Til Schweiger - Der Mann, der bewegt

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Mucki wartet auf seinen Auftritt. Wie er da hockt in der Garderobe des Berliner Renaissance-Theaters, gibt er eine ziemlich jämmerliche Figur ab. Glasige Augen und leerer Blick. Fünf-Tage-Bart, auf dem Kopf eine Igel-Perücke. In der rechten Hand hält er eine Flasche Billig-Korn. Diese Karikatur eines Schauspielers soll gleich, mit seinem Partner Bello, die Kinder im Zuschauerraum zum Lachen bringen. Diese sind vor lauter Vorfreude schon ganz unruhig. Deshalb wirft Bello (Armin Rohde), der Star der Show, seinem benebeltem Assi (Fahri Yardim) einen verächtlichen Blick zu. Und während er noch schnell eine Linie Koks unter seine falsche Hundenase zieht, hebt er theatralisch die Stimme: „Mach dich endlich fertig, ich lasse mein Publikum nicht gerne warten.“

Es ist eine der letzten Szenen des Films Keinohrhasen. Ein schöner Gag, der zu dem Auftritt überleitet, mit dem der unfreiwillige Teilzeit-Erzieher Ludo (Til Schweiger) endgültig das Herz der Kindergärtnerin Anna (Nora Tschirner) gewinnt. Denn Ludo entreißt Mucki im letzten Moment sein Kostüm, stürmt selbst auf die Bühne und treibt mit einer ungelenken Liebeserklärung der verdutzten Anna die Tränen in die Augen.

Ludos Mucki-Performance ist grausam-schlecht, und deshalb so anrührend. Die Tanz-Bewegungen sind steif, und singen kann er schon gar nicht (wie auch Til Schweiger mit dieser Gabe überhaupt nicht gesegnet ist). Sein kläglicher Versuch geht im Gejohle unter. Die Kinder feuern ihr mitgebrachtes Pausenobst auf den anfangs so selbstgefälligen Klatschreporter, der am Ende – hingestreckt von einem harten Apfel – als sympathischer Verlierer auf den Bühnenbrettern liegt.

Mucki – das ist die eine der genau gezeichneten Nebenfiguren, von denen Keinohrhasen einige zu bieten hat und die viel zum Charme des durchschlagenden Komödienerfolges aus dem Jahr 2007 beigetragen haben. Als Schauplatz für das Finale ein Theater zu wählen, hatte für den Drehbuchautor Til Schweiger aber noch einen ganz besonderen Reiz. Es war eine der Szenen, die ihm beim Schreiben am leichtesten von der Hand gegangen sind. Um das zu verstehen, muss man bis ins Jahr 1986 zurückblenden.

In einem Raum der Schauspielschule Bochum steht der 23-jährige Tilman Valentin Schweiger, ein abgebrochener Medizinstudent aus Gießen. Er glaubt in diesem Moment fest an eine Zukunft als Schauspieler. Bochum ist eine der ersten Adressen unter Deutschlands Theater-Ausbildungsstätten und eng mit dem dortigen Schauspielhaus verbunden (wo auch ein noch wenig bekannter Armin Rohde zum Ensemble gehört). Der Intendant heißt Claus Peymann, von vielen angehenden Jungschauspielern als Theater-Guru vergöttert. Der junge Schweiger hat den Namen noch nie gehört. Doch er spürt in sich eine Energie, die ein Ventil sucht. Er möchte spielen, sich ausprobieren. Es ist eher ein körperlicher Drang und nicht ein schon ausgeprägter künstlerischer Impuls oder das Schwärmen für einen bestimmten Regisseur.

Mit 14 anderen Bewerbern hat der junge Mann aus Mittelhessen, dem man das regelmäßige Kampfsporttraining und den temperamentvollen Fußballer ansieht, die letzte Runde der Aufnahmeprüfung erreicht. Kurz zuvor war eine Passage aus Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Drama Draußen vor der Tür dran. Die hat er gut bewältigt. Was kann jetzt noch schief gehen? Doch dann wird die nächste Aufgabe aufgerufen – der Ausdruckstanz.

