Liebe und Vernunft

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Sie werden begreifen, dass ich Ihnen mit diesen Zeilen nur eine kurze offene Erklärung geben konnte. Sie wird, wenn Sie darauf nur ein ‹Nein› haben, genügen. Im anderen Falle aber – werden Sie Gelegenheit finden, dass wir uns einmal allein sprechen können, da wird es dann erst möglich sein, alles klar zu beurtheilen, und gemeinsam über die wichtigsten Wege zu entscheiden. Ich wiederhole, dass Sie sich damit nicht binden. In jedem Falle, glauben Sie mir, Lina, wird meine Verehrung für Sie in mir bleiben, sie ist zu tief gewurzelt um nicht dauernd sein zu müssen.

Um die Existenz dieses Briefes weiss ausser meiner Schwester und meinem Freund, der zu schweigen versteht, niemand etwas, es mag gut sein, wenn auch Sie ihn keinem Dritten zeigen. Dagegen kenne ich Ihre verschiedenen Beziehungen zu wenig, um Ihnen sonst vom Rathsholen abrathen zu dürfen. Ich weiss aber ja, dass Sie selbständig zu sein früh lernen und üben mussten.

Mit Ihrer Antwort eilen Sie nicht, ich werde, bringe sie mir Glück oder nicht, ruhig zu erwarten suchen.

In tiefster Verehrung Ihr ergebener Eugen Huber»

Linas Antwort dagegen war kurz und klar:

«Zürich d. Nov. 1871

Sehr werther Herr Huber!

Nach reiflicher Überlegung fühle ich mich veranlasst, Ihnen meine Ansicht kund zu geben. Ihre Meinung werther Herr Huber ist jedenfalls zu achten und zu anerkennen, jedoch werden Sie mir nicht zürnen, wenn ich gleich frei heraus die offene Wahrheit schreibe.

Mit meiner Gesundheit geht es, Gott sei Dank, wieder bedeutend besser, so dass ich mich nicht mehr so gezwungen fühle, wie noch vor kurzer Zeit, das Rauchzimmer zu verlassen, sondern werde suchen, so lange es mir möglich, in meiner jetzigen Lage zu verharren. Ich ersehe aus Ihrem werthen Schreiben, dass Sie sich sehr um mein Befinden interessieren und bin Ihnen deshalb zu vielem Dank verpflichtet; aber so sehr wohlmeinend Ihr Vorschlag ist, werde ich mich doch nicht dazu entschliessen können. Ich bin schon zu lange bei Herrn Vontobels, als dass ich denken müsste, wenns mit meiner Gesundheit schlimmer gienge, dass mich namentlich Frau Vontobel so gut als Ihr [sic] nur möglich, mich verpflegen würde. Glauben Sie mir zwar werther Herr Huber, dass ich seit dem Todte meiner lieben unvergesslichen Eltern schon manche schwere, bittere Stunden durchzukämpfen hatte, dass ich mich oft ganz verlassen ohne irgend einen Mütterlichen Rath befand; aber das muss ich gestehen, dass mir meine liebe Frau Vontobel treu zur Seite stand, und mich ganz als eigene Tochter unterstützte.

Ich bitte Sie deshalb herzlich dringend werther Herr Huber, zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihren gehegten Hoffnungen und Wünschen nicht entgegnen kann.

Suchen Sie diese Gedanken so leicht als möglich zu vertreiben und zu vergessen und seien Sie überzeugt, dass ich Sie aus Achtung und Dankbarkeit fortwährend in hohen Ehren halten werden. [sic]

Genehmigen Sie desshalb nochmals die Versicherung meiner Achtung und Freundschaft ganz ergebenst

Lina Weissert»

Lina täuschte sich nicht, Familie Vontobel sorgte für ihre Gesundheit. Im folgenden Jahr ging sie bekanntlich zur Erholung ins Niedelbad ob Rüschlikon.

