Madame empfängt

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»Aber ich«, meldete sich Thekla zu Wort.

»Was mischst du dich denn da ein, du Suffeule! Du hängst zwar den lieben langen Tag hier rum, und wenn du nicht gerade einen abschleppst, der dir deine Sauferei finanziert, bist du doch die meiste Zeit viel zu besoffen, um was mitzukriegen!«, blaffte der Wirt die junge Frau an.

»Hör bloß auf, mich so runterzuputzen, Georg. Wenn du so Leute wie uns nicht hättest, dann könntest du deine Kaschemme doch dichtmachen«, entrüstete sich Thekla, der die Tränen in die Augen stiegen.

»Ja, und wenn ihr alle endlich eure Deckel bezahlen würdet, wäre ich ein gemachter Mann!«, raunzte Herr Adam zurück.

»Bitte, Kind, sag doch, was du sagen wolltest«, wandte sich Sidonie an Thekla.«Wir sind dankbar für jeden Hinweis.« Die Betrunkene konnte nun nicht mehr länger an sich halten und fing bitterlich zu weinen an. Nachdem sie sich mit dem Ärmel über Augen und Nase gewischt hatte, fasste sie sich wieder und schien auch nüchterner geworden zu sein.

»Für Leute wie mich ist es nicht selbstverständlich, wie ein Mensch behandelt zu werden. Sie machen das, und deswegen will ich Ihnen was verraten«, murmelte Thekla leise und rückte näher an das Fräulein heran. Als Sidonie ihren Branntweinatem roch, mochte sie sich unwillkürlich abwenden, stattdessen jedoch legte sie den Arm um Theklas hagere Schultern und forderte das Mädchen auf, zu reden.

»Also, ich kenn da jemand. Die heißt Irmgard. Irmgard Stocklossa«, berichtete Thekla sichtlich um eine deutliche Aussprache bemüht. »Wir waren zusammen im Fürsorgeheim in der Bleichstraße, und wir gehen dem gleichen … Gewerbe nach, Sie wissen schon, was ich meine. Also, die Irmgard, die hat mir letztens erzählt, dass sie die gekannt hat. Die, wo da umgebracht worden ist. Und ich mein, die hätt auch gesagt, dass sie die vorher noch hier gesehen hat. Sie wollt halt net gleich uff die Hauptwach rennen und es Maul aufreißen. Am besten wird’s sein, Sie schwätzen mal mit der. Sie können der auch ruhig sagen, dass Sie das von mir wissen. Vielleicht haben Sie Glück und treffen sie in der Breiten Gass, beim ›Süße Weck‹6. Da geht die nämlich öfter hin.«

»Was erzählst du dann für einen Blödsinn, Thekla«, unterbrach sie Herr Adam, der die ganze Zeit über die Ohren gespitzt hatte, gereizt. »Beim ›Weck‹, da verkehren doch hauptsächlich die warmen Brüder. Das weiß doch jeder! Du willst doch die Herrschaften nicht veräppeln, oder?«

»Ach, Georg, du hast doch keine Ahnung!«, fuhr ihm Thekla übers Maul. »Weibsleut gehen da auch hin. Die halt vor Freiern mal ein bisschen Ruhe haben wollen, und das soll ja vorkommen! Bring mir lieber noch ein Schnaps, und halt dich gefälligst da raus!«

