Bis die Gerechtigkeit dich holt

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Z serii: Eltville-Thriller #2
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10

Lisa hatte bis zum Wochenende jeden Abend mit Sascha telefoniert. Nun stand sie aufgeregt vor dem Haupteingang des Schlosses Johannisberg, das hoch über den Weinbergen thronte. Die Sonne gab ihr Bestes und tauchte die Landschaft in ein sattes Grün. Vögel zwitscherten, es war zehn Uhr am Vormittag und viele Wanderer und Weinliebhaber waren an diesem Punkt zu ihrem Wochenendvergnügen verabredet.

Dann sah Lisa den dunkelblauen Sportwagen, an dem kein einziger Kratzer mehr von ihrem unfreiwilligen Zusammentreffen zeugte, in die Allee einfahren und in eine Parklücke abbiegen. Lisas Herz klopfte heftig, aber die Freude, den attraktiven Fotografen wiederzusehen, überwog.

Sascha sah gut aus, der Wind wehte durch sein kastanienbraunes Haar, sein Lächeln ließ Lisa schmelzen und als er sie sanft auf die Wange küsste, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken.

„Guten Morgen, schöne Frau, wie habe ich diesen Tag herbeigesehnt.“

„Ich auch …“, stammelte Lisa und sah auf ihre Schuhspitzen.

„Ich mag es, wenn Sie so schüchtern sind, aber ich tue Ihnen nichts, außer vielleicht …“

Er griff nach Lisas Kinn und hob es ein wenig an. Ihre Blicke trafen sich und Sascha beugte sich vorsichtig zu ihr herab, um seine warmen, weichen Lippen auf ihre zu drücken. Lisa wollte zurückweichen, aber Sascha legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Seine grauen Augen schauten ihr danach forschend ins Gesicht. Es fühlte sich gut an und Lisa schloss die Augen, als sie sich entspannte. Sie küssten sich innig und liefen Hand in Hand los, an der Basilika vorbei den Weinbergen entgegen. Sascha redete, Lisa hörte zu.

„Ich liebe die Weinberge, sie haben so etwas Beständiges. Und wenn man den Rhein sieht, wie er in der Sonne glitzert, dann fragt man sich wirklich, wozu man noch im Ausland Urlaub machen soll. Ich liebe diese Gegend. Wir sind hier aufgewachsen, meine Schwester und ich. Immer, wenn es Krach gab, bin ich in die Weinberge geflüchtet. Nele hatte viel Ärger mit meinem Vater.“

„Ich habe keine Geschwister und meine Mutter ist auch schon tot. Vor kurzem habe ich Kendra kennengelernt, wir haben uns angefreundet. Es war ein böses Ereignis, das uns zusammengeführt hat, aber irgendwie hat es uns die Freundschaft gebracht.“

Lisa berichtete von Hanka, den Ereignissen, der Polizei-Befragung und dem Tod des Stiefvaters. Sascha hatte geduldig zugehört und seinen Arm fest um Lisas Schultern gelegt.

„Ich habe es in der Zeitung gelesen und mit meiner Schwester darüber geredet. Sie war die ermittelnde Staatsanwältin, bis sie vom Oberstaatsanwalt von dem Fall abgezogen wurde. Nele war sehr sauer, denn bei Gewalt gegen Kinder kennt sie keinen Spaß. Vielleicht, weil sie selbst oft geschlagen wurde.“

„Oh, das tut mir leid, meine Freundin hatte eine Schwester, die vom Vater misshandelt wurde. Sie hatte sich vor vielen Jahren selbst getötet, nachdem sie den Vater umgebracht hat. Meine Freundin war zehn Jahre und hat alles mit angesehen.“

„Warum sind Menschen so böse zu Kindern? Die soll man doch lieben! Ich habe meinen Vater auch nie verstanden, irgendwann ist meine Mutter mit uns weggezogen. Dann war Vater plötzlich verschwunden. Wir wissen bis heute nicht, wo er ist oder ob er noch lebt. Unsere Mutter ist vor zwei Jahren gestorben.“

„Hat er dich auch geschlagen?“

„Nein, nur Nele. Ich war ein Junge, er mochte nur keine Mädchen, denke ich. Zu meiner Mutter war er auch nicht gut. Sie hat viel geweint, aber ich war noch klein und habe das nicht verstanden. Und jetzt lass uns nicht mehr über so etwas Trauriges reden. Ich möchte gerne mit dir zusammen sein, Lisa. Du gefällst mir.“