«Antwort von Lina. Mein Glück ist zu Ende.» Nun machte Huber einen grossen Bogen um die Bollerei, schickte aber regelmässig Zürcher vorbei, auf dass er das Neueste von Lina berichte. Hubers Füsse wurden schlimmer, er musste gar das Bett hüten. Dann besuchte er andere Wirtshäuser: «Mit Z. im Grünen Glas. Gegensatz!» Ganz ohne war das «Grüne Glas» indessen nicht, hier hatte sich drei Jahre zuvor Wilhelm Conrad Röntgen mit Bertha Ludwig, der Tochter des Wirts verlobt.

Um endlich seine berufliche Zukunft zu sichern, stürzte sich Huber intensiv in die Arbeit, oder wie er es Kleiner gegenüber beschrieb: «Aber der Schmerz ist nicht ein wehmütiger Liebesschmerz gewesen, die Nacht über wurde ausgeweint, und den folgenden Tag ging ich an die Arbeit, das einzige zu thun, was mir blieb, mir nun möglichst schnell eine rechte Stellung zu verschaffen.»135 Innert weniger Wochen verfasste er seine juristische Doktorarbeit. Anschliessend plante er mit dem Rest seines Erbes einen längeren Auslandaufenthalt. Nicht nur im Fall von Lina, auch beruflich dachte Huber in grossen Dimensionen: «Wahrscheinlich besuche ich Wien, Berlin, Paris, London um mir Material zu einer Arbeit über die neueren Codificationen zu sammeln. Das würde dann nämlich eine Vorarbeit für’s künftige schweizerische Gesetzbuch.»

Am 23. Dezember hielt Huber fest: «An Kleiner Lina anvertraut.» Kleiner hielt nichts davon, unrealistischen Liebesträumen nachzutrauern. Wohl als Trost für Huber schrieb er ihm von «Blödigkeit und Spröde». Damit kam er schlecht an. «Spröde, blöd ist sie gar nicht, man darf sie recht lieb haben und mit ihr scherzen.» Linas Antwort begründete er mit ihrem «Gefühl der Dankbarkeit gegen ihre Pflegeeltern». Huber glaubte, Lina liebe ihn. «Sie weiss nicht, dass ein Mann, der sie liebt, und den sie liebt, die grössten Ansprüche auf sie hat, und drängt alles zurück, was ihre Pietät gegen besagte Leute verletzen könnte … Für mich ist die Situation drum nur um so schlimmer. Da hilft kein Mephistoteles, weil keine Grete zu gewinnen ist, sondern eine Frau, die sehr viel, sehr viel erlebt hat.» «Was ich zu thun gedenke, habe ich dir bereits gesagt – wenn sie so lange lebt, bis ich ihr klar zeigen kann, dass meine Liebe mehr ist als Schwärmerei, wenn sie unterdessen vielleicht doch zur Einsicht kommt, dass sie nirgendwo so gut aufgehoben ist als bei einem Mann, da mag mir der grosse Wurf am Ende doch noch gelingen.»

Linas Gefühle schätzte Huber völlig falsch ein. Dagegen verblüfft seine prophetische Schlussfolgerung. «Lina ist mir nicht nur die erste Liebe, sie ist mir mehr, ich weiss, dass sie mir geben könnte, was mir fehlt: praktischen Idealismus, der Thun und Denken durchdringt. Mit ihr möchte ich wohl mehr leisten, als ohne sie mir je möglich ist, sie liesse mich nie mehr rückwärts gleiten. Nun, komm’s heraus, wie’s will, jedenfalls will ich mein Möglichstes thun, sie doch zu erlangen.»136 Er hielt Wort. Das Tagebuch 1871 hatte er – trotz Linas eindeutiger Absage – mit dem Versprechen geschlossen «Lina ich bleib dir treu.»

ZWISCHEN EBBE UND FLUT, HOFFNUNG UND KATASTROPHEN

Nach Hubers erfolglosem Antrag gingen er und Lina nicht nur geografisch getrennte Wege. Sie arbeitete weiter in der Bollerei – mit einem kurzen Abstecher ins Nidelbad im verregneten Juni 1872. Huber dagegen zog es in die Ferne.

