Neues Vertrauen

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3

Die erdrückende Trauer war einer dumpfen Verbitterung gewichen. Eric erledigte seinen Job routiniert, jedoch war er unerbittlich geworden, es gab keinen Raum mehr für Gnade. Sein Herz hatte sich in einen schwarzen Felsen verwandelt und pausenlos spürte er das düstere Gewicht der Schuld an Biancas Tod auf seinen Schultern. Tag für Tag sah er sich dort auf der Treppe stehen und der Schuss hallte als tausendfaches Echo in seinem Kopf wider. In diesem Moment, als Bianca starb, war auch ein Teil von ihm gestorben. Nie wieder, dachte er, nie wieder wird das Leben zu ertragen sein.

Simon, der ein Kollege gewesen war, ein Polizist, ein Profi am Computer, hatte sich als eiskalter Psychopath entpuppt. Er hatte Bianca getötet, um seinen Freund Pit zu rächen, weil sie diesen seelisch kaputten Mann verlassen hatte. Pit hatte viel Leid über andere Menschen gebracht, aber genau das hatte die beiden Jungen schon als Kinder vereint. Zwischen Pit und Simon hatte es in dem Kinderheim, in dem beide gelebt und gelitten hatten, eine enge Verbindung, eine Art Abhängigkeit gegeben, denn keiner der beiden konnte echte Freundschaft und Liebe empfinden. Kalt und empathielos hatten sie gelebt und in den Augen von Simon hatte Bianca Pits Leben zerstört, denn dieses eine Mal hatte Pit Gefühle für jemanden entwickelt.

Wegen Bianca war Pit am Boden zerstört gewesen, hatte eine Frau misshandelt und getötet, und wegen Bianca hatte die Rächerin ihn hingerichtet. All die Jahre, die er darauf verwendet hatte, Bianca zu finden und zu zerstören, war Simon ihr immer nähergekommen und niemand hatte verhindern können, dass er sein Werk vollendete.

Das hatte Cordelia, Psychologin und Freundin von Bianca, Eric immer wieder versucht zu sagen, nachdem sie gesehen hatte, wie beladen von Schuld die drei Männer waren: Eric, Ferdinand und Robin. Sie hatte den eigenen Schmerz über den Verlust ihrer Freundin weggeschoben, um ihnen zu helfen. Ferdinand und Robin konnte sie erreichen, doch Eric hatte sich verschlossen und ließ niemanden in seine Seele schauen. Er kam regelmäßig zum vereinbarten Termin, aber es gelang ihm nicht, das Unabwendbare anzuerkennen.

Jetzt stand der Staatsanwalt im Bad vor dem beschlagenen Spiegel und sah einen alten Mann ohne Energie, dessen sonst so wache, freundliche Augen die Lebensfreude verlassen hatte. Er lebte nicht mehr, er funktionierte, und alle machten sich Sorgen.

Eric schüttelte sich, kämmte sich die Haare und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Seine Bett­seite war zerwühlt, aber die von Bianca war unberührt, denn er schaffte es nicht, sie zu benutzen, er rollte auch nicht zufällig im Schlaf hinüber, stets blieb er auf seiner Seite. Er nahm sich vor, Cordelia zu fragen, was das bedeutete. Konnte er eine bestimmte Grenze nicht überschreiten?

Zu Biancas Beerdigung waren viele Menschen gekommen, sie hatten ihm tröstende Worte gesagt, doch sie waren nicht zu ihm durchgedrungen. Auch das Wissen, dass Simon ebenfalls tot war, hatte ihm keine Befriedigung gebracht, gerne hätte er ihn geschüttelt und gerufen: WARUM? Gerne hätte er ihn leiden sehen oder selbst getötet.

Irgendwann an diesem Tag im Frühling hatte ihn jemand aus dem Keller geführt und dann war er zusammengebrochen. Als er im Krankenhaus wieder aufwachte, war sein erster Gedanke: Ich bin schuldig!

