Freundlicher Tod

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Z serii: Eltville-Thriller #4
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6

Die Zeit nach Freds Tod war für Alexander schwer zu ertragen, aber er versuchte sich mit seinen Plänen für das neue Leben abzulenken. In zwei Tagen wollte er sich mit dem Vermieter der kleinen Wohnung treffen und weitere zwei Tage später hatte er ein Vorstellungsgespräch in der Apotheke in Geisenheim, mit deren Besitzer sein Vater befreundet war. Endlich konnte sein neuer Lebensabschnitt beginnen.

Um sich zu belohnen und so lange wie möglich nicht nach Hause zu müssen, streunte Alexander wie immer durch die Stadt und am Rhein entlang. Er kaufte sich kurz vor Ladenschluss beim Bäcker etwas zu essen. Das Brötchen war zäh und trocken, sicherlich hatte es schon den ganzen Tag im offenen Brotkorb gelegen. Lustlos kaute er darauf herum. Alexander war es egal und er trank einen Schluck Wasser aus der Flasche in seinem Rucksack.

Es war schon fast zehn Uhr abends, als er vor dem Schaufenster eines Babyausstatters jemanden am Boden knien sah. Er blieb stehen und schaute genauer hin. Die Person kam ihm bekannt vor und er trat näher. Niemand war weit und breit zu sehen, bei dem ungemütlichen Wetter mit Regen und Wind war kein Mensch mehr unterwegs. Hinter den Fenstern brannte freundliches Licht, auch das Schaufenster des Ladens war hell erleuchtet.

„Birte?“, fragte er sanft und die Person zuckte zusammen.

Hastig wollte sie aufstehen und weglaufen, aber sie taumelte, fiel rückwärts und blieb auf dem Boden sitzen.

„Birte! Wir sind uns Silvester begegnet. Erinnerst du dich? Ich bin Alexander.“

„Was willst du?“, lallte die Angesprochene. „Geh weg!“

Mühsam raffte sie sich auf und es gelang ihr zu stehen. Sie hielt sich an der Straßenlaterne fest und weinte immer noch herzzerreißend. Alexander tat sie leid, denn sicher weinte sie um ihr Baby, das sie abgetrieben hatte.

Er ging einen Schritt auf sie zu und legte einen Arm um sie. Eine Alkoholfahne wehte ihm entgegen und Alexander hielt die Luft an. Egal, dachte er, ich muss ihr helfen.

„Komm, wir gehen ein Stück und du erzählst mir die ganze Geschichte.“

Am Rhein angekommen hatte es aufgehört zu regnen. Alexander wischte die Tropfen von der Bank und sie setzten sich. Birte weinte noch immer und nun brach alles aus ihr heraus.

„Er hieß Gunnar und sah super gut aus. Seine langen blonden Haare hatte er immer mit einem Band zusammengebunden. Ich hatte ihn schon ein paar Mal in der Bar gesehen. Eines Abends kam er auf mich zu und stellte ein Glas Sekt vor mich hin.“

„Das klingt aber nett.“

Birte schluchzte.

„Ja, natürlich klingt das nett. Und dann hat er mich geküsst und wir sind zusammen in meine Wohnung gefahren. Er hat sich so gut angefühlt und sein Duft war unschlagbar. Ich wollte ihn unbedingt und dachte, wir könnten eine Beziehung haben.“

„Aber?“, fragte Alexander mitfühlend und legte wieder den Arm um die schmalen Schultern der Frau.

„Am nächsten Morgen war er weg. Einfach so. Ich wollte nicht wahrhaben, dass es nur Spaß für eine Nacht war. Dieser Arsch hat sich einfach verpisst.“

Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert und mit der aufsteigenden Wut straffte sich ihr Körper. Sie sah Alexander an und stand plötzlich auf. Am Wegrand zog sie sich die Jacke aus, ließ sie auf den Boden fallen und gab den Blick auf eine aufregende Figur frei.