Kurz darauf servierte Herr Adam seinen Gästen eine wohlschmeckende Erbsensuppe mit Speck. Dennoch war Johann der Einzige am Tisch, der seinen Teller leer aß. Das Fräulein, zu angespannt, um die Mahlzeit zu genießen, ließ mehr als die Hälfte übrig. Und Thekla, der, obgleich sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte, der Sinn eher nach Branntwein stand als nach fester Nahrung, rührte lustlos in ihrem Teller herum und rang sich schließlich dazu durch, ganze drei Löffel Suppe zu sich zu nehmen. Im Gespräch mit dem Mädchen erfuhr das Fräulein, dass Thekla gerade einmal 16 Jahre alt war und bereits seit drei Jahren anschaffen ging. Den größten Teil ihres Verdienstes setzte sie in Branntwein um. Sidonie hatte den Eindruck, dass Thekla trotz ihrer Jugend mit dem Leben bereits abgeschlossen hatte, was die Dichterin sehr traurig stimmte. Nachdem Johann die Rechnung beglichen hatte, bedankte sich Sidonie höflich bei Herrn Adam und bei Thekla für ihr Entgegenkommen. Bevor sie aufbrachen, streichelte sie dem jungen Mädchen über die Wange und flüsterte ihr zu: »Wenn dir mal der Sinn nach einem Glas Milch steht, Mädchen, dann komm vorbei. Ich wohne in der Töngesgasse Nummer 15. Es würde mich sehr freuen.«

*

Als Sidonie und Johann in die Kutsche stiegen und Johann dem Kutscher als Ziel die übel beleumundete Wirtschaft in der Breiten Gasse angegeben hatte, zog er ein missmutiges Gesicht. Sidonie, die das bemerkte, erkundigte sich bei ihrem alten Jugendfreund, was ihm nicht behagte.

»Ach, Sido, du weißt genau, dass ich dir gerne jede Gefälligkeit erweise. Aber dass wir uns jetzt auch noch in den Schlupfwinkeln der Invertierten herumtreiben müssen, will mir gar nicht gefallen«, brummelte der Lebemann unwirsch.

»Lieber Johann, jetzt beruhige dich doch bitte. Meinst du, die Herren in diesem Etablissement warten nur darauf, dass der berühmt-berüchtigte ›Don Johann‹ seinen Fuß über die Schwelle setzt, um sogleich über ihn herzufallen und ihn ans andere Ufer zu zerren?«, konterte Sidonie spöttisch. »Mir ist durchaus bekannt, was man sich über Homosexuelle so erzählt. Es wird gerne behauptet, dass sie Schmuck und glitzerndes Geschmeide, Puder und Parfüm lieben, mit den Hüften wackeln wie eine Frau und ebenso eitel sind. Angeblich neigen sie zu Geschwätzigkeit, Klatschsucht, Wankelmut und Doppelzüngigkeit und sind von niederträchtiger Wesensart. Früher habe ich diese Vorstellungen mehr oder weniger geteilt. Wenn ich Invertierte auch nicht direkt als sündige Frevler verurteilen mochte, so war ich doch der Meinung, dass es sich bei ihnen um abartige, kranke Menschen handelt, womöglich auch erblich belastet, denen geholfen werden muss. Inzwischen bin ich aber skeptisch, ob das alles so zutrifft.«

»Nun ja, meine Liebe, ich denke schon, dass da etwas Wahres dran ist«, entgegnete Johann ausweichend. »Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, in einem seriösen, wissenschaftlichen Journal den Aufsatz eines namhaften An­­thropologen zu lesen, der sich mit dieser ›Spezies‹ beschäftigte. In dem Artikel wurden die typischen körperlichen Merkmale von Invertierten beschrieben. Demnach erkennt man sie bereits an der eigentümlichen Beschaffenheit des Gesäßes. Sie neigen dazu, aufgeworfene, wulstige Lippen zu haben und helle Stimmen …«

»Ja, und am liebsten tragen sie Frauenkleider und treffen sich zum Damenkränzchen. Da habe ich allerdings ganz andere Erfahrungen gemacht. Ein Schriftstellerkollege, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, hat mich kürzlich zum Tee eingeladen. Er ist ein guter Freund des Dichters Lord Byron, der aus seiner Veranlagung bekanntlich keinen Hehl macht. Auch über meinen jungen Kollegen wird gemunkelt, dass er einen Hang zum eigenen Geschlecht hegt, was er mir gegenüber auch einmal ein wenig verstohlen andeutete. Jedenfalls traf ich in seinem Hause andere, ähnlich veranlagte Herren, und ich kann von ihnen wirklich nur das Allerbeste berichten. Sie alle waren in höchstem Maße kultiviert und gebildet und mir gegenüber von einer Zuvorkommenheit, wie ich sie selten erlebt habe. Keineswegs aber wirkten sie auf mich krank oder gar monströs, und ich frage mich, warum man einen solchen Abscheu vor ihnen hat. Ich denke, mein lieber Johann, deine Abneigung vor diesen Menschen liegt zu einem guten Teil auch in der Furcht begründet, von ihnen begehrt und umworben zu werden. Nur, dass in diesem Falle der Spieß einmal umgedreht ist und es dir ebenso ergehen könnte wie den armen Weibsbildern.«