Sie waren stehengeblieben und hatten sich lange geküsst. Lisa hatte nur genickt und Sascha hatte gefühlt, dass sie die Richtige war, die Frau, auf die er schon so lange gewartet hatte. Er hatte seine Kamera mitgenommen und ein paar Bilder vom Schloss und den Weinbergen gemacht. Nun bat er Lisa, sich neben die Reben zu stellen oder auf die Mauer zu setzen. Lisa wollte sich weigern, aber als sie ihre erste Verlegenheit überwunden hatte, genoss sie die Aufmerksamkeit. Sie war gespannt auf die Bilder.

Später gingen sie essen und dann fuhren sie zu Lisa, die in der kleinen Küche Kaffee kochte. Sie machten es sich auf der Couch gemütlich, Lisa hatte ihr Laptop geholt und Sascha lud die Bilder des Ausflugs hoch. Es waren Bilder voller Licht und Farben, wie Lisa die Umgebung während des Spaziergangs gar nicht so deutlich wahrgenommen hatte. Einzelheiten der Reben traten in den Vordergrund, um sie herum fügte sich die atemberaubende Landschaft ein. Als sich Lisa selbst auf den Bildern sah, bekam sie eine Gänsehaut vor Glück und Ergriffenheit, denn sie war wunderschön und strahlte eine faszinierende Natürlichkeit aus.

„Du hast wirklich ein Auge für den Moment, ein Gefühl für die Szene. Ich wusste gar nicht, dass ich so aussehe.“

„Es ist die Realität, du bist die schönste Frau der Welt. Vielleicht verstehst du jetzt, dass ich mich Hals über Kopf in dich verlieben musste.“

„Jetzt bin ich sicher wieder ganz rot. Verzeih mir, wenn ich nicht so locker bin, aber ich muss mich erst an das Ganze gewöhnen. Liebe war mir bisher nicht so wichtig.“

„Du Arme!“, rief Sascha. „Liebe ist das Wichtigste auf der Welt. Davon leben die Menschen. Ohne Liebe wäre die Welt öde und furchtbar. Lass mich dir die Liebe zeigen. Liebe, Liebe … schon das Wort macht mich glücklich. Und jetzt, meine liebe Lisa, fahre ich heim und schaue mir die Bilder noch einmal ganz in Ruhe an und hänge mir das Beste übers Bett. Sehen wir uns morgen wieder?“

„Gerne. Ich vermisse dich jetzt schon. Danke für den schönen Tag. Wo wohnst du denn eigentlich genau?“

„In Assmannshausen auf dem Berg. Ich habe ein kleines Haus in den Weinbergen, dort ist auch mein Atelier und unten im Haus ein kleiner Fotoladen. Wenn du magst, komm doch morgen zum Frühstück zu mir. Ich würde mich freuen.“

Lisa versprach um neun Uhr mit frischen Brötchen bei ihm zu sein, dann schlang sie die Arme um Saschas Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Es fühlte sich gut und richtig an.

11

Michael war vor Bianca im Büro und stellte die Kaffeemaschine an. Dann füllte er die Obstschale auf und legte seiner Kollegin einen kleinen Schokoriegel auf den Platz. Er fuhr den Computer hoch, überprüfte die Emails und vertiefte sich in den Fall Weißlinger. Es hatte sich herausgestellt, dass seine Frau von den Misshandlungen gewusst und geschwiegen hatte. Bianca hatte Cordelia Bückler, Psychologin und alte Schulfreundin, gebeten, mit der Frau zu reden und was da zutage gefördert wurde, jagte selbst dem abgebrühten Kommissar einen Schauer über den Rücken. Er hatte gar nicht mehr das Bedürfnis, den Mörder von Robert Weißlinger zu suchen, aber das ging ja nicht. Niemand hatte das Recht, Selbstjustiz zu üben, auch wenn das Verbrechen des Mannes noch so grausam war.

