Liebe und Vernunft

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FRAU KELLER ODER FRAU HUBER? WERBEN UM LINA

Erst seit wenigen Jahrzehnten ist bekannt, dass Zürichs Staatsschreiber und bedeutendster Schriftsteller Gottfried Keller ebenfalls um Lina warb. Nach Kellers Tod gab sich Huber alle Mühe, diese Episode vergessen zu lassen. Deshalb lässt sich heute nicht mehr feststellen, wann genau Kellers Interesse an Lina erwachte.93

Während längerer Zeit muss Lina mit gesundheitlichen Problemen gekämpft haben. Auch Gottfried Keller war überzeugt, dass Linas Gesundheit ernsthaft bedroht war. Sie hustete und ihre Gäste fürchteten wohl, Lina sei an Tuberkulose erkrankt. In seinem ersten Brief an Lina vom Spätherbst 1871 nannte Huber für sein überstürztes Handeln unter anderem als Grund, «dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet … Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen.»94 Er hatte sich mit seiner Schwester Emma beraten und schlug vor, Lina zur Erholung bei einer befreundeten Familie auf dem Land unterzubringen. Postwendend schrieb ihm Lina eine Absage.

Vontobels liessen die kranke Lina nicht fallen, wie sie zu Recht angenommen hatte, jedoch verzögerte sich ihre Genesung. Im Juni 1872 verbrachte sie einen Erholungsurlaub in der Umgebung der Stadt in einer bekannten Heilquelle, dem Nidelbad ob Rüschlikon. Schon 1553 listete der damalige Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Conrad Gessner auf, für welche Krankheiten das Bad Heilung versprach.95 Zürcher rapportierte Linas Kuraufenthalt an Huber in Wien.96 Dies löste gleich eine eifersüchtige Reaktion aus: «Ich möchte wissen, in welcher Eigenschaft sie dort weilt, ob die Sache als ein Schritt zur Selbständigkeit aufzufassen ist, oder als ein ihrer Passivität von aussen aufgelegtes Palliativmittel, das sie schliesslich nur noch mehr an Vontobels bindet.»97

Linas Gesundheit blieb auch nach dem Kuraufenthalt angeschlagen, wie Keller Ende Jahr der befreundeten Marie Exner nach Wien berichtete. «Das gute arme Mädchen Lina in der ‹Bollerei› … sei immer noch ein braves, liebenswürdiges Kind, das des Nachts wegen des wiedergekehrten Hustens nicht mehr schlafen könne und sich doch den ganzen Tag durch plage und dabei blass und mager geworden sei.» Im selben Brief erwähnt Keller den Architekten Gottfried Semper. Lina «schreibe ihm eine Schachtel mit Handschuhen zu, die sie anonym durch die Post erhalten habe, und möchte ihm gerne dafür danken. Neulich kaufte ich ihr ein Ringlein, das sie mit einem von Semper geschenkten am kleinen Finger trägt, so dass sie beide Narren schön vereinigt mit sich führt. Sagen sie das aber Semper nur, wenn er guter Laune ist, sonst wird er wütend.»98

Der schüchterne Keller nützte Linas Abwesenheit von Zürich, um ihr anonym das Gedicht «Regenliedchen für Lina» «mit einem Korallenhalsband»99 zu schicken. Korallen waren damals sehr in Mode, Keller hatte Linas Sinn für Eleganz erkannt. Ob er sich tiefere Gedanken zu seinem Geschenk machte? Walter Morgenthaler, der Herausgeber der kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe zitiert das Lexikon des deutschen Aberglaubens: «Korallenschnüre aber werden von der Braut getragen, der sie unheilabwehrende Schutzkraft verleihen.»100 Dass sich Keller vom Regen inspirieren liess, hatte handfeste Gründe. Im Brief, in dem Zürcher seinem Freund Huber von Linas Abwesenheit berichtete, klagte er: «Regenwetter haben wir auch, und zwar seit Wochen konstant», und einige Zeilen später sprach er gar von «apokalyptischem Wetter».101

«Regenliedchen für Lina

Für manchen Becher, den Du ihm

Mit Freundlichkeit gebracht,

hat jetzt ein guter alter Freund

still sinnend Dein gedacht.

Jetzt sitzt sie in dem Regengrau,

Das fern den Berg verhüllt;

Es bleibt ihr Wunsch nach Sonnenschein

Und Lenzluft ungestillt.

Doch bleib’ nur ruhig, gold’nes Kind,

Und lach’ den Regen an

Mit deinem Aug’ voll Sonnenschein

Den bösen Wassermann!