Lange gelang es Huber, die Illusion aufrecht zu erhalten, Lina verschmähe ihn einzig aus Rücksicht auf ihre Pflegeeltern. Nach ihrer Absage im November 1871 beendete er im Eiltempo sein Studium. Am 9. März 1872 feierte er seine Promotion als Dr. iur. Dann organisierte er sein Wanderjahr. Er brachte es nicht über sich, Zürich ohne einen Abschiedsgruss an Lina zu verlassen. Bevor er den Zug nach Wien bestieg, warf er den Brief im Bahnhof in einen Kasten. «Er rasselt in den Einwurf.»137

«Der Tag meiner Abreise rückt heran, ich gedenke übermorgen Zürich zu verlassen, um noch ein Jahr mich im Ausland umzusehen, da kann ich nicht anders als vor Anfang dieses neuen Lebensabschnittes noch einmal auf unsern kurzen Briefwechsel vom letzten November zurückzukommen. Schon lange drängt es mich, Ihnen zu sagen, dass ich Ihre gütige Antwort zu verstehen glaube, dass ich der letzte wäre, der die Gründe, die Sie anführen nicht, trotz allem, was sie mir brachten, hochzuschätzen vermöchte …» Den Plan ihrer Weiterbildung hatte er nicht aufgegeben, es war seine Pflicht, «darauf hinzuarbeiten, dass Sie sich einst in dem neuen Kreise vollständig wohl fühlten und die Gewissheit hätten, ihn nicht nur mit Geist und Herz, sondern auch mit Bildung mehr als auszufüllen – zu beherrschen!» Bei aller Achtung vor ihrer Entscheidung wollte er sie niemals ganz verlieren. «Legen Sie es mir nicht als Zudringlichkeit aus: es bedarf in mir der Ueberzeugung, dass unsere Naturen eben doch verwandt seien, bedarf der Erkenntniss, dass Gleichgeartete, um im Widerstreit gegen das herzlose Gemeine sich aufrecht zu erhalten, zusammen halten müssen, um nach Ihrer Antwort mich dazu zu drängen, Ihnen die Bitte auszusprechen: Betrachten Sie mich als Ihren Freund, lassen Sie mich das Glück empfinden, dass Sie an meine Freundschaft glauben, und wenn ich je mit Rath und That für Sie etwas thun kann – erinnern Sie sich meiner!» Er hatte sich Gewalt angetan und die Bollerei nicht mehr betreten. Mit Wünschen für Linas Gesundheit schloss er und sollte es sein, «dass unsere Bahnen doch noch einst sich näher kommen – dann rechnen Sie auf meine Treue und Ergebenheit!» – Hoffnungsvoll gab er Augusts Geschäftsadresse in der Kreditanstalt für eventuelle Kontakte an. Lina nutzte das Angebot nicht.

Huber unternahm eine ausgedehnte europäische Bildungsreise, unter anderem nach Mailand, Genf, Paris und London. Wien besuchte er, um einige wichtige Vertreter seine Fachs kennenzulernen. So sass er in den Lehrveranstaltungen Jherings,138 mit dem er auch privat verkehrte. «Prächtiger Abend bei diesem Heros»,139 notierte der junge Bewunderer des berühmten Gelehrten. Tomascheck bot Huber an, mit ihm die Herausgabe der «niederösterreichischen Weisthümer»140 zu bearbeiten, doch mochte sich Huber zu dem Zeitpunkt nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn entscheiden. «Mit schwerem Herzen schlug ich aus, und werde hoffentlich nie bereuen, diese Gelegenheit, Schriftgelehrter zu werden, versäumt zu haben.»141 Neben den Lehrveranstaltungen nutzte der Besucher aus der Provinz fleissig das kulturelle Angebot der Grossstadt. Im Opernhaus begeisterte er sich für «Lohengrin» und «Tannhäuser», in den Museen für die grosse Malerei, regelmässig ging er auch ins Theater. Selbst eine Jesuitenpredigt stand auf seinem Programm. «Sehr populär, aber wie! Also das sind ihre Waffen!»142 Mit dem neuen Freund Frei und dem alten Schulkollegen Schröter erkundete er Prater und Bierhallen. Bei alledem vergass er Lina nie. «Ich denke immer und immer an Lina.»143 Er war enttäuscht, dass ihm seine Freunde kaum von ihr berichteten.