Hanka wurde regelmäßig geschlagen, getreten und zweimal hatte er ihre Füße mit heißem Wasser übergossen. Er hatte sie nie ins Gesicht geschlagen, auch die Verbrühungswunden waren nicht zu sehen. Beim Arzt hatte die Mutter angegeben, dass Hanka einen Topf mit kochendem Wasser vom Herd gezogen hatte. Da Hanka immer schon einen Attest für den Sportunterricht hatte, weil sie Probleme mit den Ohren hatte, waren die zahlreichen blauen Flecken an den Armen und den anderen Körperteilen nie jemandem aufgefallen. Die Kleine hatte keine Freunde und niemand beachtete sie, jeden Tag nach der Schule hatte Robert sie abgeholt und dann begann ihr Martyrium erneut.

Wenn Hankas Mutter nicht in der Wohnung war, hatte er das kleine Mädchen in ihrem Kinderzimmer missbraucht. Als die Frau eines Tages früher von der Arbeit kam, weil es in der Firma einen Wasserrohrbruch gegeben hatte, sah sie die wimmernde Hanka und ihren Mann in dieser Situation, aber statt Hanka zu helfen, war sie aus dem Haus gelaufen. Am nächsten Tag sprach sie ihren Mann darauf an und Robert hatte ihr eine schallende Ohrfeige versetzt. Dann zerrte er sie auf den Küchentisch, drückte ihr Gesicht fest auf das kalte Holz und riss ihr die Hose herunter. Er nahm sich, was er für richtig hielt und drohte, er würde Hanka töten und sie müsste dabei zusehen, wenn sie etwas verraten würde.

Hankas Mutter hatte geschwiegen.

Michael spürte eine ohnmächtige Wut. Als seine Kollegin zur Tür hereinkam, atmete er auf und klappte die Akte zu. Bianca begrüßte ihn und spürte sofort, dass er sehr aufgewühlt war. Sie hatte die Gabe, in die Menschen hineinzuschauen. Durch ihre Freundin Cordelia, die Psychologin, wusste sie, dass sie hochsensibel war. Cordelia hatte sich ihr zuliebe ausführlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Bianca wusste, dass sie sich auf ihre Intuition immer verlassen konnte.

„Hast du wieder die Akte gelesen? Es wird nicht besser, er war ein mieses Dreckstück, aber wir müssen trotzdem seinen Mörder finden.“

„Ich weiß“, seufzte Michael, „aber am liebsten würde ich die Akte schließen und sagen: Das war es, der Täter hat richtig gehandelt.“

„Nein“, widersprach ihm Bianca und er wusste, das sie recht hatte, „es ist niemals der richtige Weg, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Wenn er alle Leute umbringt, die jemand Schwächerem etwas angetan haben, dann kommen wir aus der Arbeit nicht mehr heraus, ich hoffe, der Täter tut das nicht wieder. Nele ist immer noch sehr wütend auf den Oberstaatsanwalt, der jetzt Ermittlungsfehler einräumen musste. Ich denke, in Zukunft wird man wachsamer sein. Es ist vor allem nötig, dass man den Opfern den Rücken stärkt, damit sie gegen ihre Peiniger aussagen.“

 

Das Telefon klingelte, Bianca nahm ab. Sie lauschte in den Hörer.

„In Ordnung, wir kommen sofort.“

Sie legte auf und sah Michael an.

„Was?“

„Mord im Rotlichtmilieu. Es hat einen Zuhälter erwischt. Er klebt in der Garage zwischen einer Wand und einem Laster.“

„Oha, das hört sich nicht gut an.“

Sie eilten zum Dienstwagen und fuhren mit Blaulicht nach Martinsthal, wo sich am Waldrand etwas außerhalb eine neugebaute Villa befand. Das Tor zum Parkeingang und das elektrische Roll-Tor zur Garage standen offen, eine Streife sicherte alles ab. Die Presse war schon vor Ort und musste mit Nachdruck zurückgedrängt werden. Bianca und Michael wurden durchgewinkt und hielten ein wenig abseits unter einer großen Eiche.

Der Hausmeister kam ihnen entgegen und rief, wobei er mit beiden Armen fuchtelte: „Da können Sie nicht parken. Das ist ein gepflegter Rasen.“

Michael ließ sich nicht beirren und fragte nüchtern: „Wer sagt das?“

„Mein Chef hat das immer gesagt: Nicht auf dem Rasen parken.“

„Ist das nicht der Tote in der Garage?“

Der Hausmeister nickte.

