Liebe und Vernunft

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HANS CONRAD HUBER UND ANNA WIDMER – EINE TUMULTUÖSE BEZIEHUNG

Hubers Elternhaus in Stammheim war alles andere als eine Biedermeieridylle. In einer Landpraxis des 19. Jahrhunderts bestimmte der anspruchsvolle, anstrengende Beruf des Vaters den Alltag der Familie. Tag und Nacht war der Dorfmediziner für seine Patienten da. Im Doktorhaus herrschte ständiger Trubel, es war ein Kommen und Gehen, die Leute erschienen unangemeldet, Krankenbesuche auf fernen Höfen waren die Regel, alle Angehörigen halfen mit.

Auch in Hubers Elternhaus war Kindersterblichkeit eine traurige Wirklichkeit, allerdings nicht ganz so dramatisch wie in Linas Familie. Die älteste Tochter Anna kam 1837 noch in Altstetten zur Welt. Das nächste Kind, Sohn Carl, starb im Jahr seiner Geburt 1838. Dann kamen Schlag auf Schlag Hubers drei Geschwister, Pauline (1840), August (1841) und Emma (1843), zur Welt. Ein ungetauftes Söhnchen lebte von 1846 bis 1847. Weshalb er nie getauft wurde und namenlos blieb, ist unklar. Den Schluss machte 1849 der kleine Eugen. Mutter Anna Huber war bei seiner Geburt knapp 31 Jahre alt.77 Die älteren Geschwister sollen über die Ankunft des Jüngsten wenig begeistert gewesen sein, die Mutter musste den Kleinen oft in Schutz nehmen.78

Johannes Wyss’ Nachruf zeichnet Vater Hans Conrads Porträt: «Seiner äussern Erscheinung nach war Huber eine jener sofort Herz gewinnenden Naturen, welche wir schon ihrer Seltenheit wegen beglückwünschen. Von mittlerer Grösse, hager und schmal gebaut, mit scharfem Profile (erst in den letzten Jahren wurden seine Gesichtszüge markig fest79) und lebhaftem Blick, etwas vorüber gebogen, sanguinischen Temperaments, mit leichtem aufbrechendem Benehmen begabt, war er ganz dazu angethan, rasch zu gehen, schnell zu prüfen, entschlossen zu handeln.»80 Ist unter «leichtem aufbrechendem Benehmen» jener Jähzorn zu verstehen, für den sein Jüngster bekannt war? Zwischen den Zeilen deutet Wyss auch autoritäre Charakterzüge des Verstorbenen an, während Hubers Mutter ihrerseits eine starke, streitbare Persönlichkeit war; die Folge waren lange Jahre häuslichen Streits.

«Seine liebste Erholung fand er überdies im Kreise seiner Familie, wo er, den ganzen Geschäftskreis der innern Angelegenheiten seiner trefflichen Gattin unbedingt überlassend, hinsichtlich … der Erziehung und Ausbildung seiner Kinder eine durchaus active Stellung einnahm.»81 Übersetzt bedeutet dies wohl, dass die ganze Mühe der Haushaltung an der Ehefrau hing, während wichtige Entscheidungen dem Mann vorbehalten waren. Zu Lebzeiten des Vaters erhielt tatsächlich nur Sohn August eine Ausbildung, Tochter Pauline durfte vielleicht einen Welschlandaufenthalt absolvieren. Jahre später beklagte Huber diesen Mangel gegenüber Lina. «Sie ist entschieden das talentvollste, in gewisser Beziehung, von uns allen fünfen. Aber eine Erziehung hat sie nie genossen.»82

Sogar bei der Weltanschauung gingen die Überzeugungen der Eltern auseinander. Anna Huber-Widmer war ein Freigeist. Bei ihrem Lehrmeister hatte sie nicht nur das Schneiderinnenhandwerk gelernt, sondern auch ihre religionskritischen Ansichten entwickelt. Eine mit ihr befreundete Familie Meier sei «ganz in diesem Fahrwasser gesegelt», schrieb der Sohn. Umsonst versuchte Vater Hans Conrad einmal wochenlang, bei den Kindern ein Tischgebet einzuführen, Mutter Anna wehrte sich erfolgreich dagegen, es blieb alles beim Alten.83