„Ich war in Schockstarre – wie ein Reh im Scheinwerfer-Spot“, erinnert sich Schweiger, „und als ich mich umschaue, sehe ich die anderen Bewerber wild durch den Raum springen, sich auf den Boden wälzen, die Augen dabei weit aufgerissen.“ Er verharrt dagegen in seiner Position, sieht dann, dass eine Frau sich ebenfalls dem allgemeinen Gestampfe und Gekreische verweigert. Schweiger geht zu ihr hinüber. Sie unterhalten sich im Flüsterton. Er sagt: „Das waren die längsten vier Minuten meines Lebens.“ Sie: „Wenn wir wegen dieser Scheiße jetzt rausfliegen … und das alles umsonst war.“ Die Situation, das ähnlich empfundene Unbehagen und der kleine Flirt – das hellt die Stimmung für einen kurzen Moment auf. Doch schon wenig später ist es amtlich: Sie haben beide die Aufnahmeprüfung nicht geschafft.

Im Büro des Schulleiters hört sich der Abgewiesene die Begründung der Kommission an. „Er sagte mir, ich sei zunächst von allen der heimliche Favorit gewesen. Ja, aber, woran hat es denn dann gelegen? – Am Ausdruckstanz! Da sei ja nichts gewesen, gar nichts. Es komme schließlich auf den Gesamteindruck an, auf die Durchlässigkeit. Und dann hat er mir noch gesagt, ich sei zu sehr auf einen Typ festgelegt.“

Die Enttäuschung sitzt tief. Es ist bereits die siebte oder achte Schule, an der es Schweiger versucht hat. Meistens flog er schon in der ersten Runde raus. Der Prüfer an der Folkwangschule in Essen hatte ihm einige Wochen vorher geraten, er solle lieber Schreiner werden. Das fange auch mit Sch an. Til ist ziemlich niedergeschlagen: „In Bochum haben sie sich immerhin zwei Tage mit mir beschäftigt. Ich fühlte mich schon am Ziel, doch dann haben sie mich trotzdem nicht genommen.“ Und, was soll er nun machen? Der Bochumer Schulleiter erwähnt im Gespräch eine private Schauspielschule in Köln, die habe einen ganz guten Ruf. Und dann überreicht er dem gerade Abgewiesenen noch einen Zettel mit seiner Telefonnummer. „Er sagt zu mir, ich könne jederzeit anrufen – auch nachts.“ Til schlägt das Angebot aus, dafür fährt er gleich am nächsten Tag nach Köln, um sich im Theater Der Keller für die Prüfung anzumelden. Die Spiel- und Ausbildungstätte ist eine bekannte Adresse in der lebendigen freien Theaterszene der Rheinmetropole. 1955 gegründet, wird hier in einer ehemaligen Entbindungsklinik, in der 99 Zuschauer Platz haben, engagierte Kulturarbeit betrieben.

Gespielt werden moderne Klassiker-Bearbeitungen, aber auch zeitgenössische Stücke, die es an großen Häusern schwer haben. Die Schauspielschule sorgt nicht nur für den eigenen Nachwuchs. Denn ab Mitte der Achtzigerjahre, mit der Ansiedlung von RTL in Köln und der einsetzenden Goldgräberzeit des Privatfernsehens, steigt mit den Neugründungen von TV-Produktionsfirmen der generelle Bedarf an jungen Schauspielern rapide an. Til Schweiger wird angenommen in Köln: „Und plötzlich war ich in einer Millionenstadt. Ich! Der Bauer aus Heuchelheim.“

Heuchelheim. Einer dieser Orte in Deutschland, die das Schicksal haben, im Schatten einer größeren Stadt ein provinzielles Dasein zu führen. Einst ein eigenständiges, von der Landwirtschaft geprägtes Dorf, ist die Universitätsstadt Gießen irgendwann so an den Grenzen ausgewuchert, dass Orte wie Heuchelheim einen neuen Status bekommen haben. Den des Vorortes mit Stadtanbindung, aber doch nicht richtig dazugehörend, knapp 8.000 Einwohner zählend. Hohe Einfamilienhausdichte, Rasenmäherlärm am Wochenende. In der waldreichen Umgebung gibt es schöne Wanderwege und zahlreiche Seen, darunter auch der „Silbersee“, der so heißt wie der Schauplatz eines bekannten Karl-May-Romans.

Im Alter von 14 Jahren beginnt für Tilman Valentin Schweiger, den alle „Til“ und die ganz engen Freunde „Tilli“ nennen, die Jugend auf dem Lande. Zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder Florian („Floh“) und dem zwei Jahre jüngeren Nikolaus („Nik“). Die Eltern, beide Lehrer, hatten in Heuchelheim ein Haus gemietet, doch bei den drei Brüdern fiel die Vorfreude aufs neue Familienleben im Grünen eher gedämpft aus. Denn die Cowboy-und-Indianer-Spiel-Phase näherte sich für die drei Schweiger-Jungs da schon ihrem Ende zu. Was soll man nur in Heuchelheim anfangen? Til interessiert sich fürs Fußballspielen und die ersten erotischen Wochenend-Abenteuer.