»Also, das muss ich mir nicht sagen lassen! Eine jede Frau, die mit mir eine Affäre eingegangen ist, tat dies aus freien Stücken. Und ich darf behaupten, die meisten haben sich sehr wohl dabei gefühlt«, entrüstete sich Johann.

»Das bezweifle ich auch nicht, mein Guter! Aber warum soll das bei Homosexuellen denn anders sein? Auf, lass uns jetzt da reingehen. Du brauchst dich auch nicht zu fürchten, ich bin ja bei dir«, beschwichtigte Sidonie ihren Freund belustigt und drängte ihn aus der Kutsche, als sie vor dem ›Süßen Weck‹ angekommen waren.

Es war halb sechs, und die Dämmerung hatte an diesem verregneten Abend früher eingesetzt. In der abgelegenen Gegend war kaum jemand unterwegs. Lediglich ein paar junge Männer hielten sich am Rande der Gärten auf. Als sie Sidonie und Johann wahrnahmen, huschten sie verschreckt hinter die Büsche.

»Das sind bestimmt auch welche von denen«, bemerkte Johann abfällig und schloss den obersten Knopf seines Gehrocks. »Und daran, dass sie sich so davonstehlen, wenn jemand kommt, siehst du, dass sie alles andere als ein reines Gewissen haben.«

»Was heißt denn hier ›reines Gewissen‹? Die Leute haben Angst! Hast du nicht letzte Woche in der Zeitung gelesen, dass man einen jungen Mann, der in den Wallanlagen immer auf Kundenfang gegangen ist, halb tot geprügelt hat?«

»Ja, das hab ich«, entgegnete Johann kleinlaut. »Aber trotzdem halte ich es für eine Schnapsidee, hierherzukommen. Im wortwörtlichen Sinne. Da wollte sich dieses betrunkene Gör doch nur einen Schabernack mit uns machen. Ein Freudenmädchen unter lauter Päderasten! Die wird sich vor Kundschaft kaum retten können.«

»Also, jetzt reicht es mir aber bald mit dir. Wenn du nur am Nörgeln bist, dann steig in deine Kutsche und fahr heim.«

»Und lasse dich allein, hier draußen bei diesen Perversen. Nichts da, ich erfülle meine Pflicht als Kavalier und bleibe bei dir. Wie ich dich kenne, bist du doch sowieso durch nichts zu bewegen, dein Vorhaben aufzugeben.« Resigniert bot er Sidonie den Arm und schritt mit ihr die Stufen zur Eingangstür hinauf.

»Richtig, mein Lieber! Und du solltest dich vielleicht fürs Erste von deinen Vorurteilen verabschieden und die Dinge einfach auf dich zukommen lassen. Schließlich bist du kein verknöcherter Philister. Wo also bleibt deine liberale, weltmännische Gesinnung?«

»Diesbezüglich, meine Liebe, lasse ich dir momentan gerne den Vortritt. Bitte nach Ihnen, die Dame!«, flötete ›Don Johann‹ schlitzohrig und öffnete seiner gestrengen Begleiterin galant die Tür.

Als Sidonie und Johann den Gastraum betraten, wurden sie von den anwesenden Gästen mit verhaltenem Argwohn beäugt. Im Gegensatz zum Weinlokal auf dem Klapperfeld herrschte hier reger Betrieb. An sämtlichen Tischen des engen, verräucherten Schankraumes saßen Leute. Einige Gäste drängten sich um die langgezogene Theke. Das Publikum bestand zum überwiegenden Teil aus Männern unterschiedlichen Alters. Aber auch ein paar Frauen waren anwesend.