Und dankbar aus den Wolken bringt

Er dir Genesung her;

Dann rauscht er fort - und diese Schnur

Holt er Dir aus dem Meer!

Ein Zeichen, wie er sehr sich schämt,

Sei dir das tiefe Roth! Ach Gott!

wie rauscht und plätschert er,

Bald weint er sich zu todt!

Blick ihn nur an, so muss entsteh’n

Des Regenbogens Pracht,

dann hat dein sonnig’ Auge

den Regen weggelacht.»

Nach einem missglückten mündlichen Versuch machte Keller am Donnerstag vor Ostern, am 10. April 1873,102 Lina schriftlich einen offiziellen Heiratsantrag. Das – verschollene – Original schickte sie ihm wie gewünscht zurück, doch erstellte sie vorher eine Abschrift. Während der jugendliche Huber 1871 vor allem von seiner eigenen Zukunft gesprochen hatte, äusserte sich der 54-jährige Keller liebevoll väterlich-besorgt, über seine Stellung brauchte er nichts anzufügen:

«L. L.

Sie haben Gestern Abend wahrscheinlich gemerkt, wo ich hinaus wollte mit meiner ungeschickten Ankündigung. Ohne viele Worte zu machen, will ich Sie daher jetzt fragen, ob Sie nicht zu viel Widerwillen haben, meine Frau zu werden? Wenn Sie mich nicht mögen, so wissen Sie es jetzt schon u. ich bitte Sie in diesem Falle mir dieses Briefchen mit einem darüber od. darunter geschrieben Nein heute Abend noch zurückzustellen, damit wir dann über die Sachen lachen können wenn ich zurückkomme. Glauben Sie aber mit mir leben zu können u. wollen sie sich die Sache überlegen so können sie mir das an diesem Abende so zu verstehen geben, wie es Ihnen gefällt u. gut scheint. Vielleicht könnten Sie mir über die Ostertage Gelegenheit geben mich näher auszusprechen u. vielleicht würde J. V. Ihnen hiebei mit Ihrem Rath zu Seite sein da Sie sonst Niemand haben. Alle weitern bei solchen Anlässe übliche Redens Arten, will ich jetzt unterlassen einzig will ich Ihnen sagen, dass es mich sehr glücklich machen würde für Sie sorgen u. leben zu dürfen. Ihr Erg G K»

Linas Briefentwurf auf der Rückseite einer Menükarte ist in sehr viel herzlicherem Ton gehalten als ihre Antwort vom November 1871 an Huber.

«G. H. S. [vermutlich: Geehrter Herr Staatsschreiber] Ich kann nicht umhin Ihrem geschätzten Schreiben Einige Worte beizufügen. Genehmigen Sie vor allem meinen besten herzlichsten Dank, für Ihre überaus liebevolle Ansicht, die ebenso unerwartet, als unverhofft an mich gelangte. Der gestrige Abend war wohl derart mich verstehen zu lassen, was Sie mir hier mittheilen u. ich verhehle Ihnen keinen Augenblick, dass mich diese Nachricht (dennoch) ungemein überraschen musste. Allein Sie wissen ja wohl, dass in solchen Angelegenheiten nicht allein der Verstand sondern hauptsächlich das Herz reden soll u. daher zögre nicht länger mit der Antwort wenn Ihnen sage, dass ich auf Ihren wenn auch noch so edeldenckenden Antrag nicht eingehen kann. Genehmigen Sie die Versicherung

Meines herzlichsten Dankes

von Ihrer ergebenen

L. W.»103

Linas Absage, selbst wenn er sie erwartet hatte, ging Keller nahe. Voll Ironie beschrieb er einige Monate später der Sängerin Emilie Heim seine Verfassung: «Mir selber hat Gott Amohr [sic] wegen eines kleinen Schwabenmädgens noch einen späten Pfeil nachsenden wollen, so dass ich höchlich erschrocken mit dem Bein denselben hab’ abwehren müssen, wobei aber, da ich indessen auf dem andern Bein allein dastund, beinahe die Balance verloren hätte.»104 Da die Episode Keller-Lina in Vergessenheit geraten war, deutete Hans Wysling in seiner Biografie Kellers zu dessen 100. Todestag die Passage literarisch: «Warum aber ‹Schwabenmädgen›? Keller spielt damit auf Gottfried August Bürgers ‹Schwabenmädchen› an.»105 Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit führt der Autor die Quellen dieses Gedichts auf, die zu jenem Zeitpunkt Keller zu Bürger bekannt sein konnten. Dass sich hinter der Briefstelle tatsächlich ein Schwabenmädchen verbarg, ahnte er nicht.