Sie hatten ihn eine Weile mit Samthandschuhen angefasst, aber Cordelia erklärte, dass es besser war, ihn wieder am Alltag zu beteiligen. Also war Eric aufgestanden und zur Arbeit gegangen, so wie die anderen auch. Das Leben ging weiter, und bei diesem Satz, den er öfter hörte, wurde ihm speiübel. Er wäre am liebsten auch gestorben. Doch so klar war er noch: Er wollte die schönen Erinnerungen an Bianca aufrechterhalten und das ging nur, wenn er lebte. Er pflegte ihr Grab, saß jeden Tag auf dem Friedhof, so, wie es Bianca immer bei Michael getan hatte.

Dass sie ihm nicht antwortete, konnte nur eines bedeuten: Auch Bianca gab ihm die Schuld, denn er hatte sie direkt in Simons Arme geschickt. Wenn …. Wenn … ja, wenn er doch anders gehandelt hätte.

Eric trank eine Tasse Kaffee, aß eine Scheibe Toast mit Marmelade und dachte mit Grauen an die bevorstehende Weihnachtszeit. Er würde sich zuhause verbarrikadieren und sinnlos betrinken, denn Weihnachten ohne Bianca überstehen zu müssen, hielt er für eine Folter.

Jetzt zog er die Tür hinter sich zu und fuhr ins Büro. Am Nachmittag hatte er einen Gerichtstermin, wofür er nochmals die Akten durchging. Vor Biancas Tod hatte er immer noch geprüft, wie er einen Täter oder eine Täterin auf den richtigen Weg bringen konnte und ob er oder sie vielleicht einen Grund für die Tat hatte. Nicht, dass er ihn nicht strafen wollte, aber mit Bianca hatte er gelernt, nicht nur schwarz und weiß zu sehen, sondern auch die Zwischentöne. Mancher Täter hatte ein durchaus nachvollziehbares Motiv, doch wählte er dann den falschen Weg.

Heute war es anders: Jemand, der etwas falsch gemacht hatte, musste bestraft werden. Er dachte nur in diese eine Richtung und setzte oft die Höchststrafe an.

Das Telefon klingelte und der Oberstaatsanwalt rief ihn zu sich. Eric seufzte und erhob sich. Nach seinem schwachen Klopfen und einem energischen „Herein!“ sah er sich einem Mann gegenüber, der ihn mit durchdringendem Blick musterte.

„Wie geht es Ihnen jetzt mit dem Verlust Ihrer Freundin?“, fiel der Oberstaatsanwalt direkt mit der Tür ins Haus.

„Gut, es geht mir gut“, log Eric mit einem verrutschten Lächeln.

„Das glaube ich Ihnen eher weniger. Mir ist zu Ohren gekommen … ach was, man redet über Sie, dass Sie sich nicht im Griff hätten. Das betrifft unter anderem auch die Forderungen nach der Höchststrafe in den Verhandlungen. Wo ist Ihre Umsicht geblieben?“

„Die Menschen waren allesamt schuldig und hart zu bestrafen.“

„So, wie Sie sich bestrafen möchten?“

Eric schwieg und hielt dem scharfen Blick seines Vorgesetzten stand.

„Herr Ströckwitz, bitte sprechen Sie weiter mit Ihrer Psychologin. Sie müssen wieder festen Boden unter den Füßen kriegen, sonst kann ich Ihnen keinen Fall mehr anvertrauen. Bisher haben Sie auch die verzwicktesten Fälle mit Bravour gemeistert, auch wenn wir hin und wieder nicht einer Meinung waren. Aber es ist wichtig, dass Sie wieder ein Gespür für unser Rechtssystem bekommen. Das war es dann, gehen Sie an die Arbeit.“