 

Beherzt näherte sich das Fräulein einem Tisch, an dem noch freie Stühle waren, und fragte höflich, ob sie und Johann Platz nehmen dürften. Die beiden Herren stimmten zu und rückten ein wenig zur Seite. Ihr Gespräch verstummte auf der Stelle, und sie senkten betreten den Blick.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, meine Herren! Wir sind auf der Suche nach einer Dame namens Irmgard Stocklossa. Uns wurde gesagt, dass sie möglicherweise hier ist und vielleicht können Sie uns weiterhelfen?«, wendete sich Sidonie, um das beklommene Schweigen aufzulockern und eventuelle Missverständnisse zu zerstreuen, an ihre Tischnachbarn.

»Ach, die Irmgard suchen Sie. Die ist gerade vorhin gekommen. Ich glaube, die steht da vorne an der Theke«, antwortete einer der Herren zuvorkommend und wirkte mit einem Mal merklich entspannter.

»Herzlichen Dank und noch einen angenehmen Abend.« Sidonie erhob sich und eilte mit Johann im Schlepptau zielstrebig in Richtung Tresen. Die Betreiber der Wirtschaft, die Gebrüder Weck, beleibte, glatzköpfige Zwillinge von etwa 40 Jahren, musterten die Neuankömmlinge argwöhnisch und erkundigten sich nach ihren Wünschen.

»Zwei Gläser Portwein und, wenn möglich, auch eine Zigarre«, bestellte Johann, der zunehmend wieder an Selbstbewusstsein gewann. »Außerdem suchen wir eine Dame namens Irmgard Stocklossa. Die soll hier am Tresen stehen, wurde uns gesagt.«

»Irmgard, dein Typ wird verlangt, komm doch mal her!«, rief einer der Brüder zur linken Thekenecke hin. Gleich darauf näherte sich eine junge Dame und blickte den Wirt, der auf Sidonie und Johann deutete, fragend an.

»Die Herrschaften hier haben nach dir gefragt«, erklärte er ihr knapp.

»Sie sind Frau Irmgard Stocklossa?«, richtete Sidonie das Wort an die verwunderte Frau. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir hätten ein paar Fragen an Sie. Eine Bekannte von Ihnen, ein Fräulein Thekla, die wir soeben im Weinlokal Adam auf dem Klapperfeld kennengelernt haben, war so freundlich, uns zu sagen, dass wir Sie möglicherweise hier antreffen würden. Mein Name ist Sidonie Weiß, und das ist Herr Johann Konrad Friedrich. Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, dann erkläre ich Ihnen gerne, worum es geht.«

»Viel Zeit habe ich nicht, in einer Stunde muss ich mich auf den Weg machen. Was wollen Sie denn von mir?«, fragte Irmgard beklommen.

Sie war schlank und wohlproportioniert und insgesamt von großer Anmut. Das glänzende, rotblonde Haar war zu einem schlichten Knoten zusammengesteckt, und die feinen Gesichtszüge und der volle rote Mund waren von natürlicher Schönheit. Ihre Kleidung war dezent und geschmackvoll. Sidonie war erstaunt über Irmgards Erscheinung. Es schien so gar nicht zu ihr zu passen, dass sie als Prostituierte arbeitete. Auf das Fräulein wirkte sie eher wie das makellose Ebenbild einer vielversprechenden höheren Tochter. Sidonie teilte ihr mit, dass ihr die Aufklärung des Mordfalls Gerlinde Dietz besonders am Herzen liege und dass Irmgard ihr möglicherweise behilflich sein könne. Als Irmgard Sidonies Worte hörte, zuckte sie leicht zusammen und machte ein betroffenes Gesicht.