„Obwohl Heuchelheim nur einen Kilometer von der Gießener Stadtgrenze entfernt war, lagen für uns Jugendliche Welten dazwischen.“ Die Schweigers wohnten zunächst in einer Hochhauswohnung in Gießen-West, mehr ist für eine fünfköpfige Familie mit überschaubarem Junglehrer-Gehalt nicht drin: „Das war schon sehr nah dran an dem, was man heute als sozialen Brennpunkt bezeichnet.“ Doch für den jugendlichen Til ist entscheidend: In Gießen-West wohnen die harten, die coolen Jungs. Aus Heuchelheim kommen die Bauerntrottel. Er denkt: „Oh, Mann, jetzt bin ich selbst einer von denen.“

Schweiger tritt dem örtlichen Fußballverein bei, den Turn- und Sportfreunden Heuchelheim: „Glücklicherweise hat sich das dann vermischt, die Hälfte in meiner Mannschaft kam aus Gießen-West. Da ging es dann ziemlich rau zu, und viele Spiele endeten in einer Schlägerei mit dem gegnerischen Team.“ Auch Til erspielt sich einen Ruf als eisenharter, kompromissloser Verteidiger. Er ist bald der Spieler mit den meisten Platzverweisen – und zahlt deshalb kräftig Bußgelder in die Mannschaftskasse der TSF Heuchelheim ein.

Tils Zuhause ist wiederum eine ganze andere Welt. Herbert und Monika Schweiger hatten sich schon als Studenten in Freiburg kennen gelernt, geheiratet und Kinder bekommen. Sie stehen politisch weit links und engagieren sich in der Friedensbewegung. Auch im Heuchelheimer Haus gibt es keinen Fernseher, dafür eine ausufernde Bibliothek im Wohnzimmer. Am Küchentisch wird über den Vietnamkrieg und Willy Brandts Ostpolitik diskutiert. „Unsere Eltern haben uns auch immer zu Ostermärschen und allen möglichen Demos mitgenommen. Ich kann mich noch an diese eine Parole erinnern, die sie um mich herum geschrien haben:‚Opa, runter vom Balkon, unterstütz den Vietkong.‘ Das fand ich lustig, obwohl ich die Bedeutung damals gar nicht erfasst habe.“

Herbert Schweiger unterrichtet an der Oberstufe des Herder-Gymnasiums in Gießen, das auch Til besucht. „Mein Vater war aber nie mein Lehrer.“ Seine Mutter bekommt eine Stelle als Geschichtslehrerin an der Gesamtschule Gießen-Ost: „Hessen galt damals als das rote Bundesland. Es gab viele Bildungsexperimente. Und das ganze Schulmilieu war links, die Lehrer, die Schüler, die Freunde meiner Eltern, einfach alle.“

 

Vom linken Gießen ins Kölner Studentenleben – die Umstellung für den frisch angenommen Schauspielschüler Til Schweiger ist zunächst gar nicht so groß. Das Theater Der Keller befindet sich in der Kölner Südstadt, inmitten von vielen Kneipen und links-alternativen Läden. Dort, wo Studenten im Jahr 1980 die ehemalige Stollwerck-Schokoladenfabrik wochenlang besetzen und schließlich den Abriss zugunsten eines städtisch geförderten sozialen Wohnraumprojektes verhindern. Die Aktion sorgt bundesweit für Schlagzeilen. Ebenso wie der Aufstieg einer lokalen Rockband namens BAP. Deren Sänger Wolfgang Niedecken und die meisten anderen Musiker sind in der Südstadt groß geworden und unterstützen die Stollwerck-Besetzer mit Solidaritätskonzerten. Der Kölsch-Rock von BAP verbreitet sich danach ganz schnell in der gesamten Republik – und dringt somit auch bis nach Gießen vor. Dort jobbt Til Schweiger im Ulenspiegel, einer bekannten Kellerkneipe in der Innenstadt, wo regelmäßig linke Kabarettisten und Bands auftreten. Tagsüber Uni, abends Abrocken, Kleinkunst und Agitprop, Weltlage erörtern. Das vereint viele Gäste in Kneipen wie dem Ulenspiegel. Insbesondere unter den Geisteswissenschaftlern erscheint es wichtiger, sich politisch zu engagieren oder sich im diffusen Experimentierfeld von Kunst und Medien verwirklichen zu wollen, statt zielstrebig die Karriereleiter zu erklimmen. Es ist schließlich die Zeit, in der nach den gesellschaftlichen 68er-Umbrüchen und den Bildungsreformen der sozialliberalen Regierung die Arbeiter- und Mittelstandskinder die Hochschulen bestürmen. Anfang der Sechzigerjahre werden in Deutschland so viele Kinder geboren wie nie (mit dem Höchststand von 1,51 Millionen Geburten im Jahr 1964).