„Bin ich so hässlich? Kann man sich in eine wie mich nicht verlieben?“

Alexander trat zu ihr, hob die Jacke auf und legte diese um Birtes bebende Schultern. Dann zog er die junge Frau zurück auf die Bank.

„Du bist wunderschön!“

Sie schüttelte resigniert den Kopf und sackte wieder in sich zusammen. Der Tränenstrom lief unermüdlich über ihre Wangen. Alexander reichte ihr ein Taschentuch und schwieg.

„Gunnar und ich sind uns ein paar Tage später wieder begegnet und er hat so getan, als würde er mich nicht kennen. Es war so erniedrigend. Dann hat er eine Blondine abgeschleppt. Ich bin heim und habe mir die Augen aus dem Kopf geheult. Aber das war alles noch nicht das Schlimmste.“

Sie schwieg einen Moment.

Alexander flüsterte: „Du warst schwanger.“

„Ja! Ja, verdammt, ich war schwanger. Das habe ich erst gar nicht wahrhaben wollen, aber dann dachte ich, es ist die Chance, Gunnar an mich zu binden. Ich war so blind und blöd.“

„Was ist passiert?“

„Ich habe ihn in der Bar gefragt, ob wir mal kurz reden könnten und er kam mit vor die Tür. Als ich ihm gesagt habe, dass wir ein Kind erwarten, ist er ganz blass geworden, aber plötzlich begann er mich zu beschimpfen. Schlampe, Nutte, Hure … ach, es waren viele böse Worte und ich habe ihn nicht mehr wiedererkannt. Ich habe ihm gesagt, dass ich seinen Frust verstehe wegen der Überraschung, aber wir könnten uns ja ein anderes Mal treffen und unsere Zukunft als Familie planen. Da hat er mich geschlagen. Er hat mich sogar in den Bauch geboxt und gegrinst. Es tat weh, nicht nur körperlich, wenn du verstehst.“

„So ein mieses Schwein!“, rief Alexander und war ehrlich empört.

„Ja, er war ein Schwein. Drei Tage später stand er vor meiner Tür. Ich dachte, jetzt hat er begriffen, dass wir Eltern werden. Aber ich hatte mich geirrt. Er hat mir fünftausend Euro angeboten, wenn ich mein Kind abtreiben lasse.“

„Du hast es angenommen?“

„Ach, was denkst du denn? Nein. Ich wollte es nicht, aber er hat es auf den Tisch geworfen und gesagt: Lass es wegmachen, sonst wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Es lag tagelang auf dem Tisch und ich habe mich nicht getraut es anzufassen. Ich hätte es gut gebrauchen können, denn ich war schwanger, arbeitslos und hatte schon zwei Monate keine Miete bezahlt. Und dann …“

Wieder schüttelte sie ein Weinkrampf und sie konnte nicht mehr weiterreden.

„Du hast es angenommen und abgetrieben.“

Nach endlosen Minuten voller Tränen hob sie den Kopf und sah Alexander an. Ihr Blick war auf einmal vollkommen klar.

„Ja, ich habe das Geld genommen, die Miete bezahlt und mein Kind getötet. Ich bin eine Mörderin. Auf meinen Schultern lastet die Schuld und sie wird nie wieder weggehen.“

„Birte, es tut mir so leid, ich wünschte, ich könnte etwas sagen, was dich tröstet.“

Birte lehnte sich an Alexander und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass er der einzige Mensch war, dem sie vertrauen konnte.

Leise flüsterte sie: „Ich wünschte, ich wäre auch tot. Dann würde meine Seele zur Ruhe kommen.“

In diesem Moment wusste Alexander, dass für ihn hier die Chance war, seinen eigenen Frieden zu finden.