„Tja, dann ist ihm jetzt wahrscheinlich egal, wo ich parke.“

Damit ließ er den vor Wut schäumenden Mann stehen, Bianca grüßte ihn übertrieben höflich und folgte Michael in die Garage, wo ein großer Laster die Sicht versperrte. Hinter dem Fahrzeug kam ein junger Mann hervor und zuckte plötzlich zurück. Es war Pit Deicker von der Spurensicherung. Bianca schnaufte hörbar. Michael stellte sich dicht neben sie.

„Meine Schöne, wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen. Hast du mich vermisst?“

Bianca ging nicht darauf ein und fragte nach der Tat. Pit zog pikiert die Augenbrauen hoch, ehe er sachlich zusammenfasste, was hier passiert war.

„Richard Rizzo Rosselinger heißt unser Opfer, eine Frankfurter Rotlichtgröße, der sich vor knapp zwei Jahren hier niedergelassen hat. Er hat keine großen Geschäfte mehr gemacht, ist aber bekannt wie ein bunter Hund. Er war vor einem halben Jahr in aller Munde gewesen, weil zwei junge Mädchen aus Polen in einem seiner Häuser im Keller gefunden wurden, sie waren misshandelt und getötet worden. Er stand unter Verdacht, aber niemand konnte ihm etwas nachweisen. Angeblich kannte er die jungen Frauen nicht und das Haus war vermietet. Eine war erst fünfzehn, die andere war die große Schwester und schon achtzehn. Er ist davongekommen. Jetzt ist er zerquetscht worden, von wem auch immer. Es hat jedenfalls kein Unschuldslamm getroffen.“

Dann wandte sich Pit ab und ließ sie einfach stehen.

„Ich rede mal mit dem Hausmeister, zu dem du so nett warst. Und Michael … danke.“

Michael streichelte ihr sanft über den Arm. Dann ging er um den Laster herum und presste sich die Faust auf den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Die Leiche war im wahrsten Sinne des Wortes zerquetscht worden. Michael konnte nicht mehr hinsehen, aber er war sich sicher, dass dieser Mann etwas ganz Schlimmes getan haben musste. So zu sterben musste eine Qual sein. Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er alles kommen sehen, es war schmerzverzerrt, der Mund zum Schreien weit aufgerissen. Die offenen Augen des Mannes verrieten, was er in seinen letzten Sekunden gefühlt hatte. Überall waren Blutspritzer. Die Tür des Lasters stand offen und als Michael sich bückt, weil er etwas Weißes unter dem Sitz schimmern sah, zuckte er zusammen. Dort lag eine kleine, weiße Stoffrose.

„Scheiße“, murmelte er und winkte Pit Deicker heran. „Was denkst du darüber?“

„Oha, die kenne ich doch. Mist, sollte es der gleiche Täter sein wie am Rhein? Das wäre ja wirklich ein Ding.“

„Es würde schon mit dem Teufel zugehen, wenn zwei verschiedene Täter ausgerechnet dieselbe Idee mit der Rose hätten, oder?“

Pit sah Michael an und nickte. Er nahm einen kleinen Plastikbeutel und tat die Rose hinein, dann verschloss er die Tüte sorgfältig. Michael wollte gerade zu Bianca nach draußen gehen, als Pit ihn am Ärmel festhielt.

„Wir sind zwar nicht die besten Freunde, aber sag mir bitte, wie es Bianca geht.“

„Es geht ihr gut. Warum? Ich denke, ihr habt euch getrennt.“

„Ach, ich glaube, sie braucht nur eine Auszeit, bis sie wieder zu mir zurückkommt, ist nur eine Frage der Zeit. Sie kann doch gar nicht ohne mich leben.“

„Pit, sei nicht sauer, aber sie hat mir erzählt, was du so alles veranstaltet hast. Sie kann sehr wohl ohne dich leben, also akzeptiere das und lass sie in Ruhe.“

Pit blickte finster in Michaels ruhiges Gesicht.

„Du hast doch nichts mit ihr, oder? Lass du mal die Finger von ihr, sonst …“

„Pit, lass gut sein, ich bin weg. Und nein, ich habe nichts mit ihr.“

Michael ging schnell aus der Garage und spürte den stechenden Blick von Pit in seinem Rücken. Draußen kam ihm Bianca entgegen. Sie runzelte die Stirn und wollte wissen, was los war. Michael wollte sie nicht beunruhigen und beschrieb den Anblick des toten Mannes.

