende Zwanzig. Was mir jedes Mal eine Gänsehaut beschert, ist, dass ich anscheinend der einzige bin, der sie sehen kann. Sie steht einfach nur da, sieht mich an und lächelt schwermütig. Ihr dünnes Kleid flattert wie im Wind, doch heute Abend regt sich kein Lüftchen. Obwohl sie mitten auf dem Gehweg voller Menschen steht, scheint ganz offensichtlich niemand Notiz von ihr zu nehmen. Die junge Frau wirkt beinahe wie ein Hologramm aus einer anderen Welt, unwirklich und doch ganz klar und deutlich. Passanten hetzen an ihr vorbei, ohne sie anzurempeln. Als ich durch ein Hupen aufschrecke, gehorcht mein Körper endlich wieder. Ich will über die Straße zu ihr, doch in diesem Augenblick fährt ein Transporter vorüber und versperrt mir die Sicht. Es sind nur Sekundenbruchteile, doch kaum ist der Wagen vorbei, ist die junge Frau fort. Wie vom Erdboden verschluckt, so wie jedes Mal. Mein Blick gleitet suchend den Gehweg entlang, doch ich kann sie nirgends entdecken. Mein Herz hämmert hart in meiner Brust. So hart, dass ich automatisch die Hand darauflege und versuche, ruhiger zu atmen. Meine wild umherfliegenden Gedankenfetzen werden unterbrochen und ich zucke zusammen, als mich Sabrina sanft am Arm berührt.

„Was ist los, Ben?“ Sie folgt meinem Blick über die Straße, dann sieht sie mich mit gerunzelter Stirn an. „Hast du sie wieder gesehen? Die Frau mit den grünen Augen?“

Ich nicke abwesend.

„Ja“, antworte ich heiser und atme tief ein und aus, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Glaubst du, ich werde verrückt?“

„Noch verrückter, als du jetzt schon bist?“, fragt Sabrina sanft lächelnd und hakt sich bei mir unter. „Das geht doch gar nicht.“ Sie blickt mich besorgt an. „Willst du darüber reden?“

Ich schüttle den Kopf. „Nicht jetzt, die anderen warten.“ Die Schultern straffend füge ich hinzu: „Lass uns feiern!“

Als wir die gemütliche Kneipe betreten, sitzen unsere Freunde bereits an unserem reservierten Tisch. Wir kennen uns alle noch aus der Schulzeit und treffen uns regelmäßig zu verschiedenen Aktivitäten. Mit Mike und Katrin bin ich oft Bergwandern. Heidi arbeitet in einer Fördereinrichtung für behinderte Kinder und Noah ist mein Ex-Freund. Ich habe vor etwa einem Jahr Schluss gemacht, weil es sich für mich irgendwann einfach nicht mehr richtig angefühlt hat. Er wird schnell aufbrausend, eifersüchtig und bestimmend. Ich lasse mich nicht gerne herumkommandieren und ich muss in einer Beziehung auch nicht ständig an meinem Partner kleben. Noah teilt meine Leidenschaft fürs Bergwandern absolut nicht und war jedes Mal beleidigt, wenn ich mich sonntags um halb sieben am Morgen auf den Weg in die Natur gemacht habe und erst am Abend wiedergekommen bin. Mit der Zeit haben wir immer öfter deswegen gestritten und so hab‘ ich die Notbremse gezogen. Anfangs war es schwer, weil ich ihn als Freund nicht verlieren wollte. Noah war sehr verletzt, aber wir haben die Kurve gekriegt und ich möchte ihn nicht missen. Ich weiß, dass er immer noch an mir hängt und mich gerne zurückhaben würde, aber ich will das nicht mehr.

„Heeeeey, da seid ihr ja!“ Mike grinst, hebt seinen Long Island Eistee und prostet mir zu. „Sorry, aber wir mussten schon mal ohne euch trinken.“

Ich lache kopfschüttelnd. „Schon klar.“

Nacheinander stehen alle auf, um uns zu begrüßen und mir zum Geburtstag zu gratulieren. Von den Mädels werde ich mit Wangenküssen überhäuft, während mich Mike in eine Umarmung reißt, die sich eher nach Schwitzkasten anfühlt. Er trainiert viermal die Woche im Fitnessstudio und rennt am Wochenende mit mir in den Bergen herum – kein Wunder, dass er aussieht, wie ein Schrank. Noah küsst mich auch auf die Wange und sieht mich schon wieder so komisch an.

„Alles Gute, Ben“, wispert er in mein Ohr und seufzt sehnsüchtig hinein.

„Nimm die Zunge aus Bens Ohr, sonst hört er sein Geburtstagsständchen nicht“, ruft Sabrina trocken, worauf sich Noah mit roten Wangen zurückzieht.

„Oh nein, ihr wollt doch wohl nicht singen?“, frage ich entsetzt und sehe mich panisch im Raum um. Das könnte peinlich werden.