Eric schwieg weiter und verließ das Büro. Er verstand alles, was der Oberstaatsanwalt gesagt hatte, doch er konnte nicht anders reagieren. Wenn er nicht Simon geschickt hätte, um Bianca abzuholen, würde sie jetzt noch leben. Er trug die Schuld und er hätte genauer hinsehen müssen. Seine Antennen hatten versagt. Er hatte jemandem vertraut, der ein Profi der Täuschung war. Und wer sagte ihm denn, dass die Angeklagten vor Gericht nicht auch logen und betrogen, wenn Sie Reue zeigten oder jammerten? Darum wollte er lieber hart sein, denn wenn diese Leute schnell wieder auf freiem Fuß waren, würden sie neues Unheil stiften. Das galt es zu verhindern und darum würde er am Nachmittag auch wieder die Höchststrafe fordern. Ein Mann hatte seine Frau die Treppe hinuntergestoßen, weil sie im Streit zugegeben hatte, dass sein Kind doch nicht SEIN Kind war. Der Täter hatte an den vorangegangenen Tagen der Verhandlung immer geweint und seine Tat bereut.

Aber war er ehrlich oder war das nur Show, um das Strafmaß zu senken? Hatte ihm sein Anwalt dazu geraten, um Staatsanwaltschaft und Richter milde zu stimmen? Eric wusste nur eines: Der Mann hatte seine Frau getötet und dafür musste er bestraft werden.

Mit Schwung schob er die Akte beiseite und rieb sich die Hände. Dann griff er zum Telefon und rief Ferdinand an.

„Hallo, hat sich die Neue schon gemeldet?“

„Hallo Eric, nein, sie ist doch erst angereist. Übermorgen soll sie anfangen. Ich habe sie gebeten, sich zu melden, sowie sie da ist, denn ich möchte vorher mit ihr reden.“

Eric bedankte sich und legte auf. Diese Susanne Wescham aus Potsdam sollte Biancas Platz einnehmen.

„Pfff“, murmelte Eric, „das wird ihr nicht gelingen. Und schon gar nicht mit dieser Vorgeschichte. Niemals wird sie Bianca ersetzen können.“

Was hatten sich die Leute da oben nur dabei gedacht, eine strafversetzte Polizistin herzuholen, damit sie an Biancas Stelle hier ermittelte? Robin war befördert worden und hatte in den letzten Monaten oft mit Hannes zusammengearbeitet, doch wie immer war Hannes nur ausgeliehen. Die Entscheidung, einen Ersatz für Bianca zu finden, hatten alle endlos vor sich hergeschoben, doch nun war es soweit. Die Neue würde kommen, in Biancas Büro arbeiten, auf Biancas Platz sitzen, Biancas Computer bedienen und mit Robin zusammen Fälle lösen.

Eric legte die Hände vor sein Gesicht. Er war erschöpft und traurig.

4

Susanne hatte ihre erste Nacht in Eltville verbracht und doch noch erstaunlich gut geschlafen. Nach dem Aufwachen wollte sie mit Phillip telefonieren, hatte es aber gelassen. Der hat mit mir abgeschlossen und es sich in seinem neuen Leben schon eingerichtet, dachte sie missmutig. Es wurde Zeit, dass auch sie eine Entscheidung traf.

Sie hatte sich keinen Wecker gestellt, obwohl es ungewohnt war, an einem Dienstag auszuschlafen. Einen Moment war sie in Versuchung, Ferdinand Waldhöft doch schon anzurufen, aber dann winkte sie ab und sprang aus dem Bett. Sie würde sich Eltville anschauen, gut essen, eine Weile am Rhein sitzen und sehen, wohin der Tag sie brachte. Susanne ging ins Bad, duschte und zog sich warm an. Dann machte sie sich auf den Weg in die Altstadt, um einen Kaffee und etwas zum Essen zu finden.

 

Als sie in einer gemütlichen Bäckerei saß, eine dampfende Tasse Milchkaffee und zwei belegte Brötchen samt Frühstücksei vor sich hatte, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf: Vielleicht war es wirklich Zeit für eine Veränderung gewesen und dieser Neuanfang war eine Chance. Jetzt müsste sie nur noch eine Wohnung finden, damit sie sich ein Nest bauen konnte. Sie nahm sich auch vor, nach dem Frühstück mit Phillip reinen Tisch zu machen. Sie war nicht geschaffen für eine Fernbeziehung. Punkt.