Lina bewunderte den Literaten Keller. Als sie 1875 in Genf die eben erschienene zweite Folge der «Leute von Seldwyla» las, war sie gefesselt von der Persönlichkeit der Regel Amrein und von deren «schützendem Engel» Fritzli: «Man sieht, dass Keller ein Mann ist, der das Leben versteht, und kennen gelernt hat, als das, was es ist; denn diese Scene ist keine blosse Einbildung, sondern tiefe Wahrheit, die sich oft genug darbietet.» Die Geschichte des einen Gesellen der «Drei gerechten Kammmacher», der in Seldwyla zurück bleibt, erinnerte sie an ihre Zeit in der Bollerei. «Ich finde in diesem Punkt eine ziemliche Ähnlichkeit mit meinem früheren Leben; ich blieb in der Bollerei sitzen im Gefühl, als wäre ich nun halt einfach dafür bestimmt, meine Jugend, meinen Fleiss, meine Kräfte, ja selbst meine Gesundheit zu opfern … Jetzt finde ich, dass in solch unbewusster Pflichttreue eine gewisse Beschränktheit liege.» In Kellers Erzählungen entdeckte sie Ähnlichkeit «mit unserm, namentlich aber mit meinem Leben».106 Gerne würde sie zusammen mit Huber «Romeo und Julia auf dem Dorfe» wieder lesen.

Während Lina die «Leute von Seldwyla» studierte, hatte Huber als Redaktor der «NZZ» endlich direkten Kontakt zum Schriftsteller. «Später kam ich selber einige Male mit Keller in nähere Berührung, meine Frau aber gar nicht mehr.»107 Sein Mentor Hans Weber, ein guter Freund Kellers, nahm ihn mit zu einem Umtrunk im – inzwischen nicht mehr existierenden – Restaurant zur Meise. Es war ein typischer Männerabend im kellerschen Stil, denn Huber berichtete Lina, «bei nur allzu reichlichem Trinkgelage»108 sei er erst um 1 Uhr morgens ins Bett gekommen.

 

Huber muss dem Schriftsteller gegenüber Andeutungen von seinen eigenen literarischen Hoffnungen und Versuchen gemacht haben. «Als ich in jungen Jahren einmal Gottfried Keller von dieser Tätigkeit sprach und beifügte, dass es wohl nicht das richtige [sic] sei, nur so nebenbei der Muse dienen zu wollen, unter Hinweis auf das, was er in seinem Störteler darüber gesagt habe, entgegnete er, so sei das nicht gemeint, es sei doch immer besser als jassen.»109 Mit dem Hinweis auf den Möchtegern-Schriftsteller-Dichter aus den «Missbrauchten Liebesbriefen» gab sich Huber betont bescheiden, während Keller mit seinem trockenen Humor Huber zumindest nicht entmutigte.

Jahrzehnte später lebte die Familie Huber in Halle. Durch die «NZZ» erfuhren Lina und Huber von Kellers Tod am 15. Juli 1890. Ebenfalls der Presse entnahm Huber, dass sein ehemaliger Professor Albert Schneider zum Testamentsvollstrecker bestimmt war. Nun ging es darum, alle Spuren von Gottfried Kellers Werben um Lina im Nachlass zu tilgen. Angeblich in Linas Namen schrieb Huber an Schneider: «In einer ganz vertraulichen Sache möchte ich dich hiemit um deinen gütigen Dienst ersuchen.» Zunächst schilderte er die Beziehung Kellers zu Lina: «Gottfried Keller war seinerzeit ein regelmässiger Gast des Caffe Boller an der Schifflände und war gegen meine 1. Frau während jenen langen Jahren stets besonders theilnehmend u. respektvoll. Dennoch war meine Frau weit entfernt das Verhältnis zu G. K. anders denn von irgend welchen Gedanken dass es sich um eine intime Beziehung handeln könnte, u. als zu einem … Freund aufzufassen u. dies auch dann noch nicht, als ihr Gottfried Keller ein hübsches Geschenk mit einem sehr schönen sinnigen Gedicht widmete.»110 Dann ging es um Kellers Vermächtnis. «Nun ist es ja leicht möglich, dass Keller hierüber Aufzeichnungen, vielleicht die zwei betr. Schriftstücke selbst hinterlassen hat, und so möchte ich dich im Namen meiner Frau angelegentlichst darum bitten, deren Interessen, soweit dies mit deiner Stellung als Kellers Vertrauensmann möglich ist, wahrzunehmen. Am liebsten wäre es ihr, das Schriftstück diese Briefe, wenn sie noch vorhanden sein sollten, zurückzuerhalten. Wir würden sie natürlich alles als pietätvoll aufbewahren. Vielleicht geben auch allfällige Aufzeichnungen Kellers Veranlassung, dafür Sorge zu treffen, dass nicht diese Beziehung, die bis jetzt von beiden Seiten glücklich geheim gehalten worden ist, durch vorzeitiges Bekanntwerden profaniert werde. Vielleicht auch hat Keller umgekehrt selber alles in dieser Hinsicht ausgelöscht und beseitigt, und dann betrachte dies als die Mittheilung eines Freundes, die ausser dir bis jetzt Niemand erhalten hat, und wir wollen dieses Schweigen gemeinsam fortsetzen.» Linas Meinung zu Hubers Vorgehen ist nicht überliefert. Am Ende des Schreibens fügte er bei: «Meine l. Frau hat unabhängig von mir heute morgen selber ein Brieflein an dich aufgesetzt, das ich beilege, um unser Gesuch zu verstärken.»111