„Wir sind doch keine Tierquäler“, erwidert Heidi lachend, als auch schon der alte Klassiker Happy Birthday aus den Lautsprechern tönt. Gleichzeitig kommt meine Lieblingskellnerin Britta um die Ecke geschwebt. Auf einer Handfläche balanciert sie ein Tablett voller Schnapsgläser und auf der anderen eine Torte mit brennenden Wunderkerzen. Wir johlen und klatschen und auch die Gäste an den anderen Tischen applaudieren und rufen Glückwünsche herüber. Britta stellt die Sachen ab und breitet ihre Arme aus.

„Ben, mein Hübscher! Lass dich drücken.“ Sie presst mich an ihre großen Brüste und küsst mich links und rechts auf die Wangen. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Sie lächelt mich breit an, dann verteilt sie die Schnapsgläser an uns und nimmt sich auch eins. „Der geht aufs Haus, Leute! Auf Ben!“

„Auf Ben!“, rufen alle jubelnd durcheinander. Ich lache in die fröhliche Runde und proste allen zu, bevor ich das Gesöff mit einem Schluck hinunterschütte. Ja pfui Teufel! Captain Morgan noch vor dem Abendessen … das kann ja noch heiter werden.

Zwei Cocktails und eine Runde Schnaps später packe ich meine Geschenke aus. Von Heidi bekomme ich einen schönen Füller und ein Notizbuch und Katrin und Mike haben einen Gutschein für den Sportshop besorgt, in dem ich immer meine Wanderausrüstung kaufe. Noah hat mir mein Lieblingsparfüm gekauft und sieht mich erwartungsvoll an, nachdem ich es ausgepackt habe. Die anderen sind in Gespräche vertieft, während er sich ganz nah zu mir neigt und an meinem Hals schnüffelt.

„Du riechst immer gut, Ben. Auch ohne Parfüm … gerade morgens, wenn du aufgewacht bist.“

Ich glaube mich verhört zu haben, rücke ein Stück von ihm ab und sehe ihn verwundert an. Ich bin froh, dass ich die farbigen Kontaktlinsen trage. Noah starrt mich so intensiv an – da muss ich seinen Blick nicht auch noch mit meiner irren Augenfarbe erwidern. Seufzend lege ich eine Hand an seine Wange und tätschle sie leicht.

„Noah, du weißt, dass du mir sehr viel bedeutest …“, setze ich an, worauf er eifrig nickt und wieder ein Stück näher rückt. „Und deswegen rate ich dir, ab jetzt nur noch Wasser zu trinken, okay?“

Noah zieht seine Augenbrauen zusammen, macht dann eine Schnute und zuckt mit den Schultern.

„Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht“, murmelt er, gerade so laut, dass ich ihn verstehen kann. Ich schüttle grinsend den Kopf und stoße mit meiner Schulter gegen seine, worauf er auch lachen muss. Ich wuschle durch seinen blonden Lockenschopf und ordere bei Britta ein Desperados für mich und ein großes Mineralwasser für Noah.

Erst in den frühen Morgenstunden verlassen wir alle zusammen das Lokal und gehen danach verschiedene Wege. Nachdem wir uns vergewissert haben, dass die Mädels sicher nach Hause gebracht werden, machen Sabrina und ich uns ebenfalls auf den Weg.

Uns beiden ist klar, dass der Englische Garten um vier Uhr morgens nicht gerade der sicherste Ort ist. Aber es ist eine herrliche, sternenklare Nacht und deswegen entschließen wir uns spontan, zu Fuß nach Hause zu gehen. Und der kürzeste Weg führt durch den Park. Wir sind noch gar nicht weit gekommen, da beschleicht mich ein ungutes Gefühl, ob unsere Entscheidung die richtige war. Nicht selten passieren hier Überfälle und dergleichen. Sabrina scheint denselben Gedanken zu haben.

„So schön wie der Englische Garten tagsüber ist, umso gruseliger finde ich ihn in der Nacht“, sagt sie leise und ich spüre ihr Unbehagen. Ich lege einen Arm um ihre Schultern und ziehe sie an mich.

„Keine Angst, ich pass schon auf dich auf“, versuche ich sie zu beruhigen, während wir automatisch unsere Schritte beschleunigen. Als wir am Monopteros vorbeikommen, muss ich dennoch innehalten und sehe hinauf, wo der kleine Rundtempel von Scheinwerfen beleuchtet wird und strahlend schön auf seinem Hügel thront.

„Wahnsinn, wie geil das aussieht“, wispere ich wie gebannt. Die Sichel des zunehmenden Mondes und ein atemberaubender Sternenhimmel über dem Monopteros verzaubern die gesamte Umgebung in etwas Mystisches, Märchenhaftes. Wieder einmal erfasst mich diese vertraute, eigenartige Sehnsucht, die ich nicht erklären kann. Meine Gedanken sind plötzlich wieder bei der jungen Frau mit den grünen Augen, die ähnliche Gefühle in mir auslöst, und ich seufze auf.

„Denkst du an Fräulein Grünauge?“, fragt Sabrina, worauf ich sie erstaunt ansehe.