Draußen hasteten die Menschen vorbei, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigten. Eine Frau Mitte dreißig betrat die Bäckerei und sprach mit der Verkäuferin. Diese nickte und die Frau entnahm ihrer Tasche ein laminiertes Blatt und eine rolle Klebestreifen. Sie kam auf Susannes Tisch zu.

„Guten Morgen, Entschuldigung, darf ich mal etwas ans Fenster kleben?“

Susanne grüßte und rutschte ein Stück zur Seite.

„Was ist das?“

Die Frau setzte sich kurz und schnitt vier Klebestreifen ab, die sie an die Tischkante klebte.

„Mein Ex-Mann hat mir das Haus gelassen, aber für mich allein ist es zu groß. Ich fürchte mich sogar manchmal. Es ist hier in der Nähe, ein altes Fachwerkhaus, und das knarzt oft in der Nacht. Darum habe ich mich entschlossen, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Ich habe eine Wohnungsanzeige formuliert und hoffe, dass sich schnell jemand findet.“

Susanne nickte wie hypnotisiert und ihr Herz klopfte. Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Wäre eine Wohngemeinschaft nicht genau das Richtige? Sie wäre nicht allein und hätte jemanden zum Reden.

„Moment“, sagte sie und zog die Anzeige zu sich herüber.

Das Haus hatte sieben Zimmer, die Frau bot zwei – ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer – zur Miete an. Die Küche, ein großes Wohnzimmer und das Bad würde man sich teilen, im Obergeschoss gab es eine weitere kleine Toilette. Die Miete war erschwinglich und die Lage perfekt.

„Vielleicht müssen Sie nicht mehr suchen.“

Die Frau runzelte die Stirn.

„Wie? Was?“

„Ich bin Susanne Wescham aus Potsdam, gestern angereist, um am Donnerstag meine neue Stelle bei der Polizei hier in Eltville anzutreten. Ich bin erstmal in eine Ferienwohnung gezogen, aber auf Dauer stelle ich mir das blöd vor. Darf ich mir Ihr Haus mal ansehen?“

Die Frau strahlte über ihr sanftes Gesicht.

„Wow, dass sich so schnell jemand meldet, hätte ich nicht gedacht. Ich bin Karin Borkenbach, Erzieherin in der Kita.“

Sie streckte die Hand über den Tisch und Susanne schlug ein. Die Kommissarin bezahlte und zusammen verließen sie die Bäckerei. Susanne folgte Karin um zwei Ecken und dann standen sie vor einem wunderschönen Fachwerkhaus, dessen weiße Gefache zwi­schen den dunklen Balken strahlten. Eine späte Rose blühte an der Hauswand.

„Rosen gibt es hier überall, nicht umsonst sind wir eine Rosenstadt. Bitte!“

Karin hatte aufgeschlossen und die beiden betraten das Haus. Im Untergeschoss gab es eine große Wohnküche, ein riesiges Wohnzimmer, das Bad, eine Abstellkammer und zwei kleinere Zimmer, die bis auf ein paar Schränke leer waren.

„Ich hätte diese beiden Räume gern als Kinderzimmer eingerichtet, aber dann musste sich mein Mann eine Jüngere suchen. Jetzt gehen wir nach oben.“

Susanne folgte ihr die enge Treppe hinauf. Dort öffnete Karin die erste Tür links, die den Blick auf ein helles, geräumiges Zimmer freigab.

„Hier könnte das Wohnzimmer sein mit Platz für einen Schreibtisch und eine Couch und so weiter, wenn Sie sich mal zurückziehen wollen. Man muss ja in einer WG nicht ständig aufeinander hocken. Und hier nebenan könnte das Schlafzimmer sein, mit zwei Zimmern ist das nicht so hotelmäßig. Und wir sind auch keine jungen Studentinnen mehr, nicht wahr?“

Susanne nickte lachend.