Hubers Verschleierungspolitik hatte Erfolg. Kellers Beziehung zu Lina kam erst Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der kritischen Kellerausgabe ans Licht. Die Dokumente in der Zentralbibliothek Zürich blieben offiziell bis 30 Jahre nach Hubers Tod gesperrt. Selbst Jonas Fränkel, Hubers Kollege an der Universität Bern, der in den 1920er-Jahren die erste Gesamtausgabe Kellers betreute, hatte ausdrücklich keinen Zugang zu diesen Akten.112

Warum liess es Huber nicht bei Linas persönlichem Brief an Schneider bewenden? Meldete sich der alte, eifersüchtige Verehrer zurück? Schneiders Reaktion lässt solches vermuten. Mit klaren Worten wies er seinen ehemaligen, nun arrivierten Schüler zurecht. «Freilich möchte ich dir doch sagen, dass die Werbung eines Mannes wie Gottfried Keller gewiss zu allen Zeiten nur als eine hohe Ehre erscheinen würde, so vernünftig es auch war, sie auszuschlagen, und so sehr auch diese Ablehnung nun wieder zu Gunsten derjenigen spricht, die sie ausgesprochen hat.»113

Wenige Tage vor ihrem Tod im April 1910 übergab Lina ihrer Adoptivtochter Marieli den Rubinring, den sie von Gottfried Keller geschenkt bekommen hatte. Den Opalring, ebenfalls ein Geschenk Kellers, sandte Huber an Linas Patenkind Mariechen Rümelin in Tübingen. Im Brief an seine verstorbene Frau deutete er jene ambivalenten Gefühle an, die er stets mit der Erinnerung an die Bollerei verband: «Den Ring trug ich noch ein paar Stunden an meinem kleinen Finger und betrachtete ihn nach allen Seiten, um ihn mir einzuprägen, bevor ich ihn weggebe. Ich hatte ihn nie so gründlich betrachtet, als du ihn noch etwa trugst. Und ich vergegenwärtigte mir, wie er dir seiner Zeit in deinem damaligen Kreis eine naive Freude bereitet hatte, wie du dafür dem grossen Dichter dankbar gewesen, wie das dich alles Öde der Umgebung überwinden und vergessen liess! Ach, es hat ja auch seine Kehrseite. Ich dachte daher an diesen Ring und anderes immer nur mit einem bangen Gefühl. Bei Mariechen besteht von alledem nichts, auch wenn ich es ihr später sage, dass Gottfried Keller den Ring für dich ausgewählt, wie du kaum neunzehn Jahre zähltest. Es wird Mariechen ein liebes Andenken sein an seine Pathin, und so erfüllt der Ring ein zweites Mal seine Bestimmung, edle Freude zu bereiten!»114

«IHR WILLE ALLEIN FEHLT NOCH ZUR AUSFÜHRUNG»115

Blenden wir ein wenig zurück, ins Jahr 1871, ein Schicksalsjahr in Hubers Leben. Am Neujahrstag stellte er das kommende Jahr unter das optimistische Motto «Es wächst der Mensch mit seinen grösseren Zielen». In den folgenden Monaten waren es allerdings nicht Ziele, sondern Schwierigkeiten, die ihn wachsen liessen: der Beginn seiner langjährigen, schmerzhaften Fussprobleme und die – vorläufig – unglückliche Beziehung zu Lina. Zudem brachte die europäische Geschichte seinen Alltag eine Zeit lang durcheinander.