 

Von Wien reiste Huber über Triest nach Venedig. Für diese Stadt reservierte er sich acht Tage. In Hubers Geist war Lina mit dabei: «Lina gedenken.» Er hoffte, eines Tages all das Schöne mit ihr nochmals sehen zu können. Dann ging es weiter über Padua, Vicenza und Verona nach Mailand, wo ihn Archivstudien länger festhielten. Dort erreicht ihn auch jener Brief Stolls, der alles infrage stellte. Huber hatte eine Vorahnung: «Düster auch meine Gedanken. Mir ist es, ich hätte Lina verloren»,144 dann die Bombe: «Stolls Brief! Unerwartet. Erst Freudenglut, dann Schmerz. Er scheint mir krank zu sein, sonst hätte er nicht so schreiben können! O Lina, warum gerade der!»145 Huber erfährt von Stoll, dass sich Lina in ihn, Stoll, verliebt habe. Lina hatte Stoll Hubers «ersten Brief» – seinen Antrag – gezeigt. Stoll liess «einige Schnödigkeiten» fallen und kündigte an, er werde Huber nicht mehr schreiben, «da ich ja jedenfalls L. längst vergessen habe … Der Schmerz über diese Herzlosigkeit, über die Verletzung meiner besten Träume, wüthet nun ungehindert in mir und raubt mir Arbeit und Ruhe zusammen. Nun ist es aus mit der Bollerei, das seh’ ich ein, aber ein solches Ende hätte ich nicht erwartet und auch nicht verdient!»146 Zum Trost las Huber Molières «Tartuffe», die Geschichte des Scheinheiligen, der seinen Gastgeber beinahe um Haus und Herd bringt.147

«Jetzt, Lina entschwindest du mir mehr von Woche zu Woche, ich will, aber ich kann dich nicht vergessen. Und doch muss es sein!»148 Nach der Lombardei war das Tessin die nächste Station. In Bellinzona gelangen Huber wichtige Entdeckungen im Archiv für seine künftige Arbeit. In Hubers Tagebuch fehlt jeder Hinweis auf den Bau des Gotthardtunnels. Genau in jenen Tagen, am 13. September 1872, begannen die Arbeiten am Südportal.

Über Turin fuhr er zum Wintersemester nach Genf. Logis nahm er bei Mademoiselle Mayor. Seine Wirtin war eine gebildete Dame, die sich prompt in ihren Pensionär verliebte. «Mlle bringt Noten. Tinte verschüttet. Lampe umgeworfen. Sie und ich wie besinnungslos. Dies öffnet mir Augen.»149 Und am folgenden Tag. «Schwerer Kampf – ich besteh ihn fast nicht. Wie mags enden? Sie ist so lieb – und doch geht’s nicht. Sie sei meine Schwester!» Huber blieb standhaft, Sara Mayor prägte sein Frauenbild. Sie war wohl jene «Genferin», die dem jungen Mann künftig als Ideal vorschwebte. In der Pension freundete sich Huber zudem mit einem Amerikaner an. Fortan träumte er regelmässig vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Alternative zum helvetischen Elend.150