Zu seiner Mutter hatte Huber ein zwiespältiges Verhältnis. Er liebte und bewunderte sie, doch hätte er sich zwischen den Eltern mehr Harmonie gewünscht. War Anna Huber-Widmer zu eigenständig? Während seiner Verlobungszeit fürchtete Huber, Lina sei gar selbstständig, die Ehe seiner Eltern stand lebhaft vor seinen Augen. Warum «ich diesen Gedanken besonders rege in mir fühle, es ist weil ich aus eigener Anschauung erfahren, wie unglücklich dies eine Familie machen kann. Meine liebe Mutter war eine gescheite Frau und ein Herz voll Liebe und Poesie, aber dem Vater stand sie unnahbar gegenüber. Brachte er ihr ein Geschenk, so war’s nie recht, und so kam es, dass er ihr schiesslich allemal auf Neujahr nur das Geld gab, damit sie sich selber etwas kaufe.»84 Immerhin organisierte die Mutter für den Konradstag, den 26. November, ein Festessen, an dem auch die Kinder teilhatten. Es gab Hasenpfeffer oder eine gebratene Gans, «häufig auch ein Hühnchen, das die Mutter selbst mästete». Wochenlang lebte der Vogel im Waschhaus, der Vater sollte nichts davon merken. Der hölzerne Käfig wurde mit einem Tuch bedeckt, damit der Hahn nicht krähte. Vergass man das Tuch, krähte der Hahn schon um 7 Uhr, bevor der Vater in der Praxis war «und das Geheimnis war zur Belustigung aller, mit Ausnahme der Mutter, verraten».85

Anna Hubers Charakter passte schlecht ins damalige Bild der hingebungsvollen Ehefrau und aufopfernden Mutter. «Eigene Kinder sind nach den Worten der Mutter oft ein Unglück, ein Fluch»,86 notierte Huber im Alter von 63 Jahren. Anlässlich der Hochzeit seines Bruders August im Jahr 1874, fünf Jahre nach Mutters Tod, gingen Huber düstere Gedanken durch den Kopf. «Ich dachte daran, wie Mutter oft in ihrem Unglück gewünscht, wenn nur keines von uns je heiraten möchte; ich dachte daran, wie ich oft diesen Wunsch einer verzweifelten Mutter für einen Fluch unserer Familie gehalten und daran gezweifelt, ob je einem von uns je das Glück eines eigenen Herdes werde zutheil werden könne.»87 In der Rückschau entwickelte zumindest August ein gewisses Verständnis für die mütterlichen Klagen. Nachdem er selbst Vater geworden war, berichtete er Eugen von schlaflosen Nächten und wunderte sich. «Wenn ich mir vorstelle, wie unsere Mutter mit uns geplagt war, so muss ich sagen, dass sie eine recht zähe Natur war.»88

Offensichtlich war Anna Huber von ihrem Hausfrauendasein nicht erfüllt. Sie verfolgte literarische Träume. Im Alter erinnerte sich ihr Sohn, wie «die gute Mutter so eifrig und unverdrossen an ihren literarischen Versuchen arbeitete, in der Morgenfrühe sich aufmachte, um neben dem Haushalt ihren Plänen nachgehen zu können, von denen sie auch eine Besserung der ökonomischen Verhältnisse erhoffte! Das alles scheiterte, wann und wie und in welchem Umfang weiss ich nicht.»89 In einem wohlhabenden Bauernhaushalt aufgewachsen musste sie, neben allem anderen, sogar einen gewissen Wohlstand vermisst haben. Zudem fühlte sie sich nicht als Teil des Dorfes. «Warum bin ich so einsam?», fragte sich der 61-jährige Huber. «Das reicht in meine Jugendjahre zurück. Es rührt vielleicht von der Stellung her, in der sich meine Mutter den Stammheimer Leuten gegenüber fühlte.»90

Während Hubers Kindheit hatten sich die Eltern entweder gefunden oder hatten resigniert, er erlebte die schlimmsten Konflikte nicht mehr persönlich mit. «Ein unglückliches Familienleben wirkt auf empfindliche Gemüther unglaublich zerrüttend,» kommentierte er entschuldigend die späteren Probleme seiner Schwester Pauline. «Ihre Jugend fiel in die Zeit, da Vater und Mutter am ärgsten mit einander in Unfrieden lebten.»91 Mit 14 Jahren verliess Pauline Stammheim und die Familie für immer, das Nesthäkchen Eugen war zu dem Zeitpunkt 5 Jahre alt.