„Eine weiße Rose lag im Auto.“

„Oh.“

Bianca hatte schon so ein merkwürdiges Gefühl gehabt, als Pit von den misshandelten Mädchen berichtet hatte, nun gingen in ihrem Kopf alle Alarmsirenen an.

„Der gleiche Täter? Das wäre furchtbar. Geht hier etwa ein Rächer um und bestraft Menschen, die jemanden misshandelt haben? Mist, wir müssen mit Nele reden, sofort.“

„Ja, die Staatsanwältin muss darüber Bescheid wissen. Wenn das Morden weitergeht, geraten wir mächtig unter Druck. Die Bevölkerung wird sich ihr eigenes Urteil bilden, hoffentlich gibt es keine Hexenjagd.“

„Hoffentlich gibt es keinen weiteren Toten. Das mit der Rose darf auf keinen Fall an die Presse gelangen.“

„Was sagt der Hausmeister?“, fragte Michael, als sie sich wieder ins Auto gesetzt hatten.

„Er hat den Toten gefunden und sofort die Polizei gerufen. Der Typ war sein Hausmeister, sein Chauffeur und sein Bodyguard. Er hatte aber feste Arbeitszeiten, von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends. Gestern Abend hat sein Chef noch vor dem Fernseher gesessen, als er Feierabend hatte. Es war alles wie immer. Die Alarmanlage schaltet sich um Mitternacht automatisch scharf. Sie war heute Morgen aus.“

12

Michael startete den Wagen und fuhr direkt zur Staatsanwaltschaft, wo man von dem neuen Opfer schon gehört hatte. Um seinen Fehler wiedergutzumachen, hatte der Oberstaatsanwalt Nele Wolf-Kritzek den Fall Weißlinger wieder übertragen. Sie war eine schöne, schlanke Frau Mitte dreißig. Ihr langes, kastanienbraunes Haar fiel locker über die Schultern des grauen Kleides. Ihre Haut war glatt und hell, die grauen Augen glänzten hinter einem Vorhang aus dunklen, langen Wimpern. Sie war dezent geschminkt. Ihr Ruf als Staatsanwältin war tadellos. Sie war die beste Studentin ihres Jahrgangs gewesen und hatte bisher fast alle Fälle gewonnen. Bei Gericht zitterten die Angeklagten, wenn sie ihre straffe, unbeugsame Gestalt zu Gesicht bekamen. In diesen Augenblicken waren ihre Augen die Fenster zu ihrer Seele.

Nele und Bianca hatten sich vor Jahren beim Kampfsport-Training kennengelernt und hatten sofort eine innere Verbindung gespürt, die sie zu engen Freundinnen werden ließ. Michael bewunderte die schöne Frau, die seiner Partnerin so ähnlich war. Ihre Intuition half ihr bei den schwierigsten Fällen, so wie es bei Bianca auch war.

Nele hatte dem Bericht von Michael zugehört und seufzte nun tief.

„Oh, nein, bitte keine Serie und schon gar nicht, wenn es um solch einen Hintergrund geht. Ich sehe schon die Schlagzeilen: Der Rächer der Schwachen schlägt wieder zu. Das wäre furchtbar. Weiß die Presse von der Rose?“

„Nein“, erklärte Michael, „die hat nur die Eckdaten. Wir werden schweigen. Der Tote war übel zugerichtet, so wie Robert Weißlinger auch, nur eben mit einem Fahrzeug. Was hat das zu bedeuten, dass es nicht die gleiche Waffe war?“

„Wahrscheinlich kam der Täter nicht so nahe an den Kerl heran. Dieser Richard, in der Szene nur Rizzo genannt, soll ein ganz harter Hund gewesen sein. Die Mädchen und Frauen, die für ihn angeschafft haben, hatten nicht viel zu lachen. Ich kenne ihn aus früheren Fällen, einem meiner ungeklärten zudem. Es konnte ihm nichts nachgewiesen werden, er ist aalglatt. Die Wohnung, wo man die Mädchen gefunden hatte, gehörte ihm zwar, sie war aber vermietet und er hatte ein Alibi, das ihm seine Kumpane gerne gegeben hatten. Nun hat wohl jemand das erledigt, was ich nicht erreichen konnte. Oh, Mann.“

Nele hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und wippte mit dem Möbelstück unruhig vor und zurück. Sie war sehr enttäuscht und wütend gewesen, als Rizzo sie nach der Verhandlung ungeniert ange­grinst und auf einen Drink eingeladen hatte. Sein Tod war zwar nicht Recht, aber innerlich hatte sie aufgeatmet. Es gab wohl doch so etwas wie Gerechtigkeit.