Huber beschloss, trotz allen Hindernissen auf die akademische Laufbahn zu setzen. «In mir Entschluss, das Ziel der Wissenschaft über das der Liebe zu setzen. Nichts mehr von Liebe, sondern nur Zweck und Mittel!»151 Er bereitete eine Habilitationsschrift und eine Probevorlesung für Zürich vor. Wie immer seine Vorsätze aussahen, die letzten Zeilen des Tagebuchs von 1872 galten Lina. «Dich lieb ich immer noch, die mir jetzt eben so treu im Geistesauge vorschwebt! Aber das Opfer wäre zu gross, das ich von dir verlangen müsste – Sei glücklich – auch ohne das Glück, das ich dir gerne gegeben hätte.» Ende Januar kam Huber zur Probevorlesung nach Zürich – und besuchte selbstverständlich die Bollerei. «Ich trete rasch voran ein. Lina erröthet. Grüsst mich … Frau Vontobel grüsst auch. Beim Abschied sagt Lina, sie danke mir für den Besuch, hoffe mich nochmals vor Abreise zu sehen. Im Sturm zurück.»152 Wie er am folgenden Tag Stoll antraf, überkam ihn ein «elender Moralischer». Nach der Probevorlesung traf er Kleiner. «Er rät mir von Lina ab. – Spät zu Hause, schlaflose Nacht.»153 Am 3. Februar war Huber in Genf zurück. «Erste Begeisterung für Lina, Sehnsucht. – Bei Ankunft in Genf aber Überlegung, dass ich meiner Ehre manches schuldig sei.» Die wissenschaftliche Laufbahn war auf die Schiene gesetzt, Huber durfte sich Entspannung gönnen. Die Bilanz seines Genfer Aufenthaltes war gemischt: «Adieu liebes, böses Genf.»154

Paris, zu jener Zeit noch ohne Eiffelturm, bot dem Touristen Huber faszinierende Kunst. Im Louvre kaufte er sich zur Erinnerung eine Venus von Milo,155 melancholisch verabschiedete er sich von den Gemälden im Palais du Luxembourg. «Adieu den lieben Gemälden.»156 All die Zeit liess ihn Lina nie los. Beim Besuch in Versailles entdeckte er eine Darstellung der Jungfrau von Orléans. «Gleicht sie nicht ihr? … schwärmerische blaue Augen, schlichtes blondes Haar, schmale hohe Stirne, edel, rein … ach, dass ich sie einmal im Leben finden könnte.»157

London war die letzte Station seiner Bildungsreise, damals die Metropole eines Weltreiches. Huber hatte sich mit seiner Schwester Pauline verabredet, die Begegnung begann in Eintracht. «Pauline lieb, gut schwesterlich – jetzt erst lerne ich sie kennen.»158 Tatsächlich hatten die beiden Geschwister nur wenige Jahre zusammengelebt. «Bis gegen Mitternacht Gespräch mit Pauline über Vergangenheit. Sie ist wie ich!»159 Es ist zu vermuten, dass genau dies die folgenden Spannungen auslöste. Pauline, erfolglos auf Stellensuche, wurde gegen ihren Bruder schnell giftig. Sollte er sofort abreisen? «Und doch würde dies ihr Übel sehr vermehren, sie ist ein Weib, ertragen wir den Schimpf.»160 Immer wieder hatte Pauline Anfälle von «Ausgelassenheit», griff zu Bier und Schnaps.161 «Sie redet über England und ihr Leiden, lachend meint sie, bald sei sie verrückt.» Huber forderte sie auf, sofort nach Zürich zurück zu kommen und Lehrerin zu werden. «Sie liebt meinen ‹Vortrag› nicht über das was sie tun soll.»162 Die geschwisterlichen Auseinandersetzungen trübten seine Faszination für London nicht. Die englische Kultur lag ihm stets näher als die französische.

Nach seiner Heimkehr häuften sich berufliche und private Sorgen. Für Hubers Vorlesung meldete sich kein einziger Student. Nun galt es, sich neu zu orientieren. Chefredaktor Weber bot ihm eine Stelle in der «Neuen Zürich Zeitung» an mit einem Gehalt von 2000 Franken. «Freude und doch Zweifel.»163 Er traf Stoll, der sich in der Lina-Geschichte aus der Verantwortung schleichen wollte. «Auf sechs Zusammenkunft mit Stoll. Er zeigt mir die Briefe und Photographie Linas, ganze Entwicklung, bis zur Katastrophe, worin er nun mit ihr steckt. Nachtessen in Bollerei mit Stoll genommen. L. und ich kälter.» Hubers Schlussfolgerung: «Nun ist alles gebrochen … Ahnung vielen Elends, das aus diesen unberechenbaren Leidenschaften entsteht.»164