«Der Nachtwächter singt und bläst sein Horn, die Glocken läuten – das neue Jahr beginnt und mein Streben frischer damit»,116 freute er sich im Tagebuch. Spaziergänge, Eislaufen, das Buchprojekt mit Schulkollege Stoll, diverse Briefe seiner Freunde in der Ferne, die Aufzeichnungen des Monats Januar widerspiegeln ein typisches Studentenleben. Dann beschäftigte ihn plötzlich die grosse Geschichte. Am 1. Februar notierte er: «Übertritt der Franzosen», zwei Tage später: «Mit Wittelsbach am Bahnhof. Kriegselend vor Augen.» In den folgenden Wochen verdrängten Zürcher Ereignisse alles Private aus Hubers Tagebuch.

Gegen Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 stellte Frankreich die sogenannte Bourbakiarmee auf, um Belfort von den Deutschen zurückzuerobern, was misslang. In der Folge kamen vom 1. bis zum 3. Februar 87 000 französische Soldaten und 12 000 Pferde im Vallée de Joux über die Schweizer Grenze; die Zahl der Flüchtlinge entsprach drei Prozent der damaligen Schweizer Bevölkerung. Der junge Schweizer Staat stand vor einer gewaltigen humanitären Aufgabe; die zu betreuenden Soldaten waren schlecht ausgerüstet, unterernährt, viele waren krank. Möglichst rasch verteilte man die Internierten auf 190 Ortschaften in der Schweiz, der Kanton Zürich allein sollte über 12 000 Personen beherbergen bei einer Einwohnerzahl der Stadt von gerade mal gerade mal 20 760.117

Prominente Vertreter der deutschen Kolonie, unter anderem Linas Bewunderer Gottfried Semper sowie der Wagner-Mäzen Otto Wesendonck luden auf den 9. März zu einer Feier des deutschen Sieges in den alten Tonhallesaal118 ein. Während den begeisterten Siegesreden drangen französische Internierte in die Versammlung ein und zettelten eine Schlägerei an, draussen warfen Demonstranten Steine. Die anwesenden Deutschen und ihre Schweizer Freunde mussten diskret fliehen. Die Polizei brauchte Stunden, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, der Zwischenfall hatte die Behörden völlig überrumpelt. In den folgenden Tagen bot Zürich Truppen auf, um jene in Schach zu halten, die die Verhafteten befreien wollten. Am 11. März starben vier teilweise unbeteiligte Personen, als das Militär gegen die Anführer der Krawallanten das Feuer eröffnete. Der Regierungsrat forderte Bundeshilfe an, am 12. März trafen vier Bataillone ein, worauf sich die Proteste legten, und am 19. März die letzten Truppen Zürich verliessen.119 Schon am 9. März hatte sich Huber einen Revolver gekauft und patroullierte an jenem Abend mit seinen Kollegen Stoll und Ziegler durch die Strassen.120 Tags darauf hielten Hubers Schulkollege Wilhelm Oechsli sowie ein Deutscher auf dem Lindenhof – erfolglos – eine beruhigende Rede.121 Am 11. März beschloss die Studentenversammlung eine Adresse an den Senat und beantragte «beim Polizeipräsidenten Mithelfen zu wollen gegen die Unruhestifter»,122 was der Stadtrat dankend zurückwies. Die Studenten verurteilten den Angriff auf das freie Versammlungs- und Vereinsrecht und drückten ihr Bedauern aus, dass ein Grossteil ihrer Lehrer «nicht von diesen rohen Angriffen verschont blieben».123 Auch unter Hubers Dozenten befanden sich deutsche Professoren. Am folgenden Tag notierte er: «Bummel in der Stadt. Keine Unruhen.» Der Spuk war vorüber, Huber wandte sich erneut seinen persönlichen Sorgen zu. Seinem Freund Kleiner, damals Student in Berlin, beschrieb er «die grosse Gefahr, das grosse Unglück», das Zürich getroffen hatte, und bedauerte die «Verletzung der schweizerischen Politik gegen aussen. Die Schweiz, eine internationale Republic im Kleinen, soll Völkersitte, Völkerrecht bilden und hat dies in Zürich verletzt und damit die Axt an ihre eigene Wurzel gelegt.»124