Vater Hans Conrad Hubers gesellige Art fiel bereits während seiner Studienzeit auf: «Sein jovialer Umgang machte jeden zu seinem Freunde, mit welchem er in gesellige Berührung kam … Niedrigkeit in der Gesinnung und Gemeinheit in den Handlungen waren ihm unausstehlich und er zog sich tief verletzt zurück, wo im Leben ihm solche als Antwort auf sein offenes Entgegenkommen begegneten.»92 Auch mit diesen Eigenschaften scheint Huber dem Vater ähnlich gewesen zu sein. Seine ausgeprägte Verletzlichkeit machte ihm den Umgang nicht nur mit Gegnern, sondern auch mit Freunden unendlich schwierig.

Hubers Vater war ein typischer Praktiker «und benutzte besonders und mit Vorliebe die Ergebnisse seiner französischen Lectüren. Weniger verwendete er seine Zeit auf rein wissenschaftliche Forschungen.»93 Seine Französischkenntnisse reichten demnach aus, um Fachliteratur in dieser Fremdsprache zu verstehen. Auf seine Art muss er ein gebildeter, interessierter Mann gewesen sein. Im Alter träumte Sohn Huber eines Nachts, man verkaufe seine [Hubers] Bibliothek, «und dabei plagte mich vor allem, dass die kleinen Büchelchen aus der Bibliothek meines Vaters, die deutschen Klassiker, verkauft worden waren, und ich dachte nach, wie ich sie zurückkaufen könnte».94 In jener Epoche war es keineswegs selbstverständlich, dass ein Kind in einer Familie aufwuchs, in der es Bücher gab, der Doktorbub war trotz allem privilegiert.

«Eine regelmässige, aber nicht ängstliche Lebensweise beobachtend, genoss er eine dauerhafte Gesundheit und ertrug alle Strapazen des landärztlichen Berufes.»95 Verbarg sich hinter der diplomatischen Formulierung einer «nicht ängstlichen Lebensweise» ein Hinweis auf Hans Conrad Hubers Trunksucht? Als Eugen Hubers älteste Schwester Anna später an einer Arbeitsstelle heimlich zur Flasche griff, klagte Bruder August «Es ist natürlich ein Erbstück. Allein man sollte eben gegen so was kämpfen.»96 Anna selbst hätte damals im Rausch zu andern gesagt, «sie mache es ihrem Vater nach».97

TEIL II

STURM UND DRANG IN ZÜRICH

Am 8. Dezember 1862 erkrankte Hans Conrad Huber an einer Lungenentzündung. Trotz seiner Schwäche machte er am folgenden Tag einen Krankenbesuch und rettete dem kleinen Patienten vermutlich das Leben. Umsonst liess er sich als Therapie Blutegel ansetzen. «Unerträglicher Schmerz und furchtbare Beängstigung wechselten mit lebhaften Delirien bis am 12. Abends; dann trat Ruhe ein und geistige Klarheit, aber auch das Vorgefühl des nahenden Endes, und mit hellem Geiste traf der Scheidende noch manche werthvolle Anordnung für das Wohl seiner zurückbleibenden Familie.»1

 

Huber beschrieb 50 Jahre später den Abschied vom Vater so: «Es schwebte mir heute immer jener trübe, nasse Dezembertag vor Augen, da unser Vater am Sterben lag … jedes Zeitalter muss für das Gute danken, das es bringt. Und ich danke meinem lieben Vater für das was ich geworden bin. Sagte er mir nicht beim Abschied: Werde was du willst, aber was du wirst, werde es mit ganzer Seele und ganzer Kraft! Wie sehr hatte ich gerade diesen Zuspruch nötig! Wie arg hat es mich herumgetrieben!»2

Für die Familie war der allzu frühe Tod eine Katastrophe, das bisherige Leben brach innert kürzester Zeit zusammen. August Huber gedachte jener Tage: «Wie schwer war es für die arme Mutter bei den bescheidenen Mitteln in die Zukunft zu blicken; im Alter von 44 Jahren bereits eine müde Frau sah sie für ihr Alter nicht Ruhe, sondern Mühe und Sorgen voraus. Auch für unsere Schwestern war es ein harter Schlag; das väterliche, heimelige Gut in Stammheim, das für sie doch immer ein Heim war, gieng auch für sie verloren.»3 Anna und Emma lebten damals zu Hause, Emma betreute die Apotheke.