„Was nun?“, fragte sie mit einem ermutigenden Blick über den Tisch.

Bianca antwortete: „Wir werden sehen, was seine Leute sagen. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt und war nur noch als Berater tätig, das hat mir der Hausmeister erzählt. Aber viel war nicht aus dem herauszubekommen. Sehen wir uns Freitagabend, meine Liebe?“

„Natürlich, wie immer, erst Sport, dann feiern gehen, Frauenabend. Übrigens: Mein Bruder hat eine Frau kennengelernt und ist bis über beide Ohren verliebt. Er will sie mir am Sonntag bei einem Mittagessen vorstellen. Ich bin gespannt.“

„Er hatte ja schon immer einen ganz besonderen Geschmack, ich glaube es gar nicht, dass eine Frau für ihn wichtig genug ist. Komm, Michael, ich habe Hunger. Lass uns zum Italiener um die Ecke gehen. Kommst du mit, Nele?“

„Keine Zeit, gleich ist die Besprechung für die Pressemitteilung. Bis Freitag.“

Nele und Bianca umarmten sich herzlich, Michael winkte, dann waren sie aus der Tür und liefen durch die blank geputzten Korridore nach unten. Nachdem sie unter dem kühlenden Dach der Linden nach rechts abgebogen waren, standen sie vor der kleinen, gemütlichen Pizzeria, in der es ruhig und ein wenig düster war. Die Möbel waren alt, aber gepflegt und in der Küche bereitete eine resolute, italienische Mama die beste Pasta der Welt zu. Es duftete nach frischen Kräutern und frisch gebackenem Brot. Michael hielt Bianca die Tür auf und folgte ihr an einen Tisch am Fenster. Sie bekamen die Karte und studierten sie eine Weile schweigend. Bianca bestellte Lasagne und Michael Penne Bolognese, dazu gab es Apfelschorle. Der hübsche, junge Kellner verschwand und die beiden waren fast alleine. Nur in der anderen Ecke saßen drei Männer, die in ihren Anzügen mit den hellblauen Hemden und dunklen Krawatten wie wichtige Geschäftsleute aussahen.

„Michael, was hat Pit zu dir gesagt?“

„Woher … ich meine … wie kommst du … Ach, Mist, ich dachte, du merkst es nicht. Er wird keine Ruhe geben, denn er denkt, es ist für dich nur eine Auszeit. Also sei vorsichtig. Er sah ziemlich sauer aus, als ich ihm gesagt habe, dass er dich in Ruhe lassen soll. Er dachte, wir haben etwas miteinander.“

Bianca hatte angefangen zu lachen.

„Daher weht der Wind. Dieser Kerl wäre auch noch auf ein Kuscheltier eifersüchtig.“

„Hallo! Du hast mich doch nicht gerade mit einem Kuscheltier verglichen?“

„Ach, mein Lieber, du bist manchmal sehr kuschelig, aber es war nur so dahingesagt. Pit wäre auch auf den Kartenabreißer im Kino eifersüchtig. Ich glaube, er hat mal etwas Schlimmes erlebt und nicht verarbeitet. Das schleppt er mit sich herum. Er hat auch keine Familie mehr, aber darüber wollte er nie reden.“

Michael hatte nach dem Essen ihre Hand genommen und merkte nun, dass sie sie nicht weggezogen hatte. Bianca folgte seinem Blick und lächelte.

„Danke, mein Beschützer. Wenn ich dich nicht hätte.“

„Ich würde eine ganze Menge für dich tun, wenn du mich lassen würdest.“

„Ich weiß, Michael, aber wir sind tolle Kollegen und gute Freunde. Ich glaube nicht, dass wir das zerstören sollten.“

„Und ich glaube nicht, dass wir etwas zerstören würden.“

Nun entzog ihm Bianca ihre Hand und suchte in der Handtasche nach ihrem Handy. Michael seufzte traurig. Sie beugte sich hinüber und küsste ihn auf die Wange.

„Nicht böse sein.“

Er schüttelte den Kopf und rief nach dem Kellner, um zu bezahlen. Sie fuhren ins Büro und machten einen Plan für die nächsten Tage.