Kaum war in der Stadt die Normalität zurückgekehrt, verschlechterte sich Hubers Gesundheit rapide. «Im Bett. Gelenkentzündung.»125 Im zitierten Brief an Kleiner beschrieb er sein Elend, unfreiwillig habe er Zeit zum Nachdenken «wegen einer Entzündung am rechten Fuss, an der ich schon bald drei Wochen laboriere und nun bald acht Tage im Bett bleiben muss». Tag und Nacht sollte er ruhig bleiben «indem ich oft die Nächte vor Schmerz … am Fuss nicht schlafen konnte!» Im Tagebuch fehlte zunächst der Verlauf der Krankheit, Huber las «Die letzten Tage von Pompeji», dann am 18. April heisst es «immer im Bett», schliesslich «schlimmer». Ende Monat wurde er philosophisch. «Eine lange Krankenzeit wegen eines blossen Gelenkleins. Wäre nicht mein immer unerschöpfbarer Humor, ich vermöchte die Geduld nicht zu bewahren … Freilich in mir wächst manches während dieser stillen Zeit heran. Vielleicht noch lange schlimm, um nachher besser zu kommen.»126 Nicht einmal an der Verlobungsfeier Augusts nahm er teil.

Im Mai reiste Huber auf Empfehlung seines Hausarztes zu einer Kur nach Bex. «Allein, allein! Und so soll ich genesen?»127 Doch schon am folgenden Tag tönte es erfreulich anders. «Ich rede zum ersten [sic] mit ihr.» Und kurz darauf «Sie, nur Sie!». Huber hatte sich in eine Pariserin verliebt. Plötzlich war im Tagebuch das Elend seiner Füsse kein Thema mehr, über die Therapien schwieg er sich aus. Huber brachte «Camille» Blumen, ihrer kleinen Schwester «Louison» Schmetterlinge, sein Bruder schickte ihm ein Wörterbuch. Die Gruppe machte gemeinsame Ausflüge, Madame gab Huber Lesetipps. In Zürich wurde August misstrauisch. Mit einem undatierten Brief ermahnte er den Patienten, nur seiner Gesundheit zu leben, bald zurückzukommen und die Arbeit wieder aufzunehmen. «Du bist ja noch dorten gegangen, um gesund zu werden und diesem Zwecke muss natürlich manch Angenehmes geopfert werden.» Huber war so weit genesen, dass er auf der Heimreise vom 13. bis zum 15. Juni Genf besichtigen konnte. Kaum zu Hause beklagte er einen Rückfall. «In Kater zu Haus, kalt, wieder schlimmer.»128

Im Juli konsultierte Huber den Chirurgen Professor Edmund Rose, der ihm keine Hoffnung machte. «Mein Leiden sei quasi unheilbar. Also alles zerstört – Plan und Hoffnung? … Concert der Stuttgarter Virtuosen. Prachtvoll – aber Schmerz während. Was fang ich nun an?»129 Rose fand eine Operation zu gewagt, die Sache sei «nicht bedrückend» und vielleicht würden die Schmerzen mit der Zeit abklingen. Freund Kleiner klagte er sein Elend. «Ich muss meine ganze Lebensweise, vielleicht gar meinen Beruf ändern, vielleicht ja auch meiner gehofften öffentlichen carrriere entsagen», war sein Schicksal «eine stubenluftdurchwürzte ‹Gelehrten›laufbahn»? Freunde kamen selten zu Besuch, immerhin hatte er in Zürcher einen «fidelen Tröster».130 Der Patient erhielt Massschuhe, doch verfolgten und zermürbten ihn Schmerzen. Bei der Schmerzbekämpfung war die damalige Medizin beinahe hilflos. Selbst ein heute so alltägliches Medikament wie Aspirin kam erst 1897 auf den Markt. Im Alter erinnerte sich Huber, wie er sich durch die Krankheit veränderte und sein Studium ernster nahm. «Erst mit dem Sommer 1871 wurde es besser, als ich meine Fusskrankheit herumschleppte und anfing zu lesen und zu zweifeln, oft auch zu verzweifeln.»131

 

Ab Hochsommer 1871 verkehrte Huber häufiger in der Bollerei, im Tagebuch sind für den Monat August sechs und für September neun Besuche vermerkt. Es ist möglich, dass er im Jahr zuvor erstmals mit seinem Bruder in das Lokal kam,132 anschliessend verbrachte er mehrere Sonntagabende in Gesellschaft von Freunden in der Wirtschaft, einmal notierte er «viel Schach».133