Til Schweiger ist Jahrgang 1963, ein typischer Babyboomer, weltoffen erzogen und wohl genährt von den Früchten des deutschen Wirtschaftswunders. Dazu passt, dass sich Til zunächst auch bei den Germanisten einschreibt. Er möchte – trotz des Aufbegehrens gegen das prinzipientreue Akademikerleben seiner Eltern – tatsächlich Lehrer werden. Doch dort ist der Andrang besonders groß. Und die allseits prognostizierte „Lehrerschwemme“ schreckt ihn zusätzlich ab. Also bewirbt er sich gleichzeitig um einen Platz an der Medizinischen Fakultät: „Das habe ich vor allem gemacht, um meinen Vater zu beruhigen.“ Dieser ist dann auch mächtig stolz, als sein Sohn mit dem Abitur-Noten-Durchschnitt von 1,7 die Zulassung bekommt. Herbert Schweiger wäre selbst gerne Mediziner geworden, um vielleicht als Entwicklungshelfer nach Afrika zu gehen. Doch er konnte kein Blut sehen. Aus der Traum.

Schweiger junior pendelt zwischen Hörsaal, Seminarraum und Kneipe. Nicht antriebslos, aber so richtig überzeugt auch nicht. Mit ihm beginnt auch sein Klassenkamerad Walter Klingelhöfer das Medizinstudium: „Den Walter habe ich immer bewundert. Der war in allen Fächern gleichermaßen gut und hatte einen Notendurchschnitt von 0,9. Walter konnte mir als einziger Mathe erklären und hat mich von meiner Fünf heruntergebracht. Dass ich zwei Semester lang meine Scheine in Medizin gemacht habe, verdanke ich ihm auch. Denn er saß meistens neben mir. Ein Genie, der Walter. Ich dachte, der erfindet irgendwann einmal ein Mittel gegen Aids oder so etwas. Heute leitet er ein Krankenhaus in Bremen.“

Im dritten Semester lässt Tils Elan merklich nach. Es bleibt der Job im Ulenspiegel, wo er inzwischen eine feste Größe ist: Irgendwie alternativ, aber auch keiner dieser selbstgerechten Weltverbesserer-Typen mit hängenden Schultern, sondern einer, der mit Vorliebe eng sitzende T-Shirts trägt. Der gut gelaunt ist, nie um einen Spruch verlegen. Zu seinen Gästen zählen auch viele Ensemble-Mitglieder vom nahe gelegenen Gießener Stadttheater, die nach der Vorstellung vorbeischauen. Zum exzessiven Feierabendtrinken.

Eine Schauspielerin kommt eines Abends mit Til ins Gespräch: „Sie meinte, ich hätte Talent, das wäre zu spüren. Und sie hat mir dann gesagt, ich solle es mal auf einer Schauspielschule versuchen. Sie würde mir auch bei der Vorbereitung helfen.“ Til ist sich nicht sicher. Arzt möchte er nicht werden, das weiß er inzwischen. Aber Schauspieler? Denn in Schweigers Kopf formt sich nachts im alkoholgeschwängerten Kellernebel ein bestimmtes Bild vom Berufsbild des Stadttheaterschauspielers: „Ich denke mir, mein Gott, was sind das teilweise für verkrachte Existenzen. Die reden schlecht übereinander. Und es geht nur darum: Wie komme ich an die Rolle? Ein Hauen und Stechen. Und wenn jemand ein paar Gläser zu viel gekippt hat, sagt er allen, dass er eigentlich ans Wiener Burgtheater gehöre.“

Von der großen Kunst schwadronieren – und am nächsten Tag verkatert die Kindervorstellung runterziehen. Eine Mucki-Existenz. Nicht unbedingt eine schöne Perspektive. Aber Schauspieler spielen auch in Filmen. Und das Kino zieht Til seit seinem zwölften, dreizehnten Lebensjahr magisch an. Sein Bruder Nik erinnert sich: „Til war ein fanatischer Kinogänger, er hat sich oft mehrere Filme in der Woche angeschaut. Später konnte er mir jede Szene und Einstellung im Detail erzählen. Er hat sich das alles gemerkt, unglaublich war das.“