Noch im Dezember 1862 musste das Doktorhaus verkauft werden. Ein Dr. Orelli interessierte sich für die Liegenschaft und versuchte, den Preis zu drücken. Ohne Wissen der Familie Huber übernachtete er im benachbarten Gasthof Schwert und beklagte sich über den hohen Preis. Spontan solidarisierten sich die Stammheimer mit der Witwe. Der auswärtige Gast «erhielt jedoch von allen Anwesenden die Antwort, das Haus und die schöne Praxis sei den besagten Preis von 16 000 Frs. wohl wert.»4 Im gleichen Brief teilte Huber seinem Bruder mit, ihre Mutter dürfe nicht allein entscheiden, sondern brauche einen Vormund.

Sein Bruder August war für Eugen ein Glücksfall. Unvermittelt wurde der junge kaufmännische Angestellte mit prekärer Gesundheit im Alter von nur 21 Jahren zum Familienoberhaupt. In dieser Rolle kümmerte er sich bis zu seinem Tod 1914 um das Wohlergehen seiner nächsten Umgebung.5

In Zürich galt es als Erstes, die Zukunft Eugens zu sichern. August Huber wollte ihm den Besuch des Gymnasiums ermöglichen und etwa vorhandene Lücken in der Vorbildung durch Privatstunden schliessen lassen. «Wegen der bisschen Mehrkosten hast du dir, liebster Bruder, keine Skrupel zu machen; ich habe ja schon mehreremal versprochen, dich ganz auf meine Kosten ausbilden zu lassen, und da es mir ja möglich ist, thue ich es ja recht gerne mit allen Freuden.» Konkret bedeutete dies, dass er während Jahren seine eigenen Ansprüche zurückstellen und auf vieles verzichten musste. August Huber hatte einen ausgeprägten Familiensinn. «Sieh es freut mich halt recht auf unser nahes Zusammenleben; ich nehme dann bei Herrn Boshard das grössere Zimmer; wenn es nöthig ist, bringst du dein Bett mit und dann haben wir es ja ganz gemüthlich.» Auch Mutters Gesundheit machte ihm Sorgen und er fuhr fort, er sehne sich «ungemein nach der Zeit, wo ich ihr alle meine Aufmerksamkeit schenken und sie mit Munterkeit und fröhlichem, zufriedenem Sinn aufheitern kann».6

«Meine Eintragungen betreffen fast nirgends die Arbeit»,7 konstatierte betroffen der ältere Huber, als ihm 1910 die Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit in die Hand kamen. Tatsächlich beschäftigten den jungen Huber ganz andere, für sein damaliges Alter typische Fragen, wie zum Beispiel die Suche nach der eigenen Identität. Sollte er Schriftsteller oder doch Staatsmann werden? Oder liess sich beides verbinden? Welche Rolle konnte er im Gymnasialverein spielen? Wer war sein Freund und wer sein Gegner? Vor allem aber: Was ist der Sinn des Lebens?