In den folgenden Monaten muss es Huber ganz schlecht gegangen sein. Stoll reiste ins Ausland, Lina trug Trauer, von der Arbeit in der Redaktion wissen wir nichts. Vom 2. Juni bis zum 29. Oktober blieben die Tagebuchseiten leer, eine ausserordentliche Seltenheit in Hubers Leben. Erst zwei Tage vor seiner Übersiedlung nach Bern nahm er die Notizen wieder auf. Am Vorabend der Abreise zeigte er sich wieder einmal in der Bollerei. «Lina. Ihr Abschied. Weh im Herzen.»165 Selbst mit Emil Zürcher gab es Unstimmigkeiten. Dennoch erwartete Huber von seinem Freund Hilfe in Liebesangelegenheiten: «Wie kommt das mit Lina? Was wird Zürcher tun können? Wir verstehen uns nicht mehr recht.»166

Nach Rücksprache mit dem Erziehungsdirektor durfte Huber an der Universität Bern Vorlesungen halten, man hatte ihm am 11. November 1873 die Venia legendi erteilt.167 In der akademischen Welt hatte er wieder Tritt gefasst. Gleichzeitig trat im Liebesleben die grosse Wende ein. Ebenfalls am 11. November traf Linas Brief mit Bild ein: «Längst schon drängt es mich, meinem Versprechen nachzukommen. Die Gründe, die mich daran verhindert, sind Ihnen nicht bekannt; einmal weil nicht genügend Zeit gefunden, um eine neue Aufnahme zu bestellen, und dann, weil ich immer noch im Ungewissen war, ob selbiges noch von Interesse für Sie sein werde. Meine Zweifel hierüber waren gehoben durch die stete Theilnahme, die Sie für mich hegten und die mir auch jetzt noch nicht völlig erloschen schien. – Herrn Dr. Zürcher erbot mir Ihre Adresse, falls ich geneigt wäre, Ihnen beiliegendes eigenhändig zuzustellen, desshalb [sic] nahm ich mir die Freiheit.»168 Zürcher hatte sich erneut als Vermittler bewährt.

Dann ging Huber aufs Ganze und heckte zusammen mit Zürcher jenen «Lausbubenstreich» aus, der Lina für immer für ihn gewinnen sollte: Die Vorladung aufs Obmannamt und der hastige Antrag im Büro. Es folgten Hubers Glücksmomente und Linas Zweifel und in den folgenden Wochen abwechslungsweise Hochs und Tiefs.

Am 21. November glaubte Lina an ihre Liebe, doch schon am folgenden Tag quälte sie wieder Unsicherheit. «Ich war glücklich im Bewusstsein, Dich glücklich zu wissen, ich dachte an nichts anders, als Dir mein ganzes Leben zu weihen. Doch ach, wie kurz währte dieser Moment! Ich fühlte mich stark genug, allem Trotz zu bieten, Widerstand zu leisten, allem was da kommen möge und heute! Wie schwach bin ich wieder! O! dass ich anders wäre, dass ich das Leben nicht allzu schwarz mir ausmalte … so lange diese beständige Ungewissheit in mir wechselt, so lange ist es entschieden das Richtige nicht. Ich bitte, ich beschwöre Dich, nimm mein gestriges Wort nicht als bindend, lass mir noch meine Freiheit bis [ich] Dir ohne allen Einfluss äusserer Umstände das Jawort geben kann. Bis dahin gib Dich nicht etwa dem Schmerze des Verlustes preis, ich kann Dir unmöglich Nein sagen, doch ebenso wenig ein bindendes Ja.»169