„Lass uns ein Stück gehen, Birte. Wir können uns ruhig ab und zu mal treffen und reden. Ich weiß, wie du dich fühlst, denn ich habe vor kurzem meine kleine Schwester verloren. Sie lag im Koma und starb an dem Tag, als meine Mutter mir die Verantwortung übertragen hatte. Ich fühle mich schuldig an ihrem Tod, obwohl ich gar nichts dafür kann.“

„Ja, Alexander, du verstehst mich. Danke, dass du mir zugehört hast. Ich fühle mich schuldig, wenn ich morgens die Augen öffne und ich fühle mich schuldig, wenn ich sie abends zumache. Erst wenn ich tot bin, werde ich frei sein. Das mit deiner Schwester tut mir leid.“

Sie schlenderten nun schweigend am Rhein entlang Richtung Altstadt. Birte hatte Alexanders Hand genommen und ihre Tränen waren versiegt. Irgendwann waren sie in der Nähe des Bahnhofs angekommen und Birte erklärte, dass sie hier in der Nachbarschaft wohnte. In dem Moment rauschte lautstark ein Güterzug vorbei und Alexander spürte die Erschütterung im ganzen Körper.

„Hier wohnst du? Wie hältst du das aus?“

„Man gewöhnt sich an alles, aber es ist schon sehr laut. Nachts fahren nicht so viele Züge, doch am Tage sitze ich manchmal hier und denke mir Reiseziele aus. Ich liebe Zugfahren. Du auch?“

„Nein, aber ich sitze gerne auf dem Bahnsteig und beobachte die Leute“, log Alexander, der einen Plan hatte.

„Komm, lass uns hinsetzen und die Waggons zählen“, rief Birte mit neuem Elan.

„Mitten in der Nacht?“

„Ja, komm, egal. Wir können auch noch ein bisschen reden. Einverstanden?“

Alexander nickte und war froh, dass seine Begleitung sich so bereitwillig in seine Hände begab. Sie fanden eine trockene Bank unter einem Vordach. Die Beleuchtung war kaputt und so saßen sie schweigend nebeneinander in völliger Dunkelheit. Birte lehnte an Alexander und er roch ihre Alkoholfahne, weil hier kein Wind war, der sie davontrug. Es muss schnell gehen, dachte er, dann tut es auch nicht weh. Als er ganz in der Ferne einen Zug kommen hörte, trat er nach vorne an den Bahnsteig und sah zu Birte.

„Komm hierher!“, forderte er sie auf. „Wir lassen uns den Fahrtwind um die Nase fliegen. Ich liebe es, wenn man keine Luft bekommt.“

Birte war zwar ein wenig ängstlich, aber als Alexander versprach, sie festzuhalten, vertraute sie ihm total. Nun schlang sie die Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Er musste fast würgen, aber er küsste sie zurück. Es würde ja das letzte Mal sein, dass sie Zärtlichkeiten spüren durfte.

„Tu es“, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf und er schaute zur Seite.

Alexander sah dort jemanden stehen, der ihm bekannt vorkam, aber er konnte die Erscheinung nicht einordnen.

Der Güterzug, der endlos lang war, raste in der schwarzen Nacht heran. Niemand konnte die beiden Figuren sehen, die viel zu nah an den Gleisen standen. Dann ging alles ganz schnell. Ehe Birte wusste, wie ihr geschah, hatte Alexander sie vor den einfahrenden Zug gestoßen. Er hörte bei dem Lärm, den der Zug machte, nicht einmal den Aufprall, aber er konnte sich den dumpfen Schlag gut vorstellen.

 

Mit einem zufriedenen Lächeln verließ er den Bahnhof, nachdem wieder absolute Stille herrschte. Alexander fühlte sich gut, er wusste, dass er Birte von ihrer Schuld erlöst hatte und war sich sicher, dass auch er nun Frieden finden würde.

„Gut gemacht“, flüsterte die Stimme.