„Ich bin sechsunddreißig.“

„Ich zwei Jahre älter. Das würde schon mal gut passen.“

Karin zeigte Susanne noch zwei kleine Zimmer, in denen sie Sachen abgestellt hatte. Das war wirklich mehr Platz für eine Person als nötig. Jetzt schwieg sie und starrte Susanne gespannt an.

Nachdenklich trat die Kommissarin im kleinen Schlafzimmer ans Fenster. Endlich drehte sie sich um.

„Wenn Sie nicht weitersuchen wollen, würde ich gern hier einziehen. Ich bin ganz allein und kenne niemanden. Und irgendwie sind Sie mir echt sympathisch. Ist mein Job ein Problem? Ich arbeite bei der Mordkommission.“

„Uh“, sagte Karin, „das ist doch spannend, da können Sie mir immer live von den Fällen berichten. Ich würde mich freuen, wenn Sie hier einziehen. Müssen Sie nochmal drüber schlafen?“

Susanne schüttelte den Kopf.

„Na dann, ich habe unten einen Mietvertrag. Passt die Miete?“

„Natürlich. Und als Beamte kommt auch der Lohn immer pünktlich, also wird das keine Probleme geben.“

Sie hielt Karin die Hand entgegen und die schlug ein.

„Ich bin Susanne.“

„Ich bin Karin.“

Sie gingen nach unten, wo Susanne den Mietvertrag unterschrieb. Dann umarmten sich die beiden Frauen und es fühlte sich an, als hätten sie einen Pakt geschlossen. Susanne war nicht mehr allein und Karin hatte eine kleine Nebeneinnahme und Gesellschaft in dem großen Haus. Die frisch gebackene Vermieterin holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und schenkte zwei Gläser ein.

„Oh Mann, das wird lustig“, sagte Susanne, „wenn man hier schon zum Frühstück Sekt trinkt, werden wir viel Spaß haben. Danke, dass ich hier wohnen darf.“

„Prost. Wir trinken ja nicht jeden Morgen.“

Die beiden lachten und es fühlte sich gut an. Dann verabschiedete sich Susanne.

„Ich muss auch noch in die Kita. Wir können uns heute zum Abendessen treffen und alles weitere bereden. Einverstanden?“

„Gern, dann komme ich wieder hierher. Ansonsten finde ich mich noch nicht so gut zurecht. Bis später.“

Karin gab ihr einen Schlüssel, danach hüpfte Susanne fröhlich die Treppe hinunter und lief durch die Altstadt. Sie fühlte sich immer besser. Plötzlich endete die Straße und gab den Blick auf den Rhein frei. Susanne hatte in Potsdam auch viel Wasser um sich herum gehabt, aber der Rhein, breit und erhaben, machte großen Eindruck, wie er so dahinfloss. Es war kühl, aber Susanne setzte sich auf eine Bank und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Sie zog die Kapuze enger und schloss die Augen.

„Willkommen, neues Leben.“

Entschlossen nahm sie ihr Handy und wählte Phillips Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich.

„Huhu, Philli“, quiekte sie, „deine Susi ist dran.“

Susanne schwieg atemlos, bis Phillip endlich mit ihr sprach.

„Was soll das?“, fauchte sie in den Hörer. „Du blöder Arsch hast dir gleich eine neue Tussi ins Haus geholt oder was war das eben?“

„Du warst nie eine Tussi, Schatz, und das war eben eine nette Kollegin, ein Modell für die Kunst, also keine Panik.“

„Ja, klar. Und morgen ist Ostern. Aber ich will dir eines sagen: Ich bin hier angekommen und es geht mir gut. Ich habe eine Wohnung gefunden und werde übermorgen anfangen zu arbeiten.“