»Gehen wir da hinten in die Ecke, da haben wir noch am ehesten Ruhe«, erwiderte sie und begab sich, gefolgt von Sidonie und Johann, an das Ende des Tresens. Lediglich ein junger Mann hielt sich dort auf, den Irmgard Sidonie und Johann als einen lieben Freund vorstellte. Als Sidonie der schönen Frau gleich darauf auseinandersetzte, dass es sich bei dem Herrn, mit dem Gerlinde noch kurz vor ihrem Tod im Weingarten auf dem Klapperfeld verabredet war, möglicherweise um ihren Mörder handelte, war Irmgard sehr bemüht, eine genaue Personenbeschreibung von Gerlindes Begleiter abzugeben, die sich im Wesentlichen mit Rudis Aussagen deckte.

»Mehr kann ich leider nicht sagen. Ich weiß auch nicht, ob ich den Mann vorher schon einmal gesehen habe. Bekannt kam er mir jedenfalls nicht vor. Ein großer, schlanker Herr mit Gehrock und Zylinder … aber so sehen doch viele aus, besonders Herren der besseren Gesellschaft«, äußerte Irmgard nachdenklich und blickte auf ihren Begleiter, auf den die Beschreibung gleichermaßen zutraf. »Es ist schade um die Gerlinde, glauben Sie mir, und ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Ich finde es auch gut, dass Sie sich um die Aufklärung des Falles kümmern, denn die Polizei scheint sich nicht sehr dafür zu interessieren. So ist das halt, wenn einer von uns so etwas widerfährt. Letztendlich denken doch alle, das geschieht ihr recht. Am meisten tut es mir um Gerlindes Buben leid. Die armen Würmchen stehen jetzt ganz allein da und sind ins Waisenhaus gekommen. Wenn Gerlinde das wüsste, würde sie sich im Grab rumdrehen. Wo sie ihre Kinder doch so geliebt hat! Sie waren ihr ein und alles, und ich bin mir sicher, sie war eine gute Mutter, und sie hat sie auch nicht abgeschoben, wie es in der Zeitung stand. Das musste sie wegen ihrer Stellung machen, denn welche Herrschaft lässt es schon zu, dass eine Dienstmagd ihre Kinder mitbringt. Das kümmert die doch nicht. Die ganze Plackerei, und das alles für die paar Kröten, die hinten und vorne nicht reichen, erst recht, wenn man daheim noch welche durchzufüttern hat. Und das haben die meisten. Kein Wunder, dass so viele von uns noch nebenbei was dazuverdienen müssen. Und die Gerlinde, das weiß ich, hat das alles nur für ihre Buben getan.« Irmgard hielt inne und wischte sich über die Augen. Der junge Mann an ihrer Seite nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten, was zur Folge hatte, dass bei Irmgard alle Dämme brachen und sie sich bebend an seiner Schulter ausweinte. Dazwischen murmelte sie immer wieder: »Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr!«

Johann und das Fräulein waren betroffen und wussten angesichts von Irmgards Gefühlsausbrüchen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Johann räusperte sich betreten. »Können wir Ihnen vielleicht auf irgendeine Art und Weise helfen, junge Dame? Soll ich Ihnen einen Kognak bestellen?«, erkundigte er sich ritterlich.

»Ich denke, wir sollten die Herrschaften jetzt am besten allein lassen und nicht länger belästigen«, beschied Sidonie und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Nein, nein, bleiben Sie nur! Sie stören nicht«, hielt Irmgard sie zurück, putzte sich die Nase und wirkte wieder gefasster. In der Ecke war ein Tisch frei geworden, und sie schlug vor, sich dort niederzulassen. Johann bestellte noch eine Runde Portwein, und die Stimmung entspannte sich. Nach und nach stellte sich heraus, dass Irmgard und ihr Begleiter seit vielen Jahren ein Paar waren, das in platonischer Liebe verbunden war. Obgleich Sidonie ihr fremd war, hatte die junge Frau Zutrauen zu ihr gefasst und schüttete dem Fräulein das Herz aus, ein Phänomen, das Sidonie schon häufiger erlebt hatte. Gerade auf die Unglücklichen und Gestrauchelten schien die Dichterin eine eigentümliche Anziehungskraft auszuüben. Selbst Menschen, die das Leben bitter und verschlossen gemacht hatte, öffneten sich ihr zuweilen.