Kurz nach dem Umzug nach Zürich lernte Huber in der Nachbarschaft den künftigen Geologen Albert Heim kennen. Es war eine typische Bubenfreundschaft. Während Jahren ging Huber in Heims Familie ein und aus. Schliesslich verliebte er sich – nicht zur Freude des Bruders – in Alberts jüngere Schwester Helene. Bevor Huber irgendwelche Schritte unternehmen konnte, starb Helene unerwartet kurz nach der Konfirmation 1866, ein schwerer Schock auch für den schüchternen Verehrer. Mit Heim besprach Huber seine Sorgen, mit ihm machte er Bergtouren, die beiden Jungen bestiegen beispielsweise 1865 die Mythen. Die innige Freundschaft hielt bis zum Berliner Studienaufenthalt im Winter 1869/70, wo sich die jungen Männer ein Zimmer teilten. «Heim und ich führen ein herrliches Leben. Einer heitert den andern in trüben Stunden auf, und um ihn, das seh ich schon, kommt man ins Schaffen hinein. Er hat grossartige Pläne, die man in ihm nicht vermuthen sollte.»8 Nach der Berliner Zeit trennten sich ihre Wege, Huber beklagte die Entfremdung in einem Gedicht. «Du denkst an mich wohl selten, an dich denk ich so viel, Getrennt wie der Stern und die Erde, Ist unser beider Ziel. Doch möcht’ ich die beiden Welten durchziehen an deiner Hand, mit dir die Lüfte durchsegeln und gehen Land zu Land …»9 Dennoch lebte die Freundschaft bis zu Hubers Tod in veränderter Form weiter, er wurde gar Pate von Heims einzigem Sohn Arnold.

Mit einigen Kollegen, die Huber im Gymnasium traf, stand er Zeit seines Lebens in intensivem Austausch. Anfang Oktober 1868 bestanden in Zürich 29 Absolventen die Maturitätsprüfung. Hubers Jugendfreund Albert Heim hatte vorher in die sogenannte Industrieschule gewechselt, da ihm das Gymnasium mit Latein und Griechisch zu sprachenlastig war. Damals war der Besuch des Gymnasiums einigen wenigen jungen Männern vorbehalten. Deshalb überrascht es kaum, dass viele künftige Koryphäen der Wissenschaft gemeinsam die Schulbank drückten. Alfred Kleiner, der «Philosoph» und später engste Freund Hubers, wurde Professor für Physik. In die Wissenschaftsgeschichte ging er zwar nicht mit eigenen Entdeckungen, aber doch als Einsteins Doktorvater ein. Adolf Kägis10 Griechischlehrbücher waren bis in die 1970er-Jahre in Gebrauch. Seine Laufbahn hatte er als Hauslehrer bei Familie Wesendonck11 begonnen, später wurde er Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft, Sanskrit und klassische Philologie in Zürich. Huber hatte allerdings «nicht die schönsten Erinnerungen» an ihn,12 was immer das heissen mochte. Der Historiker Wilhelm Oechsli,13 Professor am Polytechnikum (heute ETH), setzte neue, wegweisende Massstäbe in der Deutung der Schweizer Geschichte. Emil Zürcher, zeitweise sehr eng mit Huber verbunden, dozierte Strafrecht, und Otto Stoll14 Geografie und Völkerkunde. Moritz Schröter15 schliesslich machte Karriere als Professor für Theoretische Maschinenlehre in München. Von einigen Mitschülern ist in Hubers Briefen oder Notizen nie die Rede, etwa vom Theologen Walter Kempin,16 dessen Gattin Emilie Kempin-Spyri die erste Privatdozentin an der juristischen Fakultät Zürich war.

Viele Interessen, die Huber im Gymnasium entwickelte, pflegte er bis zu seinem Tod. Sein Tagebuch beschreibt die Faszination des Schachspiels. «Das Schachspiel wird eifrig betrieben; ich siege zwar mit meinen Kameraden meistens; aber mit August geht’s schon schwerer; ich will ein Virtuos geben im Schach, wo möglich nämlich; es ist halt doch das schönste Spiel, das es gibt.»17 Mit August spielte er regelmässig, nach Hubers endgültiger Rückkehr in die Schweiz sogar auf dem Korrespondenzweg. Postkarten der Brüder, auf denen sie jeweils die einzelnen Züge festhielten, reisten zwischen Zürich und Bern hin und her. Auch mit einem ehemaligen Kollegen aus Halle, Rudolf Stammler, spielte er brieflich.18 Etwas blieb in all den Jahren konstant: Gegen wen auch immer Huber spielte, er verlor ungern.