„Das ist doch schön. Willst du mich zu Weihnachten besuchen?“

„Nein, das will ich nicht. Ich denke, wir sollten uns trennen. Du kannst gern weiter mit deinen Modell-Häschen spielen und ich baue mir eine Zukunft auf. Ohne dich und deinen Egoismus.“

„Ach ja, ich bin egoistisch? Ich habe keine Scheiße gebaut und musste wegziehen, also halte mal schön den Ball flach. Wochenlang, monatelang habe ich deinen Stress ertragen und mich um dich gekümmert. Du bist undankbar und das nenne ich egoistisch.“

„Du hast dich um mich gekümmert? Wann denn? Du bist mir aus dem Weg gegangen und hast mich ignoriert, sonst hättest du ja Rückgrat haben und Stellung beziehen müssen.“

„Für mich ist dieses Gespräch jetzt beendet. Ruf wieder an, wenn du dich beruhigt hast.“

Phillip hatte einfach aufgelegt. Susanne sprang auf und wollte wütend das Handy in den Rhein werfen. Im letzten Moment griff eine Hand nach ihrem Arm.

„Nanana, das Handy kann nichts dafür.“

Susanne drehte sich um und sah in leuchtend blaue Augen, blonde Locken umrahmten das freundliche Gesicht. Der Mann passte eher nach Hawaii als in das winterliche Eltville. Er trug Jeans und einen dunkelgrünen Winterparka.

Sie wollte sich bedanken, aber der Mann war mit schnellen Schritten weitergegangen, weg von der Altstadt. Susanne atmete tief durch und bedankte sich innerlich, denn ohne Handy wäre sie wirklich aufgeschmissen gewesen, zumal sie sich auch noch bei ihrem Chef melden musste. Sie verfluchte Phillip und lief zu ihrer Ferienwohnung, um Pläne zu machen, was sie für ihre neue Wohnung bräuchte.

„Ich werde so schnell es geht umziehen, dann bin ich Weihnachten nicht allein.“

5

Lia lag im Bett und wollte gerade aufstehen, als plötzliche Kopfschmerzen sie zurück ins Kissen sinken ließen. Ihr war gestern Abend schon nicht sehr wohl gewesen, aber sie hatte es auf das Wetter geschoben. In letzter Zeit waren die Anfälle häufiger gekommen, dabei hatte ihr Arzt nichts einzuwenden gehabt, dass sie über Weihnachten und Neujahr zu ihrer Schwester nach Italien fahren wollte.

„Oh Mann“, stöhnte sie.

Sie wollte ausschlafen, dann eine Fahrkarte kaufen und sich zum Kaffee mit Karin treffen. Seit heute hatte sie Urlaub. Am Schrank stand der halb gepackte Koffer. Die Kinder hatten ihr gestern alle noch ein selbstgemaltes Bild geschenkt. Jetzt versuchte Lia sich aufzusetzen, doch der Schmerz pochte hinter ihrer Stirn und alles drehte sich vor ihren Augen. Die Aura aus Regenbogenfarben, die sich vor ihrem linken Auge aufbaute, war immer ein Zeichen, dass ein großer Anfall bevorstand. Der Lichtkreis wurde größer und intensiver, breitete sich über das gesamte Sichtfeld auf der linken Seite aus. Nervös tastete sie nach ihrem Handy.

Bei Karin nahm niemand ab. Sie war auf der Arbeit und hatte ihr Handy sicher nicht eingeschaltet. Wo lagen die Tabletten? Im Bad. Dorthin zu gehen wäre jetzt viel zu gefährlich, denn bei einem Anfall konnte sie jederzeit krampfend zusammenbrechen. Angst breitete sich in ihrem Körper aus, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie lauschte ihren Atemzügen, die gleichmäßig waren. Ihr Herz klopfte schnell.

Lia schickte Karin eine Sprachnachricht, dann legte sie das Handy weg und schloss die Augen in der Hoffnung, der Anfall möge schnell vorübergehen. So heftig war es lange nicht mehr gewesen. Einen Moment später drehte sich alles, der Schmerz im Kopf hielt an und jetzt verhärtete sich ihr Nacken. Die Panik wollte sich ihren Weg suchen, aber sie kämpfte dagegen an.