Jetzt erkannte Alexander ihn: Es war Stefan, den er in der Schule sehr verehrt hatte. Der Junge, der ihm ähnlich sah, war sein großes Vorbild gewesen. Wann immer jemand in Not war, hatte sich Stefan eingemischt und die Welt wieder gerade gerückt.

„Ja, ich weiß“, sagte er in die schwarze Nacht, „danke, dass du mit mir gehst.“

7

Der Lokführer rieb sich die müden Augen. Was war das? Hatte dort jemand gestanden? War etwas passiert? Was war das für ein Geräusch gewesen? Achim war müde und eine Erkältung hatte ihn gepackt. Er hustete schon den ganzen Tag und wäre gerne zuhause geblieben, aber es waren schon viele Kollegen krank. Als er niesen musste, hielt er sich beide Hände vor das Gesicht und schüttelte sich. Plötzlich nahm er im Licht der Lokomotive eine Bewegung wahr.

Zuerst dachte er, er hätte sich das alles nur eingebildet, aber das mulmige Gefühl ließ ihm keine Ruhe. Eine halbe Stunde später rief er den Fahrdienstleiter an, während er in Wiesbaden auf die Ablösung wartete.

„Hier ist Achim Pschingel vom Zug Nummer 56712, ich weiß es nicht genau, aber irgendwie hatte ich vorhin in Eltville das Gefühl, dass jemand direkt an den Gleisen stand und dann ...“

„Was heißt das genau?“

„Ich war mir nicht sicher. Ich habe jetzt Feierabend.“

„Wir kümmern uns. Bleiben Sie ruhig, vielleicht war es ein Tier.“

„Danke, Mann, es war ein Scheißgefühl. Oh Mann, da war ganz sicher etwas.“

Weinend sackte er zusammen.

Die Frau in der Fahrdienstleitung veranlasste die Sperrung der Bahnstrecke, nachdem sie die Bundespolizei informiert hatte. Die große Maschinerie lief an.

Es war weit nach Mitternacht und der diensthabende Polizist im Polizeipräsidium Eltville saß müde am Schreibtisch, als der Staatsanwalt anrief. Dr. Rosenschuh erklärte kurz, was passiert war, dann schnaufte er.

„Die Bundespolizei ist zuständig, aber es gibt einen Großeinsatz in Frankfurt, da sind nicht genug Leute abkömmlich. Holen Sie Frau Bonnét und die beiden anderen aus dem Bett. Es kann sein, dass wir einen Fall haben. Der Lokführer ist traumatisiert, aber er besteht darauf, dass da einer vor seinen Zug geschubst wurde. Die drei sollen sich beeilen und am Bahnhof melden. Ich bin vor Ort.“

Eine halbe Stunde später betraten Michael und Benedikt den Bahnsteig, wo die Kollegen der Spurensicherung eben dabei waren, Lampen aufzubauen und um den Bahnhof herum sperrten die Kollegen von der Bundespolizei das Gebiet weiträumig ab. Männer in weißen Anzügen stellten kleine Schilder mit Nummern neben die Einzelteile aus menschlichem Körper. Benedikt musste schlucken, so unangenehm war ihm der Gedanke, dass dort ein Mensch in Stücke zerrissen worden war.

Michael trat zu Jürgen, der bei einem Mann in Schutzkleidung stand, und begrüßte ihn. Auch ihn hatte man geweckt. Bianca war ins Büro gefahren.

„Warum müssen wir denn bei Selbstmord anrücken?“, fragte Jürgen Michael.