«Oh, Mathematik und Geschichte, und Poesie! Das ist mir die Freude auf dem Lebensweg.»19 Ein paar Tage später wiederholte er im Tagebuch. «Das ist’s, was mich zur Mathematik hinzieht, diese herrliche Logik! Die Geschichte und Poesie sollen dann das Gleichgewicht erhalten gegenüber dieser Logik, für’s Gemüth.»20 Mathematische Probleme löste Huber zur Entspannung bis ins hohe Alter. Noch als 61-Jähriger wird er seufzen: «Ich bin unglücklicherweise wieder einmal unter eine mathematische Zwangsvorstellung geraten und habe heute längere Zeit die Lösung gesucht – statt gescheiteres zu tun.»21

Mit knapp 18 Jahren war sich Huber sicher. «Ich kenne nun das Leben durch und durch … so kann ich hoffen, einstmals tüchtiger Jurist, Staatsmann und Dichter zu werden; wie ein Dante, ein Machiavelli oder so einer; ein Redner Thiers!22 Ah, das muss fein sein. So was zu werden!»23 «Mann sein und etwas Tüchtiges werden» ist ein Leitmotiv der Tagebucheinträge jener Zeit. Andererseits notiert er oft ein typisches Unbehagen. «Wieder Kämpfe – ich weiss nicht, was ich tun soll. In der Schule geht’s nicht wie’s sollte, zu Hause auch nicht, im Verein auch nicht; ich könnte mir die Haare ausraufen.»24

Im Januar 1867 wurde Huber Mitglied des Gymnasialvereins, einer Art Debattierclub. Huber war es ein Anliegen, sich im Hinblick auf eine staatsmännische Laufbahn in Rhetorik zu schulen. Dieser Kreis gab ihm den Spitznamen Schwärmer. «Es muss was Schwärmerisches an mir hangen, und dieses Schwärmerische macht gerade meine schwache Seite aus»,25 klagte er. Ein Höhepunkt seiner Schulzeit war die Aufführung von Schillers «Die Räuber» im Stadttheater26 am 21. Dezember 1867. Huber spielte den Karl Moor und verfasste für den Anlass einen Prolog. Erstmals wurde sein Name als Dichter in der Öffentlichkeit genannt. «Wenn’s einem so gut geht, so schreibt man weniger ins Tagebuch, wenn man dasselbe, wie ich, nur für Herzensergüsse braucht»,27 konstatierte er befriedigt. Drei Jahre später erinnerte er sich. «Jahrestag der Räuber. Vieles anders. Ob besser?»28 Inzwischen war seine Mutter gestorben und er hatte zwei Studiensemester in Berlin absolviert.

Hubers Traum von einer literarischen Laufbahn ging ebenfalls auf die Gymnasialzeit zurück. In der Schule schrieb er einmal statt eines Aufsatzes ein Drama, las es vor, der Lehrer schmunzelte, die Klasse applaudierte «und ich war stolz und hochmütig». «Ich dichtete bald, weil ich wirklich so gestimmt war, bald, weil ich nun glaubte, ein Dichter werden zu müssen»,29 schrieb er an Lina. Er verfasste ein neues Drama im Frühling 1864, vermutlich «Polycrates – Geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen»,30 dann einen langen Roman, den die Freunde sehr lobten, «Politisches Zeitgemälde aus der Schweiz anno 1839».31 Die Geschichte setzt sich mit der Epoche des Züriputsches auseinander. Sein Deutschlehrer, Pfarrer Spörri, war von dieser Produktion nicht eingenommen und noch im Alter beklagte sich Huber, dass er von ihm nicht verstanden und gefördert worden war.32

Musik war eine weitere wichtige Leidenschaft Hubers, der er bis ins hohe Alter treu blieb. Zeit seines Lebens besuchte er regelmässig Konzerte. Wegen seines gelähmten Arms kamen für ihn nur wenige Instrumente in Frage. Er entschied sich für die Flöte. Huber muss es recht weit gebracht haben, denn Freund Schaggi lud ihn zu Besuch bei seinem Dienstherrn auf der Kyburg ein, «wobei auch deine Flöte ja nicht fehlen darf, die du so ausgezeichnet gut zu handhaben weisst».33 In vorgerücktem Alter hatte sich der Zustand seines Arms derart verschlechtert, dass Huber nicht mehr selbt spielen konnte. Auf Musik wollte er nicht verzichten, und er schaffte sich ein Aeolion, ein mechanisches, selbstspielendes Musikinstrument an, das er wenn nötig eigenhändig reparierte. Hausmusik bedeutete ihm viel.