Vier Tage später – Lina betreute die kranke Frau Vontobel – klang es wieder optimistischer. «Die bangen Zweifel über unsere Zukunft haben sich gemildert und ich sehe mit freudiger Zuversicht, mit Ruhe unseren Schicksalen entgegen.»170 Nach Frau Vontobels Tod, kam Huber – ausdrücklich gegen Linas Wunsch – nach Zürich, besuchte das Sterbezimmer und verabredete sich mit Lina im Asyl, dem Heim der Diakonissen. Er überreichte ihr die Ringe. Gegen Linas ursprüngliche Empfehlung nahm er an der Trauerfeier teil.171 An den folgenden Tagen fühlte er, wie sich Lina verändert hatte. «Neues Weh. Lina ist kälter.»172 Da sie fürchten mussten, in Zürich würde getratscht, klärte Huber vor der Rückfahrt nach Bern ohne Linas Wissen seinen Freund Alfred Kleiner über den Stand der Dinge auf.

Am 3. Dezember schrieb Lina jenen Brief, der Huber aus der Fassung brachte, tief verletzte und die Beziehung lange belastete. Grund ihrer schwankenden Gefühle war Hubers Behinderung: «Wir haben uns gelobt, gegenseitig frei und ohne Rückhalt alles mitzutheilen, was uns drückt oder freut, wir wollen uns selbst nicht schonen, möge daraus entstehen, was da wolle. Wohlan denn, zürne nicht wenn ich so rücksichtslos verfahre. – Du beschwörst mich, Dir den Grund zu sagen, der mich nie ruhig werden lässt, der stete Bangigkeit u. Beklommenheit in mir wach ruft. – Ich glaubte mich frei, von jedem sinnlichen Gedanken unedler Art, ich wähnte mich sicher, im Manne nur das zu sehen, was in geistiger Beziehung mich fesseln konnte. Bin ich so, fühlst Du diese Umänderung nicht selbst an mir?

Eugen, verzeih diese Schwäche, verkenne mich nicht um ihretwillen. Du wirst mich unmenschlich, ja grausam finden, dass ich Dir dies zugestehe, vielleicht wirst Du Deine Ansicht gegen mich ändern. Du kanntest mich bis dahin nicht von dieser Seite, Du glaubtest mich liebevoll, hingebend zu finden, jetzt siehst Du, welche unabsehbare Kluft sich zwischen uns gelegt. – Als ich Dir vor zwei Jahren jene kurze fast möcht ich sagen kalte Verneinung zusande [sic], da, ich wage es jetzt im ernsten Momente auszusprechen, da war es entschieden der Hauptgrund, zu dieser Antwort. Wäre ich weniger sinnlich, oder mit andern Worten Dir geistig näher, ich könnte ohne alles Bedenken dies unbeachtet lassen. Du hast recht gesehen, wenn Du glaubtest ich sei letzten Sonntag nach unserm Beisammensein wieder ernster, nachdenklicher geworden. Es war so; dasselbe Gefühl, das mich nie ruhig werden lässt, brach mit aller Macht über mich und machte mich zum Unglücklichsten [sic] Menschen. Ich sah Dich mühsam zur Nebenthüre aus- und eingehen und ach was kann ich es läugnen [sic], ich fühlte Mitleid mit Dir, allein anstatt dass gewöhnlich aus Mitleid Liebe entsteht, lief mir ein kalter Schauer durchs Gemüth; ich fühlte Dich und mich unglücklich. Ich bin eine Natur, die viel lieben kann, und mir wäre wohl besser wäre ich etwas kälter. Wars die tiefe Liebe, als ich zu Dir im Asyl jene Worte aussprach, Dein zu gehören, nein sie war es nicht und ich fühle es je länger je mehr, dass es nur die gewöhnliche Liebe war, die ich gegen jeden Menschen, dem ich mich zum Dank verpflichtet bin, war. Lass mich erst ruhiger werden, die Zeit des Übergangs wird bald da sein, wo ich ohne allen Einfluss zur eigentlichen Besinnung gelangen kann. Jetzt bin ich nicht fähig, nur über mich selbst ein Urtheil zu fällen.