Zu dem jüngeren, sensiblen Nik hat Til ein viel engeres Verhältnis als zu seinem Bruder Floh. Dieser ist drei Jahre älter und schmuggelt Til öfters mit ins Kino, in Filme, die erst ab 16 oder 18 Jahren freigegeben sind. Beispielsweise in Sam Peckinpahs rauen Action-Klassiker Getaway mit Steve McQueen, der einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Til: „Das fand ich natürlich super, und Floh hat mich auch öfters beschützt, wenn ich mal Stress hatte. Aber er konnte auch sehr jähzornig sein. Bis zu meinem sechzehnten, siebzehnten Lebensjahr habe ich auch immer wieder Prügel von ihm bezogen. Dann habe ich mit dem Kampfsport begonnen und konnte mich wehren. Von da an war unser Verhältnis dann in Ordnung.“

Unter den Schweiger-Jungs herrscht ein gesunder Konkurrenzkampf. Sie streiten und raufen, können aber auch ein verschworener Haufen sein. Vor allem, wenn es darum geht, der Sittenstrenge der Eltern ein Schnippchen zu schlagen. Anfangs, um etwa das strikte Cola-Verbot im Hause Schweiger zu umgehen oder sich vom Ritual des Sonntag-Spazierganges zu drücken. Dann werden die heimlichen Aktionen brenzliger: „Nik hing eine Zeit lang fast jeden Abend mit seinen Dope-Freunden ab. Er hat den Eltern gute Nacht gesagt – am nächsten Tag war schließlich Schule – und sich wenig später mit einem Bettlaken aus dem Fenster abgeseilt. Doch der Vater hat ihn irgendwann erwischt, weil die schöne Fassade mit Fußspuren übersät war.“

Vater Herbert ist durch und durch Geisteswissenschaftler, der gerne abends mit einem Glas Rotwein, Bob Dylan lauschend, im Wohnzimmer sitzt. Til: „Das Zimmer bestand eigentlich nur aus Regalen mit Tausenden von Büchern. Einmal hat uns unser Vater gefragt, ob wir unser Taschengeld aufbessern und seine Bücher durchzählen möchten. Das haben wir dann gemacht und jeder hat fünf Mark dafür bekommen, was damals viel Geld war. Ein paar Monate später haben wir uns dann wieder angeboten, aber nicht wirklich gezählt, sondern uns einfach eine Zahl ausgedacht – 23.511. Er hat uns geglaubt.“

Nik: „Unsere Eltern sind politisch links und modern im Denken, aber auf ihre Weise auch ein bisschen konservativ.“ Die Söhne nabeln sich ab, brechen aber nie mit ihrem Elternhaus. Til: „Ich bin in vielen Dingen anders, aber ich liebe meine Eltern. Und ich habe viel Liebe von Ihnen bekommen, was weiß Gott nicht alle aus meiner Generation von sich behaupten können.“

Herbert Schweiger bevorzugt intellektuelle französische Filme, aber er liebt auch Western, insbesondere die, in denen die Indianer nicht als primitive Wilde gezeigt werden: „Ich habe mir voller Begeisterung die Italo-Western-Komödie Mein Name ist Nobody mit Terence Hill angeschaut. Und dann konnte ich meinen Vater tatsächlich überreden, dass er sich den Film mit mir noch einmal anschaut. Das war schön.“ Ansonsten fasziniert Til in dieser Zeit vor allem Jean-Paul-Belmondo. In dessen Gangsterfilm Der Profi rennt er fünf Mal hintereinander. Aber auch John Travolta hinterlässt bei ihm in Nur Samstag Nacht einen bleibenden Eindruck. Nicht nur wegen seiner Hüftschwünge zur ekstatischen Disco-Musik der Bee Gees. Tony Manero, der Samstagabend-Matador und Arbeiter aus Brooklyn, ist ein Kämpfer, der sich seinen Traum erfüllt. Unerschrocken. Auf eine fiebrig-männliche, sehr unangepasste Art.