So erfuhr das Fräulein, dass Irmgards Begleiter der Sohn ihrer Herrschaft war. Nachdem es für seine Familie außer Frage stand, dass mit ihm etwas nicht stimmte, zogen die besorgten Eltern einen namhaften Nervenarzt zurate, der ihren Sprössling mit verschiedenen Therapien zu kurieren suchte. Zunächst gelangte die Hypnose zur Anwendung, dann musste Alfred seltsame gymnastische Übungen vollführen, sich in freier Natur betätigen, kalte Wassergüsse vornehmen lassen, doch es half alles nichts gegen seine krankhafte Veranlagung, die darin bestand, dass er dem weiblichen Geschlecht einfach nicht zugetan war. Um ihn von seiner Verirrung abzubringen, brachte ihn sein Vater schließlich mit Irmgard zusammen, mit der er selbst eine heimliche Affäre unterhielt. Dabei kamen sich die beiden jungen Leute wenn auch nicht körperlich, so doch menschlich sehr nahe und vertrauten sich einander an. Al­fred gestand Irmgard seine homosexuelle Veranlagung, und Irmgard beichtete Alfred, dass sie sich seit ihrer frühen Jugend für Geld hingab, obgleich es sie unsagbar grauste vor dem männlichen Geschlecht. Trotz aller Standesschranken standen sie sich gegenseitig bei, so weit es die Verhältnisse erlaubten, und im Laufe der Zeit entstand daraus eine tiefe Freundschaft, eine Art Symbiose, die beide als eine besondere Form der Liebe empfanden.

»Doch jetzt hat er jemanden kennengelernt und sich verliebt, und seitdem gelte ich nichts mehr«, bemerkte Irmgard traurig und hatte erneut mit den Tränen zu kämpfen.

»Das stimmt doch gar nicht! Du bist mir immer noch eine liebe Freundin, und daran wird sich auch nichts ändern«, warf Alfred mit kummervoller Miene ein und versuchte Irmgards Hand zu streicheln, die sie ihm unwirsch entzog. Plötzlich tauchte aus der Menge ein junger Mann auf und blieb vor dem Tisch stehen. Er war groß und muskulös und trug die einfache Kleidung eines Arbeiters. Alfred bat ihn, sich zu ihnen zu setzen, und stellte ihn den Anwesenden als einen guten Bekannten vor.

Irmgard konnte nun gar nicht mehr an sich halten. Bebend vor Wut sprang sie auf und stürzte nach draußen. Sidonie und Johann verabschiedeten sich hastig von den beiden jungen Männern und eilten ihr nach. Unweit der Eingangstür stand Irmgard laut schluchzend im Regen. Sidonie und Johann hakten sie unter und nahmen sie mit in die Kutsche.

Unter Tränen bat sie darum, nach Hause gefahren zu werden. Sie müsse um sieben wieder bei ihren Herrschaften am Untermainkai sein. Das sei ein weiter Weg und sie sei sowieso schon spät dran.

Die Fahrt verlief anfangs recht schweigsam. Irmgard fasste sich zwar wieder, wirkte aber sehr niedergeschlagen und brütete dumpf vor sich hin.

»Darf ich mir erlauben, junge Dame, Ihnen eine Frage zu stellen?«, meldete sich Johann schließlich zu Wort. Als Irmgard stumm nickte, sprach er weiter: »Wieso hängt sich eine so bildhübsche Person, wie Sie es sind, meine Liebe, an solch einen Kostverächter? Es gibt doch bestimmt mehr als genug normale Mannsbilder, die Sie auf der Stelle heiraten würden – vorausgesetzt, Sie geben Ihren Nebenerwerb auf. Mit Verlaub, laufen Sie doch diesem komischen Heiligen nicht länger nach. Das sind doch Perlen vor die Säue geworfen! Das haben Sie doch gar nicht nötig, mein Kind.«

»Ich will aber kein ›normales Mannsbild‹! Ich hasse diese geilen Kerle, mir graust es vor ihnen, können Sie das denn nicht verstehen? Alfred ist der erste und einzige Mann in meinem ganzen widerwärtigen Leben, für den ich etwas empfinde«, fügte Irmgard mit zitternder Stimme hinzu.