1871 ging es nicht mehr ums Spiel, sondern um Lina. Er beobachtete sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu ihrem Namenstag am 20. September schenkte ihr Huber ein goldenes Uhrenschlüsselchen. Merkte Lina nicht, worum es ging oder übersah sie diskret seine Avancen? Huber war zutiefst verliebt, «Bei Lina und Andeutungen an sie. Pläne!», dann war er niedergeschlagen, wohl weil er in einem andern Gast einen Rivalen vermutete. «Nach Concert Kneiperei in der Bollerei mit den dreien und Dr. Meier. Moralischen.» Die Dinge verliefen nicht nach seinem Wunsch. «Billet an Lina offeriert. Abschlag! Aufrechnung! Abends mit Schaer bei ihr. Beobachten – gegenseitig.» Im Anschluss an ein Konzert war er schon am folgenden Abend wieder im Wirtshaus. «Nachher mit Esslinger in der Bollerei. Tragisch!» Mit einem Freund unternahm Huber einen Ausflug nach Bern. «Geschenk an sie gekauft. Gedankenvolle Rückfahrt.» Mit seiner Gabe hatte er kein Glück. «Missglücken des Geschenkleins an sie. In der Bollerei. Unglückliches Zusammentreffen mit Körner.» Am nächsten Tag verpasste er Lina. Schliesslich: «Bei ihr. Mit Zürcher. Alles vergebens!!! Im Traum bei ihr.»

Huber gab sich nicht geschlagen. Im November schrieb er Lina einen ausführlichen Brief. In seiner gründlichen, umständlichen Art verfasste er keinen glühenden Liebesbrief, sondern ein keineswegs beschönigendes Lebensprogramm, selbst die Zukunft malte er nicht in rosigen Farben.

«Hottingen, den 10. Nov. 71 Abends

Hochzuverehrende Lina!

Nur nach langer tiefer Ueberlegung wage ich es, mit einer Angelegenheit an Sie zu treten, die in Ihre fröhliche sichere Herzensruhe vielleicht unruhige Stunden werfen mag. Ich thue es in der Ueberzeugung, dass in allen Dingen eine offene entschiedene Sprache zum besten Verständnis führt, und in der Ueberzeugung, dass Sie einer solchen Sprache niemals zürnen können. Wenn hinter dem Worte ein fester unerschütterlicher Entschluss begründet liegt, darf man wohl die Verantwortlichkeit auf sich laden, mit der Sprache herausgerückt zu sein. – Dass ich gerade heute vor Sie trete, ist doppelt begründet, einmal darin, dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet, und dann, weil ja auch später voraussichtlich mir nie ein anderes Mittel, mich Ihnen zu nähern, geboten würde, als das, das ich eben heute ergreife. Ich habe es versucht, Ihnen noch und noch näher zu kommen, und gewiss wäre es wünschenswerth gewesen, dass Sie mich, bevor ich Ihnen meine Gedanken eröffnete, genauer kennen gelernt hätten, aber Ihre aussergewöhnlichen Verhältnisse verlangen aussergewöhnliche Schritte und ich lebe der Hoffnung, dass es doch auch auf diesem Wege möglich gemacht werden kann, dass Sie mich begreifen und voll verstehen.

Hochverehrte Lina, es ist nun bald ein Jahr, seit ich Sie zum ersten Mal gesehen – und bald ein Jahr, dass eine Ahnung mein Herz befiel, hier was ich suche gefunden zu haben. Während dieses Jahres haben die Zeit, da ich abgeschlossen für mich die bange Sorge meine gesunden Glieder zu verlieren durchkämpfen musste, haben Beobachten und Nachdenken diese Ahnung in mir zur Gewissheit heranreifen lassen, den Plan, Ihr Schicksal mit dem meinen zu verbinden, war mit dieser Gewissheit in mir beschlossene Sache. Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung, und diesen Willen zu erlangen, zu erlangen ehe es zu spät ist, ehe Ihre jetzige Lage auf Ihre Gesundheit unverbesserlich einwirkt, das, liebe Lina, nehmen Sie voraus an als die Seele dieses Briefes.