„Woher weißt du das?“

Sabrina kichert, während wir unsere Schritte langsam wieder aufnehmen und weitergehen. „Ich kenne dich doch“, antwortet sie. „Wenn ich nicht ganz sicher wüsste, dass du wirklich nur auf Männer stehst, würde ich sagen, du bist verliebt.“

Ich schüttle vehement den Kopf.

„Nein, solche Gefühle sind das nicht“, erwidere ich rasch. „Ich kann dir das nicht erklären, aber ich weiß irgendwie, dass wir eine Verbindung zueinander haben. Nicht auf romantische Art … aber ich spüre eindeutig, dass sie eine Rolle in meinem Leben spielt.“

„Vielleicht ist sie wirklich deine Schwester“, sagt Sabrina nachdenklich. „Wir wissen ja nicht, ob deine Mutter nochmal Kinder bekommen hat.“

„Wenn sie diese auch im Stich gelassen hat …“, erwidere ich deprimiert und schüttle den Kopf. „Ich muss versuchen, mit ihr zu sprechen. Aber sie verschwindet ja jedes Mal von einem Moment auf den anderen.“ Ich seufze schwermütig, worauf mich Sabrina sanft in die Seite stößt.

„Hey komm, jetzt lass uns nach Hause gehen. Und dann teilen wir uns erstmal das letzte Stück der Geburtstagstorte“, sagt sie aufmunternd, während unsere Schritte im Kies knirschen. „Dein Vater hat Recht, Alkohol macht hungrig.“

„Daran hab’ ich auch grad gedacht“, antworte ich grinsend. „Ich freu mich jetzt richtig darauf. Und auf ein warmes Bett.“

Obwohl es erst Anfang August ist, hat der Regen der letzten Tage die Luft ganz schön abgekühlt und ich fröstele etwas in meinem Hemd. Eine leichte Brise verstärkt das Gefühl noch. Plötzlich hören wir Schritte hinter uns, die immer schneller werden. Ich sehe mich flüchtig um und entdecke ein paar dunkel gekleidete Gestalten in einiger Entfernung. Sofort beschleicht mich ein mulmiges Gefühl und ich nehme Sabrinas Hand. „Komm, wir sollten echt sehen, dass wir von hier fortkommen.“

Als die Gruppe direkt hinter uns ist, ziehe ich Sabrina zur Seite und hoffe, dass die Typen vorbeigehen, doch im nächsten Moment packt mich jemand am Arm.

„Hey, Arschloch, bleib stehen!“

Ich fluche innerlich, während Sabrina ein ersticktes Geräusch von sich gibt. Als ich mich umwende, erkenne ich, dass es sich um eine Horde Halbstarker handelt, nicht älter als siebzehn, oder achtzehn. Der Junge, der immer noch den Ärmel meiner Jacke festhält sieht mich hasserfüllt an. „Geld her!“, befiehlt er, „alles, was du hast. Und deine kleine Freundin hier auch.“ Er wirft einen Blick auf Sabrina und grinst süffisant. Ich entreiße ihm meinen Arm und schüttle den Kopf.

 

„Verzieht euch!“

Jetzt kommen auch die anderen bedrohlich näher, während der Typ vorschnellt und mich wieder am Arm packt.

„Ich mache keinen Spaß, Alter! Geld her, oder ich stech’ dich ab, Mann!“ Er sieht sich kurz zu seinen Kumpels um und fügt dann hinzu. „Und dann ficken wir deine Freundin.“

Der Zorn überrennt mich so heftig, dass ich nicht darüber nachdenke, was ich mache und wie dumm das von mir ist. Anstatt den Typen einfach unser Geld zu geben, schlage ich zu und verpasse ihm einen heftigen rechten Haken, sodass er zu Boden geht. Sabrina schreit auf, als einer der anderen auf mich zustürmt. Ich wappne mich dafür, nochmal zuzuschlagen, als ich plötzlich die Klinge eines Messers im Schein der Straßenlaterne aufblitzen sehe. Und dann passieren mehrere Dinge auf einmal. Ich schiebe Sabrina mit einem Arm schützend hinter mich, während sie sich an mich klammert und mich gleichzeitig zurückziehen will. Es ist völlig verrückt, aber aus einem übermächtigen Instinkt heraus greife ich nach meinem Edelstein, anstatt die Hand mit dem Messer abzuwehren, die gerade auf mich niedersaust. Ich schreie auf, als ein heftiger Schmerz in meine Brust fährt. Meine Augen tränen und ich ringe nach Luft, während die Typen und der Englische Garten vor mir zu verschwimmen beginnen. Ich registriere noch, dass der Stein in meiner Hand vibriert und heiß wird, dann falle ich mit Sabrina durch einen Ring aus gleißendem Licht. Mein Hemd fühlt sich nass auf meiner Haut an und ich ahne, dass es Blut sein muss. Sämtliche Geräusche verstummen und werden durch einen immer lauter werdenden Pfeifton abgelöst, bis dieser schließlich ebenfalls verklingt und alles um mich herum in einer schwarzen Nebelwolke verschwindet. Ich merke, wie mir der Edelstein aus der Hand rutscht und versuche vergeblich die Augen offen zu halten, aber ich verliere den Kampf und drifte davon …