 

Wenn Du mich aufrichtig liebst und ich zweifle keinen Augenblick, so wird Dir mein Lebensglück nicht gleichgültig sein. Und wenn nur Du glücklich bist und ich nicht so wie Du, so ist Dir dieses Glück peinlich. Darum lass mich erst in einen neuen Wirkungskreis eintreten, lass mich recht zur wahren Ruhe gelangen, bevor Du Dich schon ganz Deinem scheinbaren Glücke dahingiebst. Es ist mir unmöglich weiter zu schreiben. Sei Du so gut und schreibe mir bald wenn Du kannst. Doch auch unverhohlen Deine Ansicht.»

Kurz darauf bereute sie ihre Offenheit, doch der Schaden war angerichtet. «Verzeih, wenn ich Dir in meinem letzten Brief weh getan; war es doch geschrieben in einem Augenblick der äussersten Trostlosigkeit und Bangigkeit, verzeih lieber Eugen, denn die schwersten Vorwürfe peinigen mich und machen mich seitdem weit unruhiger als vorher. Du begreifst wohl wie schwer mir Dein langes Stillschweigen macht, ich bitte Dich herzlich, lass mir bald einige Trostesworte zukommen.»173

Huber brauchte eine gewisse Zeit, bis er sich gefasst hatte. Er war «bitter traurig», nahm mehrere Anläufe, um einen Brief zu verfassen. «Ich habe auch die Stunden, von denen Du klagst, dass Du darin Deine klare Besinnung verlierst, vielleicht hat sie jedes Herz, das auch der andern Seite dann wieder Stunden hat, wo alles in rosigem Schimmer vor uns glänzt – Fluth und Ebbe, wie Heine sagt.» Er erörterte, wie ungünstig die Prognosen für eine Beziehung wären, die nur auf sinnlicher Anziehung beruhte. «Nun gibt es aber auch eine andere Liebe, die ruht auf gegenseitiger Hochachtung, auf gegenseitiger Erkennung und schliesslich wenn sie ganz vollgültig da ist, auf gegenseitigem Vertrauen, so dass dabei Mann und Weib eins werden, dass sie ohne es zu wollen dasselbe denken, dasselbe lieben, dasselbe thun. Diese Liebe dauert. Das giebt die glücklichen Ehen.» Dann kam er auf Linas berufliche Leistung zu sprechen, für Huber eine Art Zukunftsgarantie. «Es ist nicht gerade Pflichtgefühl, das dich zwingt, deine Aufgabe möglichst gut zu lösen, sondern es ist etwas mehr: es ist die edle Selbstschätzung, du würdest es unter dir erachten, nicht deine Stellung, sei sie was sie sei, so auszufüllen, dass dich die Menschen, an denen dir etwas gelegen ist, achten und mit Achtung behandeln müssen. Wer aber diese Selbstschätzung hat, der kann sich nicht einem Gefühl des Augenblicks hingeben, der beherrscht die Sinnlichkeit, der beherrscht das Mitleid, der gibt sich nur da ganz hin, wo er ganz sich wieder findet. Gut denn, Lina, so lass uns prüfen und warten.»174

Schliesslich renkten sich die Dinge ein. Weihnachten verbrachte Huber in Zürich und sah so oft wie möglich Lina. Am Stefanstag, 26. Dezember, schrieb er gar von «Triumphstimmung». Tags darauf war er in der Bollerei – «Mittagessen und Nachtessen bei Lina. Innigkeit. Ich gedrückt. Sie tröstet mich.» Nun wurde Huber aktiv, er reiste nach Genf, um Linas Zukunft zu organisieren und lernte Familie Mermod kennen.

Sein Tagebuch schloss mit einer frohen Note. «Von Lina ein treuer, lieber Brief! Nun Sternlein bist du mir näher gerückt! Bald werd ich mit dir vereint sein. Auf diesen Tag will ich meine Kräfte prüfen und wirken so lange es Tag ist. Es muss gelingen!»

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