Auch ich bin ein Waise. Doch kannte ich wenigstens meine Mutter noch und lebte mit ihr bis vor wenigen Jahren und lebte mit ihr in innigem vertrauensvollen Zusammensein. Sie starb – mit ihr das einzige Wesen, an dessen Liebe ich mit ganzer Herzensmacht gehangen. Ich verliess wie ein Heimathloser, die Schweiz, soweit meine Mittel reichten, durchreiste ich fremde Länder, und unter Enttäuschungen und Erfahrungen aller Art bildete ich mir einen Lebensgrundsatz, den die Mutter mir schon ins Herz gepflanzt, im Wirken und Leben für die Mitwelt meine einzige Befriedigung zu suchen. Im Ringen, diesen Gedanken in mir zu läutern, in mir die Ausbildung zu erlangen, die uns erst volle Kraft gibt, auf unsre Umgebung einzuwirken, mitten in diesem Ringen traten Sie vor meine Augen. – Anstaunend sah ich hier eine selbstlose Pflichttreue, eine sich selber unbewusste Geistes- und Gemüthstiefe, die mich unwiderstehlich an verflossene Tage erinnern musste, in unzähligen Zügen Ihres Wesens weckten Sie in mir das Andenken an das theure Bild der Verstorbenen, fehlten auch Gelegenheit und gegenseitige Kentniss, um zu reden, zu fühlen, wie ich mit ihr es konnte, – diese kleinen und grossen Züge überzeugten mich doch, dass ich nicht irre, u. dass nur die Entwicklungsrichtung verschieden, der innerste Grund unserer Herzen aber verwandt sein müsse. Ich baute mir in Plänen das Glück aus, dass wir in gegenseitiger Liebe uns vereinen werden und dass wir in dieser Vereinigung uns helfend und unterstützend trotz aller Winkelzüge widrigen Geschickes, die ja nie zu fehlen pflegen, ein schönes Leben glücklich theilen und geniessen werden. Ich kann diese Liebe von Ihnen jetzt nicht verlangen: Sie kennen mich nicht. Aber das darf ich hoffen, dass Sie meiner Liebe vertrauen, dass Sie auf den Plan eingehen, wenn ich es möglich machen will, dass Sie an Ihrer Ausbildung denken und arbeiten können, um dann, wenn ich mir eine Existenz gegründet, und wenn Sie sich ein Urtheil über mich gebildet, von Ihnen frei die Antwort zu vernehmen, ob wir dannzumal nur Freunde bleiben wollen, oder ob Sie sich dann entschliessen können, mein liebes, treues Weib zu werden. –

Ich verhehle mir keinen Augenblick, welch eine schwere Aufgabe Sie auf sich laden würden. Sie hätten sich in neue Verhältnisse einzuleben, Sie hätten das Belächeln und Bespötteln einer herzlosen Welt zu ertragen, Sie hätten eine geistige Arbeit auf sich zu nehmen, die Ihnen nicht schwer, aber vielleicht doch oft unbequem sein möchte – und als mein Weib endlich stünde Ihnen ein Mann zur Seite, der wohl recht vom rauhen Treiben der Praxis erfasst werden wird, der kein sorgloses Leben bieten, vielmehr Sorgen aller Art wohl oft mit sich auch in den Familienkreis hinein bringen würde – ‹dem Weib die redliche Hälfte des Grames›134 – und für alles dies könnte ich Ihnen nur meine Treue, meine unerschöpfliche Liebe geben. Sie werden überlegen, Sie werden entscheiden, und Ihr Entschluss wird mir heilig sein, ich weiss ja, dass Sie ihn berathen dass Sie ihn getroffen haben.

Ich bin Ihnen noch schuldig, einiges Nähere über meinen Plan mitzutheilen, wie ich ihn mit meiner älteren Schwester berathen habe. Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen. Wir kennen nun eine uns von den Eltern her befreundete Familie auf dem Lande, wo Sie in einem hübschen Hause, wie Tochter aufgenommen würden, und zwar nicht in meinem Namen, sondern als Freundin unserer Familie. Dort fänden Sie Zeit, endlich einmal sich zu erholen, Ihrer eigenen Entwicklung zu leben und sich in dem neuen Elemente sich zurecht zu finden. Unterdessen vollendete ich mein Studium, führte meine projektierten Reisen aus, gründete nach meiner Rückkehr in Zürich oder in Bern ein Advocaturbureau, und da ich Hoffnung haben kann, bald zu Praxis zu kommen, möchte in kurzem, drei oder vier Jahren das Ziel erreicht und die Zeit gekommen sein, wo dann endlich das gehoffte Glück sich verwirklicht und Lina mein Weib wird. Zwar möchten die Launen des Schicksals ja wohl dies oder jenes anders wenden – uns wenn das Wort gegeben ist, vermag nichts mehr zu trennen. Am Ende der mühsamen Anfangsbahn ein Herz, von mir geliebt, wie es kein Mann je tiefer lieben wird, mir treu ergeben, ganz mein zu wissen, spornte mich zur Spornung aller Kräfte an, und liebe Lina, wär des für Sie zu viel gewagt, diesem meinem Muthe Ihr Glück zu vertrauen?