„Das sagt der Staatsanwalt! Der Lokführer wurde schon befragt und hatte ein merkwürdiges Gefühl. Er ist fertig mit der Welt, aber seine Aussage war undurchsichtig. Er hat etwas gestammelt von wegen Stoß und zwei Leute. Irgendwie ist ihm das Bild, dass er gesehen hat, erst später bewusst geworden. Also kann es sein, dass es ein Verbrechen war.“

Jürgen runzelte die Stirn und fragte: „Aber wenn es bei der Bahn passiert ist, sind wir doch gar nicht zuständig? Es ist jedenfalls eine junge Frau und das eine Stück von ihr lag im Schatten des Bahnsteigs, darum haben die Lokführer, die danach noch durchgefahren sind, nichts gesehen. Sie war außerdem schwarz gekleidet. Sie ist wohl durchtrennt worden. Gut, dass es nur drei Züge waren.“

„Die von der Bundespolizei haben gerade viel Stress, denn es ist irgendwas los in Frankfurt. Großeinsatz. Darum hat der Staatsanwalt uns hier antanzen lassen.“

Jürgen verschwand mit dem Mann im weißen Schutzanzug. Michael trat zu Benedikt, der sich gegen die Wand gelehnt hatte.

„Das wäre wirklich Mist, wenn die einer gestoßen hat. Aber mit wem gehe ich so nahe an die Bahnsteigkante?“, fragte Benedikt leise.

„Es muss einer sein, dem ich vertraue.“

„Du sagst es. Das hier ist genauso wie bei dem alten Drekelt. Er muss auch jemanden ins Haus gelassen haben, dem er vertraut hat.“

„Du willst aber jetzt nicht sagen, dass die beiden Fälle zusammenhängen?“

Benedikt sah Michael offen an.

„Wer weiß? Nach dem letzten Fall denke ich immer: Es ist alles möglich.“

„Es kann ja auch sein, dass sie jemand gegen ihren Willen an den Rand gezerrt hat.“

„Möglich, ich glaube aber nicht, dass wir hier ermitteln dürfen, die lassen sich das doch nicht aus den Händen nehmen.“

Bianca fuhr am Nachmittag mit Michael ins Krankenhaus zum Lokführer. Der Staatsanwalt hatte durchgesetzt, dass die Kommissare die Befragung durchführen konnten und der Arzt hatte mit grimmigem Blick zugestimmt.

„Aber bitte nur kurz und mit viel Einfühlungsvermögen, der Mann ist hochgradig traumatisiert, weil die Geschichte erst langsam in seinem Kopf ankommt.“

Achim Pschingel lag blass in seinem Kissen und starrte zur Decke. Draußen zog die Dunkelheit herauf und eine kleine Lampe warf grelles Licht auf das Kopfende des Bettes. Er riss sich von dem unsichtbaren Punkt an der Zimmerdecke los und sah in Biancas warme Augen. Sie setzte sich auf die Bettkante und Michael stellte sich ans Fenster.

„Herr Pschingel, ich bin Kommissarin Bonnét, das ist mein Kollege Kommissar Verskoff. Wie geht es Ihnen? Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Ich bin mir sicher“, platzte es aus dem Mann heraus, „da standen zwei Leute. Es ging alles so schnell, ich habe das erst gar nicht registriert, weil ich so erkältet bin. Nach dem Niesen war die Bewegung da.“

Er hatte sich aufgesetzt und schob nun seine Hände abrupt nach vorne, als wolle er jemanden von sich stoßen. Diese Bewegung wiederholte er etwa zehnmal, dann sank sein Kopf zurück auf das Kissen.

„Wie hell war es denn? Brannte eine Lampe auf dem Bahnsteig?“, fragte Michael.

„Da standen zwei Leute, ich bin mir zu hundert Prozent sicher. Und dann war da so eine Bewegung.“

Bianca legte die Hand auf den Arm des verwirrten Mannes.

Er sah sie wieder an und sagte: „Es ging so schnell. Da standen zwei Leute.“

„Herr Pschingel, ich weiß, wie furchtbar das für Sie ist. Können Sie sich erinnern, ob der Bahnsteig beleuchtet war?“

In diesem Moment schien der Lokführer wie aus einem Traum zu erwachen und er begann zu weinen.

„Ich habe sie überfahren.“

„Woher wissen Sie, dass es eine Frau ist?“

Bianca lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Achim Pschingel legte die Hände vor das Gesicht.