Wie kommt man da hin, solche Männer zu verkörpern? Nur übers Theater, sagt ihm Uta, die Schauspielerin, in die sich Til verguckt hat. Es beginnt zu kribbeln. Doch Til ist hin- und hergerissen zwischen gestreicheltem Ego und starken Zweifeln. Auch deshalb bricht er im Sommer 1985 zu einem mehrwöchigen Urlaub nach Griechenland auf – das Land steht in Studentenkreisen noch hoch im Kurs für Selbstfindungstrips jeglicher Art. „Ich wollte mir endlich klar werden, was ich im Leben will. Und so klischeehaft, wie es klingt, war es dann auch. Als ich nachts alleine im Schlafsack unterm Sternenhimmel lag, fasste ich den Entschluss, ich versuche das jetzt mit der Schauspielschule. Was habe ich zu verlieren?“

Uta und Til studieren gemeinsam Rollen ein. Eine Hemmschwelle ist bei ihm noch immer da: „Wir haben uns in meiner Wohnung getroffen, und ich hab’ bestimmt drei Stunden auf der Bettkante gesessen, bevor ich mich getraut habe, die Rolle des Tempelherren aus Nathan der Weise zu sprechen. Nach einigen Gläsern Wein ging es dann. Und Uta hatte Gott sei Dank viel Geduld mit mir.“

Es ist die gleiche Angst, die Til schon in der Schule befallen konnte. Es ist die Angst vor Situationen, die von anderen Menschen, ausgestattet mit Macht, kontrolliert werden: „Ich war wirklich gut in Geschichte. Beim Thema Nationalsozialismus hatte ich schriftlich mit 15 Punkten die höchste Punktzahl erreicht. Doch bei der mündlichen Prüfung sitze ich da und bekomme erst mal kein Wort heraus. Vollkommener Blackout. Irgendwie habe ich dann doch noch die Kurve bekommen, aber die Note war verhagelt.“

Mit Hilfe seiner einfühlsamen Privatlehrerin schafft Til in Köln die Aufnahmeprüfung. Die Eltern sind alles andere als begeistert. Seine Mutter wundert sich: „Du warst doch in der Schule nie in einer Theatergruppe.“ Und sie ist besorgt, wie er einmal von der Schauspielerei leben will. Mit seinem Vater gibt es eine heftige Auseinandersetzung. Er erzählt Til die Geschichte eines guten Freundes, eines Schauspielers, der an seinem Beruf verzweifelt wäre. Er habe sich schließlich zu Tode gesoffen. Es sind die Ängste eines Vaters. Dennoch verspricht Herbert Schweiger, seinen Sohn zu unterstützen. Er spürt, dass Til es ernst meint. Er sichert ihm bis zum 27. Lebensjahr die elterlichen Finanzspritzen zu. Dann müsse er auf eigenen Beinen stehen. Das gilt auch für Tils Brüder, die zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht wissen, was sie werden wollen.

Til stürzt sich euphorisch in das neue Leben aus Proben, Sprechtraining, Tanzen, Fechten, Improvisationsübungen. Und wie in Gießen hat er bald auch einen Kellnerjob. Er arbeitet zunächst im Café Central im Belgischen Viertel, einem bekannten Treffpunkt der Kölner Künstler- und Medienszene. Im angeschlossenen Hotel übernachten viele Schauspieler, Models, Autoren und Maler. „Ein sehr schräges Volk verkehrte dort“, so Til, „ich erinnere mich vor allem an die Auftritte des Künstlers Martin Kippenberger. Der erschien immer mit einer Entourage von fünfzehn Leuten, die auf seine Kosten gelebt haben.“

In einer Winternacht im Central ist Til der letzte Mann hinterm Tresen und möchte gegen fünf Uhr morgens absperren. „Ich sage den Kippenberger-Leuten: So, jetzt ist aber Schluss für heute.“ Es hatte angefangen zu schneien. Das heißt, dass Til an diesem Morgen nicht direkt zu seiner Wohnung in der Südstadt aufbrechen kann. Er muss vorher den Schnee vor dem Verwaltungsgebäude einer großen Versicherung räumen – ein Job, den er gelegentlich auf Abruf macht. Til drängelt seine betrunkenen, hartnäckigen Gäste erneut zum Aufbrechen. „Die wurden dann frech, meinten, ob ich denn nicht wüsste, wer Martin Kippenberger sei. Der war eigentlich sehr sympathisch, aber die Leute um ihn herum machten so eine Riesenwelle, dass ich am liebsten jeden einzelnen auf der Stelle verprügelt hätte.“ Doch Til lässt die Faust geballt in der Tasche. Er begibt sich zum Schneeschaufeln ans Rheinufer und joggt anschließend nach Hause – „Ich wollte kein Taxi nehmen, sonst wäre der Lohn von einer Stunde gleich wieder weg gewesen. In dieser Zeit habe ich die Zigaretten abgezählt und mich oft von Ravioli aus der Dose ernährt.“

 