Endlich klingelte das Telefon und Karin war dran.

„Lia! Was ist los? Ich habe Bescheid gesagt und bin gleich bei dir. Halte durch! Soll ich den Arzt rufen?“

„Nein“, murmelte Lia. „Danke, dass du kommst.“

Dann legte sie auf und lag weiter ganz still. Karin hatte einen Schlüssel und stand zwanzig Minuten später im Schlafzimmer. Sie setzte sich zu Lia ans Bett.

„Der Anfall ist vorbei, aber ich bin sehr schwach und müde. Das war dieses Mal total anstrengend. Schön, dass du hier bist.“

„Mach die Augen zu und ruh dich aus. Brauchst du etwas?“

„Die Tabletten aus dem Bad.“

Karin lief hinaus und kam mit einer Schachtel zurück, in der mehrere Medikamente standen. Lia zeigte auf eine blaue Dose mit weißem Deckel. Karin holte ein Glas Wasser aus der Küche und hielt den Kopf ihrer Freundin, während sie zwei kleine weiße Pillen schluckte. Dann sank Lia zurück ins Kissen und atmete tief ein und aus.

Karin drehte die Pillen-Dose in den Händen hin und her.

„Sind das die Dinger, die es nicht mehr gibt?“

„Nein, nein, mach dir keine Gedanken, der Doc besorgt sie mir schon. Jetzt ist mir besser, ich schlafe ein bisschen. Kannst du hierbleiben? Tut mir leid, dass wir nicht Kaffee trinken können.“

Karin strich ihr über das Haar und rückte die Decke zurecht, dann setzte sie sich in den Sessel ans Fenster und wachte über Lias Schlaf. Ihre Gedanken gingen spazieren. Wie es wohl werden würde mit der neuen Mitbewohnerin? Hatte sie sich vorschnell entschieden? Aber sie hatte ein gutes Gefühl gehabt und diese Susanne war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen.

Karins Blick fiel auf die Medikamente. Sie nahm sie vom Nachttisch zu sich und stellte die einzelnen Dosen und Packungen auf das Fensterbrett. Es gab etwas gegen Durchfall, auch Hustentropfen erkannte sie, dazu Ibuprofen, was wohl jeder in seiner Hausapotheke hatte. Die Pillen, die gegen Lias Anfälle helfen sollten, waren in den blauen Dosen. Es befand sich keine Beschriftung darauf und Karin schüttelte den Kopf.

 

„Wenn das nicht von einem Arzt käme, würde man denken, das ist irgendetwas Illegales. Mir würde das Angst machen, unbeschriftete Pillen zu schlucken. Gott sei Dank helfen die.“

Oder auch nicht? Eigentlich hatte Lia erklärt, dass diese Medikamente den Anfällen vorbeugen sollten. Und dann schluckte Lia sie nach einem Anfall? Das war unlogisch. Karin nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, aber so, dass es Lia nicht mitbekam. Sie wollte ihr keine Angst machen und ihr Verhältnis zum Arzt sollte nicht erschüttert werden. Wenn man so krank war wie die Freundin, dann war das Vertrauen zum Arzt sehr wichtig. Und Lia vertraute Dr. Miltzer total. Aber Karin glaubte immer noch, dass der Arzt Lia besonders gut behandelte, weil er in sie verknallt war.

Kein Wunder, dachte sie, Lia ist ja auch eine ganz besondere Frau. Sie hatten sich sofort gemocht und Karin wusste beim ersten Gespräch, dass sie Freundinnen werden würden. Als sie erfuhr, wie krank Lia war und ist, kümmerte sie sich öfter und sehr gern um sie. Sie hatten ausgemacht, dass Karin im Notfall der Ansprechpartner ist.