„Wie kann ein Mensch so etwas tun? Man stößt doch einen anderen nicht vor einen Zug! Frau Kommissarin, ich habe die beiden wirklich nur ganz kurz gesehen und ich habe nicht bemerkt, dass ich sie erwischt habe. Da standen zwei Leute, glauben Sie mir. Da war diese Bewegung.“

Er ahmte den Stoß erneut nach, dieses Mal im Liegen. Seine Handflächen zitterten, als er sie in die Luft stieß. Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln.

„Ich habe das erst viel später begriffen! Erst viel später, zu spät! Ich hätte doch gebremst, glauben Sie mir!“

Bianca entgegnete sanft: „Das wissen wir, Herr Pschingel. Der, der die Frau gestoßen hat, der ist schuldig. Sie haben alles richtig gemacht. Sie haben doch nur gearbeitet. Eine Frage habe ich noch: Können Sie sich an Einzelheiten der Personen erinnern?“

Achim schüttelte den Kopf und flüsterte noch einmal, dass es so schnell gegangen war. Danach schloss er die Augen und der Arzt betrat das Krankenzimmer. Er schickte die Besucher hinaus. Bianca bedankte sich, dass sie den armen Mann befragen durften und verließ mit Michael das Krankenhaus.

8

Alexander stand mit seinem neuen Vermieter in der kleinen Wohnung und lächelte. Der Vertrag war unterschrieben, sein neues Leben startete jetzt. Der Vermieter hatte ihm sofort den Schlüssel übergeben und gesagt, er könne heute noch einziehen. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und dann war Alexander alleine.

Er sah sich noch einmal genauer um. Rechts neben der Eingangstür befand sich ein kleines Duschbad, die hellblauen Fliesen sahen stumpf aus und das winzige Fenster hatte einen schimmeligen Rand. Er öffnete es und sah hinaus in den Garten hinter dem Haus. Dort gab es drei kahle Obstbäume und einen ungepflegten Rasen. Vielleicht war es dort im Sommer schöner. Alexander atmete die kühle Luft ein und verließ das Bad.

Gegenüber betrat er die Küche, die keinen Platz für einen Tisch bot, es würde gerade mal für zwei Schrankreihen reichen, links gab es eine alte Spüle, aber die würde er rauswerfen, denn sie sah ekelhaft aus. Auch hier roch es unangenehm, also riss Alexander das Küchenfenster auf und sofort zog es fürchterlich. Er sah unten den jungen Mann, den er schon kennenlernen durfte, aus dem Auto steigen und winkte.

„Ah, du hast die Wohnung bekommen!“, rief Benedikt nach oben. „Warte, ich komme schnell mal rein.“

Eine Minute später stand der Kommissar in der Wohnung von Alexander und schüttelte den Kopf.

„Mann, die ist echt noch hässlicher als meine Bude. Aber egal, oder? Hier hast du deine Ruhe.“

„Ja“, erwiderte Alexander, „hier kann ich tun und lassen, was ich will. Außerdem muss ich nicht ständig meinen Eltern und den Erinnerungen begegnen. Ich werde nachher gleich Farbe holen und streichen, dann sieht es sicher wieder besser aus.“

„Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid! Ich muss oft arbeiten, aber manchmal habe ich auch Zeit.“

„Was machst du denn beruflich?“

„Ich bin Polizist.“

Alexander schluckte, aber er blieb ruhig. Er nahm sich vor, keinen großen Kontakt aufkommen zu lassen, denn diese Polizisten waren immer sehr neugierig.

„Ich habe schon Hilfe von meinem Vater“, log er. „Aber wenn etwas ist, melde ich mich. Danke.“

Benedikt spürte, dass der Mann ihn loswerden wollte und verließ die Wohnung. Der ist schon ein bisschen merkwürdig, dachte er.