Die Ausbildung dauert drei Jahre, von 1986 bis 1989. Tils Tag ist strukturiert, das hilft ihm. Er lässt sich nun auch auf freie Ausdrucksformen ein, die ihn vor der Bochumer Prüfungskommission noch abgeschreckt hatten. Er ist lernwillig. Und ganz Teamplayer. „Der Klassenbeste war er sicher nicht“, sagt sein Kommilitone Matthias Komm, „aber Til war sehr beliebt. Denn er war umgänglich, kollegial und hatte diese Charming-Boy-Power.“ Der aus Bielefeld stammende Komm ist drei Jahre jünger als Schweiger. Die beiden freunden sich an, sie verbindet eine ähnliche Bodenhaftung. In den Pausen schnappen sie sich oft einen Ball, um im Hof zu kicken, während andere Schüler ihre freie Zeit mit Faust oder Emilia Galotti vergrübeln. Komm: „Das hat uns auch verbunden. Sobald das Ganze zu intellektuell oder esoterisch wurde, haben wir unsere Witze gemacht.“ Die Kumpel stürzen sich auch gemeinsam ins Kölner Nachtleben, hängen oft im Eckstein ab, einem Restaurant mit beliebter Bar, wo Til bald als DJ arbeitet, ein Talent, das sich schon in Gießener Zeiten entwickelt hatte, in einem Club namens Ausweg. Zur Kölner Eckstein-Szene stößt dann auch eine Mitstudentin, die gebürtige Münchnerin Nika von Altenstadt. „Ich war sofort verknallt in Nika – wie alle Männer in unserem Jahrgang“, so Matthias Komm, „und Til natürlich auch. Er war dann der Glückliche, der bei ihr landen konnte.“ Til und Nika sind schwer verliebt und ziehen zu Beginn des zweiten Semesters zusammen.

Im letzten Ausbildungsjahr haben die Schüler ihre Feuerprobe auf der Bühne. Til und Matthias spielen gemeinsam in dem reinen Männerstück Rosa Winkel des New Yorker Autoren Martin Sherman. Es spielt im KZ und behandelt die Verfolgung und Ermordung Homosexueller durch die Nazis. Eine Szene muss Til als einziger der vier Schauspieler nackt bestreiten. „Damit ist er locker umgegangen“, so Komm. Regie führt Wolfgang Trautwein, der Schulleiter und gleichzeitig amtierende Intendant im Theater Der Keller. Das Verhältnis zwischen Schüler und Direktor ist allerdings nicht das beste. Trautwein ist der Typ kapriziöser Künstler, der mit Schal zur Probe erscheint. „Er war wohl auch in Nika verliebt“, so Matthias Komm, „und dass Til und sie zusammen waren, hat ihn ganz offenbar gestört.“

Zu Trautweins Lieblingen zählt dagegen der Kölner Christian Bossert. Es ist der Sohn von Georg Bossert, einem bekannten Produzenten von Kindersendungen bei Radio Luxemburg. Dieser hatte im Jahr 1981 auf schlagzeilenträchtige Weise seinen Job verloren: Er verließ seine Ehefrau, um mit der erst 16-jährigen Nachwuchsmoderatorin Désirée Nosbusch zusammen zu leben. Matthias Komm über Christian Bossert: „Alle haben damals gedacht, wenn jemand aus unserem Jahrgang Karriere macht, dann ist es Christian. Er war sehr talentiert und brannte für den Schauspielerberuf.“ Doch wenige Jahre nach der Abschlussprüfung nimmt das Leben von Christian Bossert eine tragische Wende: 1995 ersticht er seinen Vater im Laufe eines erbitterten Streits in dessen Wohnung. Christian Bossert wird wegen Totschlags verurteilt und in die Psychiatrie eingewiesen.

Matthias Komm spielt nach der Schule an Theatern in Essen, Bonn und Karlsruhe sowie regelmäßig in TV-Krimis und Vorabendserien. Die typische Karriere eines Schauspielers in Deutschland, dessen Gesicht vielen Zuschauern vertraut ist, dessen Name sich aber kaum jemand merkt. Der lockere Kontakt zu Til bleibt. Für die Sportler-Komödie Wo ist Fred? (2006) unter der Regie von Anno Saul stehen die zwei Freunde aus der Schauspielschule später gemeinsam vor der Kamera. Til spielt neben Jürgen Vogel und Alexandra Maria Lara eine der Hauptrollen. Matthias hat einen Auftritt als Platzwart.