„Ob der Arzt wirklich so unspektakulär aussieht, wie Lia immer sagt?“

Sie nahm ihr Handy und gab seinen Namen in die Suchmaschine ein. Es ploppten einige Beiträge auf, aber nirgends gab es ein Bild von Dr. Gero Miltzer, nicht mal auf der Homepage seiner Praxis. Karin seufzte.

„Schade, ich hätte ihn mir gern angesehen.“

Zwei Stunden später bewegte sich Lia und hob den Kopf.

„He! Danke, dass du noch da bist.“

Karin setzte sich wieder ans Bett ihrer Freundin.

„Wie geht es dir jetzt?“

„Wie lange habe ich geschlafen?“

„Über zwei Stunden. Magst du etwas essen oder trinken?“

„Ich möchte aufstehen und aufs Klo. Dann sehen wir weiter.“

Lia kam vorsichtig hoch und um sie herum blieb alles ruhig. Sie setzte sich hin, schwang die endlos langen Beine aus dem Bett und hielt sich beim Aufstehen an Karin fest. Dann stand sie aufrecht, wackelte ein paarmal mit dem Kopf und nickte.

„Es ist wieder gut. Kam doch nicht so heftig, wie ich dachte.“

Lia ging ins Bad und Karin in die Küche, wo sie zwei Scheiben Toast in den Toaster schob. Dann stellte sie Butter und Marmelade auf den Tisch und nahm Teller und Messer aus dem Schrank. Als Lia, noch im Nachthemd, in die Küche kam, lächelte sie.

„Ach Karin, wenn ich dich nicht hätte. Danke für deine Hilfe.“

Sie aßen und tranken Tee, dann grinste Karin.

„Ich wollte mit dir Kaffee trinken, weil ich eine Neuigkeit habe.“

Lia war ganz Ohr.

„Ich habe gestern bereits eine Mitbewohnerin gefunden.“

Jetzt berichtete Karin ausführlich und sah dabei die Freude in Lias Augen.

„Das ist toll! Siehst du, und so schnell!“

„Das dachte ich auch, aber es war wie Schicksal, dass Susanne beim Bäcker saß, ausgerechnet dort, wo ich die Anzeige aufhängen wollte. Wir sind uns rasch einig geworden.“

„Wann lerne ich sie mal kennen? Wann zieht sie ein?“

„Ich habe ihr einen Schlüssel gegeben. Sie fängt morgen an zu arbeiten, aber ich denke, du bist schnell wieder so fit, dass du zu mir kommen kannst, oder? Dann stelle ich sie dir vor und wir essen etwas Kleines zusammen.“

„Gerne, Karin, ich bin so stolz auf dich. Siehst du, wie du dein Leben selbst in die Hand nehmen kannst?“

Karins Blick wurde bei Lias Worten weich.

„Wenn du mir nicht ständig Dampf gemacht hättest, würde ich immer noch in der großen Hütte sitzen und Trübsal blasen. Aber jetzt denke ich, dieser Mann hatte mich einfach nicht verdient und ich bin besser dran ohne ihn. Ich habe einen tollen Job, die beste Freundin der Welt und auch noch eine interessante Mitbewohnerin.“

„So seid ihr Weihnachten nicht allein.“

Lia wurde mit einem Mal sehr traurig.

„In diesem Zustand kann ich unmöglich so weit reisen.“

Tränen traten ihr in die Augen und Karin legte ihr eine Hand auf den Arm.

„Meinst du? Du hattest dich doch so gefreut.“

„Ich muss morgen Dr. Miltzer fragen. Aber es nützt ja nichts, wenn ich auf der langen Fahrt einen Anfall bekomme.“

„Wenn das nicht klappt, dann feiern wir Weihnachten gemeinsam.“

„Danke, das ist lieb. Aber vielleicht erlaubt er mir ja auch zu fahren.“

„Ich drücke dir die Daumen.“

Die beiden saßen bis zum Abend zusammen. Karin hatte mit Susanne telefoniert und machte sich dann auf den Weg nach Hause, wo die neue Mitbewohnerin schon wartete.