Kurz vor der Maturitätsprüfung gerieten mehrere Schüler aus Hubers Klasse in schwerste Krisen. Im Januar 1868 wollte Ritter, später Arzt in Uster, die Schule verlassen. Der Rektor hielt ihn zurück und erliess ihm den Griechischunterricht.34 Im März plante Huber eine Flucht ins ägyptische Alexandria zu seiner Schwester Pauline. Er fing sich wieder auf, doch einige Monate später spitzte sich die Lage erneut zu: Kleiner und Huber wollten gemeinsam in den Tod gehen. War es Alfred Kleiners Idee? In Hubers Nachlass finden sich einige Abschiedsbriefe, aber wie es zu diesem fatalen Wunsch Hubers kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Typisch sind seine Worte an Freund Schaggi: «Das ist der letzte Akt des Trauerspieles! Der Kummer, meine Ideen für unmöglich, mich für zu schwach zu erkennen, erdrückt mich … Ich sterbe – mein Freund und ich – wir thuen uns den letzten Dienst.»35 Offenbar kam Huber als erster wieder zu Vernunft und musste sich von Freund Kleiner übel beschimpfen lassen.

 

Nach zwei Monaten bestanden beide die Maturitätsprüfung und nahmen ihr Studium an der Universität Zürich auf. Kleiner begann mit Medizin und schloss dieses Fach auch ab, zur Physik kam er erst danach. Huber geriet mit der Berufswahl in eine Notlage, wie er meinte. Er wählte Jurisprudenz, weil er sich vorstellte, «es werde mir hier am ehesten möglich sein, meine eigentlichen Pläne, für welche ich einzig mich begeistert fühlte, durchzusetzen, das waren meine Dichterpläne».36

Im ersten Studiensemester verfasste Huber ein Versdrama in fünf Akten, «Der Landamman aus der March – Trauerspiel aus den letzten Tagen der alten Eidgenossenschaft».37 «Mit heiligem Schwur hatte ich gelobt, dieses Werk mit aller Reinheit meines Herzens zu beginnen, und hielt Wort.» Feierlich trug er in Zürchers Bude die Tragödie seinen Freunden Zürcher, Kleiner, Schröter und Heim vor. Sie waren nicht begeistert. «Mein Elend war grenzenlos. Ich war zu stolz, es zu zeigen, wie mich ihr Schweigen kränkte.»38 Die Geschichte hatte Jahrzehnte später ein Nachspiel. Beiläufig bemerkte 1917 Emil Zürcher bei einem Besuch in Bern, der «Landamman» habe ihm seinerzeit gefallen.39 Huber erinnerte sich, wie ihn der fehlende Beifall seiner Freunde, die Skepsis Professor Kinkels,40 dem er sein Werk offenbar gezeigt hatte, sowie die Bedenken der Mutter zu den Gesetzbüchern greifen liessen.

In der Familie erzählte man sich, Huber sei in jungen Jahren ein recht bequemer Bursche gewesen, der oft von seinem Bruder aus dem Bett gejagt werden musste, auf dass er pünktlich zum Unterricht erscheine.41 Hubers Alltag veränderte sich mit dem Übertritt an die Universität kaum. Die familiäre Überlieferung deckt sich mit Hubers Rückschau. «Ich habe diese Zeit übrigens auch in der Erinnerung als ein unglückliches Entwicklungsstadium. Ich war die ersten vier bis fünf Semester ein sehr unreifer Student. Erst mit dem Sommer 1871 wurde es besser, als ich meine Fusskrankheit herumschleppte und anfing zu lesen.»42 Schon während des Semesters 1872 in Wien dämmerte ihm allerdings die Einsicht, dass er allzu viel Zeit verloren hatte. «Zwei Semester gedichtet und spaziert, zwei mich getummelt und an Praxis gedacht, eines discutiert über Praxis und Politik, eines krank und elend, eines Arbeit – und nun, vor mir der Berg von Material, aus dem ich mein Wissen aufbauen soll!»43