Alexander setzte die Besichtigung fort und kam im Wohn- und Schlafzimmer an. Es war geräumig und hell und gefiel ihm gut. Auch hier öffnete er das Fenster, das auf die Straße hinausschaute. Eine nackte Glühbirne baumelte an der Decke und schwang im Durchzug sanft hin und her. Er knipste und es wurde hell. Strom, Wasser, alles funktioniert, dachte Alexander und schloss nun alle Fenster wieder. Er nahm den Zollstock, einen Stift und einen Block aus dem Rucksack und notierte sich die Maße seiner neuen Wohnung. Zufrieden verließ er sie eine Stunde später und fuhr in den Baumarkt, um einzukaufen.

Am Abend sah die Wohnung wie neu aus. Seine Mutter war am Nachmittag gekommen, um zu putzen, aber er war froh, als sie wieder fort war, denn wie immer bedrängte sie ihn mit Fragen.

Beim Abschied sagte sie: „Sarah würde sich auch für dich freuen.“

Sofort krampfte sich Alexanders Magen zusammen und eine eisige Faust griff nach seinem Herzen. Da war es wieder, dieses Gefühl von Schuld und Ohnmacht. Die bittere Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht: Er hatte zwar Birte erlöst, aber er selbst litt unter der Last, die seine Seele zerdrückte. Sarah war tot, Fred war tot, Birte war tot – und er hatte sie getötet.

Kaum hatte Dörte Retzanski die Tür hinter sich geschlossen, sank er auf den kalten Boden des Wohnzimmers und weinte. Als die Dunkelheit durch die Fenster hereinkroch, stand er auf und machte sich auf den Weg zum Rhein, wo er sich auf eine Bank setzte, bis er jämmerlich fror. Endlich lief er zu seinem Elternhaus und schlich leise die Treppen hinauf. Er warf sich auf das Bett und schlief bis zum kommenden Morgen.

Seine Mutter klopfte leise und fragte, ob er mit ihr frühstücken wollte. Alexander nickte und fragte, ob der Vater auch da war. Daraufhin schüttelte Dörte den Kopf und ging wieder nach unten. Alexander kroch aus dem Bett ins Bad, ließ die Dusche laufen und zog sich aus. Unter dem heißen Wasserstrahl begann er sich besser zu fühlen. Er wischte mit dem Handtuch über den beschlagenen Spiegel und sah in sein Gesicht, das erschöpft aussah. Dunkle Augenringe ließen seinen Blick düster erscheinen.

 

„Du musst das alles vergessen“, sagte er leise. „Es bringt ja nichts, sich ewig Vorwürfe zu machen. Die drei haben Hilfe gebraucht und ich habe ihnen geholfen. Schluss, aus, Ende.“

Das Lächeln seines Spiegelbildes sah aus wie das eines Fremden. Er blickte in eine Fratze. Beim Frühstück saß er schweigend seiner Mutter gegenüber, die fröhlich vor sich hin plauderte.

„Ich bin schon gespannt, ob du morgen die Stelle bekommst, aber ich denke, das wird klappen. Wie weit bist du denn mit dem Streichen? Es war ja gestern sehr spät.“

„Ich bin fertig mit dem Streichen, Mama. Es ist wirklich schön geworden, aber ich war total erschossen, als ich kam. Bin nur noch in mein Bett gefallen.“

„Das glaube ich dir. Weißt du, Alexander, auch wenn du schon erwachsen bist, liege ich immer noch wach, bis du nach Hause kommst. Das ist bei einer Mutter sicher normal.“

„Das ist bald vorbei, Mama, wenn ich in meiner eigenen Wohnung lebe, kannst du endlich gut schlafen. Mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt los und meine Sachen rüberfahren. Ich werde als erstes das Bett auseinanderschrauben und dann heute schon mal dort schlafen.“

„Kann ich dir helfen? Einpacken? Essen machen?“

Alexander lächelte und küsste Dörte im Hinausgehen auf die Wange.