„Til hatte eine kleine Stimme, aber er war auf jeden Fall ein interessanter Typ, jedoch eher für die Kamera als für die Bühne“, sagt Trautwein vieldeutig in einem Interview mit dem Kölner Express, als er zu seinem prominentesten Schüler befragt wird. Die Schauspielerin Elisabeth Scherer, die auch an der Schule unterrichtet, ist da in einem anderen Interview deutlicher: „Wolfgang Trautwein wollte Til rausschmeißen. Da habe ich mich für ihn eingesetzt. Sicher konnte Til stinkefaul sein, aber er hatte eine große Ausstrahlung. Ich wusste, es würde einmal etwas aus ihm werden, wenn er weiter an seiner Technik arbeiten würde.“

Bezeichnenderweise findet Til zu der warmherzigen und temperamentvollen Schauspielerin, die schon über Siebzig ist, einen viel besseren Draht. Somit sind es nun zwei Frauen, Nika und Elisabeth, die ihm den Rücken stärken und ihn immer wieder motivieren, nicht nachzulassen, an sich zu arbeiten.

Nika hält ihn öfters davon ab, die Schule zu schmeißen. Einmal eskaliert die Situation zwischen Trautwein und Til. „Die ganze Anspannung hat sich bei einer dieser Straßberg-Übungen entladen, und er hat mir mit voller Wucht vor allen anderen eine geknallt. Ich war ihm körperlich eigentlich überlegen, war aber in dem Moment so perplex, dass ich nicht zurückgeschlagen habe. Abends im Bett habe ich mir dann geschworen: Wenn er so etwas noch mal macht, haue ich ihn sofort um. Das war ein Schlüsselerlebnis, es hat mich darin bestärkt, mich in Zukunft von Regisseuren, die ihre Macht missbrauchen, nicht mehr demütigen zu lassen.“ Bei seiner Lehrerin Elisabeth bedankt sich Til dann Jahre später auf seine Art.

Als er im Jahr 2000 die Gaunerkomödie Jetzt oder nie – Zeit ist Geld des Regisseurs Lars Büchel produziert, besetzt er eine Hauptrolle in dem rüstigen Senioren-Einbrechertrio mit der 86-jährigen Elisabeth Scherer. Die Kölner Theaterberühmtheit ist noch bis ins hohe Alter in kleinen Film- und Fernsehrollen zu sehen, sie stirbt 2013 mit 98 Jahren.

Das Jahr 1989, das geschichtsträchtige Jahr des Mauerfalls, ist auch für Til Schweiger sehr ereignisreich. Über die mit Erfolg bestandene Abschlussprüfung kann er sich zunächst allerdings nicht richtig freuen. Denn fast zeitgleich zieht Freundin Nika aus der gemeinsamen Wohnung aus. Eine schmerzvolle Trennung nach fast drei Jahren. Es ist das erste Mal, dass Til, der verwöhnte Frauenschwarm, verlassen wird. Und es quält ihn noch eine längere Zeit.

Til stürzt sich in die Arbeit. Am liebsten möchte er gleich zum Fernsehen. Doch er ist Realist und weiß um die Chancen von Schauspielschul-Absolventen. So knüpft er Kontakt zum Contra-Kreis-Theater in Bonn, einer Privatbühne, die auf zeitgemäße freche Boulevardkomödien spezialisiert ist. Das liegt dem staatlich anerkannten Nachwuchsschauspieler mit dem jungenhaften Charme. Mehr als das klassische Drama oder düstere Charaktere. Er erhält seine Chance in Stücken wie Kille, Kille und Mit einem Zeh im Wasser.

Gutes Aussehen, Esprit und Witz, all das wird dem 26-jährigen Til Schweiger bescheinigt. „Ein Boulevard-James-Dean, von dem man sicher noch mehr sehen wird“, heißt es in einer überschwänglichen Kritik in der Bonner Rundschau.

Auch Horst Johanning, Tils Regisseur in mehreren Stücken, ist voll des Lobes über seine Entdeckung: „Er war fleißig und ehrgeizig sowie bei jeder Aufführung mit dreihundert Prozent bei der Sache.“ Seine Faulheit und gelegentliche Trotzhaltung hatte wohl vor allem mit der Schulsituation zu tun. Da entwickelt der Lehrersohn anscheinend eine Art Abwehrreflex, zumal bei Texten, die ihn nicht sonderlich interessieren oder die er als sperrig empfindet. Anders die Situationskomik auf der Boulevardbühne. Sie macht ihm Spaß, weil es lebendige Alltagssprache ist. Er genießt das Tempo, den spontanen Applaus während der Aufführung. Dabei schärft sich sein Gefühl für Timing und Sprachmelodie. Til Schweiger entwickelt sich schnell zu einem Publikumsliebling des kleinen Hauptstadt-Theaters.

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