„Ich schaffe das und melde mich, wenn ich Hilfe brauche.“

Die Mutter griff in die Hosentasche und legte eine kleine Rolle Geldscheine in Alexanders Hand. Er bedankte sich und lief eilig aus dem Zimmer. Es war ihm alles zu viel: Die Fürsorge, die Fragen, die ständigen Ermahnungen. Rasch schraubte er das Bett auseinander und trug die Sachen ins Auto. Sein Vater hatte ihm den Lieferwagen hingestellt. Es war noch Platz für das Bettzeug und einige Kartons mit dem Nötigsten und so transportierte er die erste Ladung ans andere Ende der Stadt. Mit den Möbeln, die er nach und nach hinschaffte, wurde die Wohnung freundlicher und als er am Abend den Fernseher angeschlossen hatte, überkam Alexander ein Gefühl der Zufriedenheit.

Er setzte sich auf das Bett, aß die bestellte Pizza und schaute sich um. Das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer war fertig eingerichtet, morgen wollte er noch ein paar Grünpflanzen mitbringen und seine Bücher, aber mehr Platz war nicht. Am Fenster stand nun ein kleiner Tisch, das Bett befand sich an der Wand gegenüber. Ein paar kleine Schränke waren mit seiner Kleidung gefüllt. Daneben war noch Platz für den hohen, schmalen Schrank, den er im Baumarkt gesehen hatte. Den würde er morgen nach dem Vorstellungsgespräch kaufen. Statt auf einer Couch musste er auf dem Bett sitzen, aber das machte ihm nichts aus. Er war froh, nun sein eigener Herr zu sein.

Das Vorstellungsgespräch verlief positiv und um zehn Uhr hatte er einen Job in der Apotheke in Geisenheim.

„Ach Junge, ich kenne deinen Vater schon so lange, da tue ich ihm gerne den Gefallen und stelle dich ein. Es ist ja schlimm genug, dass ihr Sarah verloren habt. Das tut mir immer noch sehr leid. Herzlich willkommen in unserer Apotheke.“

Der Mann hielt Alexander die Hand hin und der schlug ein. Sein Lächeln war bei der Erwähnung von Sarah eingefroren, aber er ließ sich nichts anmerken und verdrängte die bösen Gedanken schnell. Sie verabredeten, dass Alexander morgen um neun Uhr mit der Arbeit beginnen sollte.

Erleichtert verließ er die Apotheke und fuhr heim in sein Elternhaus, wo er schon von Dörte erwartet wurde. Im Kofferraum lag der Schrank aus dem Baumarkt und er musste nun nur noch die Küche hinüberbringen.

„Alexander!“

„Ja Mama, ich komme gleich.“

Alexander sah wieder in den Spiegel und er fand, dass er schon viel besser aussah. Gut gelaunt betrat er die Küche, in der seine Mutter gerade ein paar Lebensmittel für ihn einpackte.

„Ich habe dir ein bisschen Kartoffelsalat gemacht und hier sind Würstchen drin. Das kannst du heute Abend essen. Dann ist hier …“

Alexander hörte nicht mehr zu, sondern suchte eine Pfanne und einen Topf. Er hielt beides in die Höhe und sah seine Mutter fragend an. Sie nickte und er packte die Sachen in den Korb auf dem Tisch. Dann lief er nach oben und wollte die Küche auseinanderschrauben, als ihm das Geld seiner Mutter einfiel.

„Ach was, ich kaufe mir davon ein paar Schränke für die Küche, einen Kühlschrank und eine Spüle. Dann bin ich schneller weg.“

Er ging wieder hinunter und verkündete seiner Mutter den Entschluss. Ohne eine Antwort und ihre Tipps abzuwarten griff er nach dem Korb, küsste Dörte auf die Wange und verließ das Haus. Er bezweifelte, dass er jemals wieder herkommen würde.

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