»Er liebt Sie doch auch, Kindchen. Halt auf seine eigene Art. Sie sind ihm eine liebe Freundin. Aber nicht mehr. Seine Leidenschaft, sein Begehren indes gehen in eine andere Richtung. Das müssen Sie akzeptieren. Und gerade darum lieben Sie ihn ja so sehr. Spielen Sie also nicht verrückt, wenn er sich anderswo holt, was er braucht«, bemerkte Sidonie nüchtern.

»Ich kann aber nicht anders. Ich bin ganz krank vor Eifersucht.«

»Das wird Ihnen nicht viel nützen, glauben Sie mir. Es wird immer wieder passieren, dass er eine Affäre hat. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn Sie ihn wirklich lieben, gönnen Sie ihm dieses kleine, vergängliche Glück. Lieben Sie ihn doch einfach weiter. Ganz für sich, ganz um der Liebe willen. Niemand kann Ihnen diese Freiheit nehmen.«

Irmgards Rage hatte sich während Sidonies Worten verflüchtigt. Ergriffen schaute sie das Fräulein an. »Sie sind eine kluge Frau. Ich danke Ihnen«, sagte sie leise.

»Im Übrigen bin ich der Meinung, liebe Irmgard, dass Sie mit Ihrem Nebenerwerb unbedingt aufhören sollten. Das macht Sie nur kaputt, und Ihren Seelenfrieden werden Sie so niemals finden. Seien Sie froh darüber, dass Sie überhaupt noch etwas empfinden können, und lassen Sie sich das nicht auch noch zerstören.«

»Ich brauche aber das Geld. Meine Schwester hat die Franzosenkrankheit im Endstadium. Sie hat schlimme Wahnsinnsanfälle und ist im Tollhaus untergebracht. Ich muss für sie sorgen. Außerdem lege ich mir immer was zurück und will damit einmal was beginnen«, erklärte Irmgard.

»Ach, hören Sie doch auf! Das wird sowieso nicht wahr. Machen Sie Schluss mit dem ganzen Zinnober, sonst ergeht es Ihnen noch genau wie Ihrer Schwester. Außerdem weiß ich, dass Ihre Schwester trotzdem versorgt wird. Wenn es keine zahlenden Angehörigen gibt, übernimmt nämlich die öffentliche Wohlfahrt die Kosten für die Pflege.«

 

Inzwischen war die Kutsche vor der herrschaftlichen Villa am Untermainkai angekommen, und Irmgard verabschiedete sich von Sidonie und Johann. Bevor sie ausstieg, hielt sie jedoch plötzlich inne und ließ sich wieder neben dem Fräulein nieder.

»Ich muss Ihnen noch was sagen«, platzte es aus ihr he­raus. »Es betrifft einen Freier. So ein perverser Drecksack, der sich auspeitschen und quälen lässt. Mit dem hatte ich mich ein paar Mal eingelassen, und der hat immer sehr gut gezahlt. Jedenfalls bin ich einmal mit dem in einem Stundenhotel in der Schäfergasse gewesen, und als wir aus dem Zimmer kommen, sind wir der Gerlinde auf dem Flur begegnet. Die hatte auch einen Freier dabei und hat so verschämt geguckt, als sie mich und den Perversen gesehen hat. Und das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, hat sie mir dann erzählt, dass sie den kennt. Das war ihr Dienstherr, der Herr Apotheker, Ottmar Saltzwedel, und ihr war das ganz schön peinlich, dass die dem da über den Weg gelaufen ist. Natürlich hat der Mistkerl sie deswegen nicht zur Rede gestellt, was sie da gemacht hat und so. Der hat ja selbst zu viel Dreck am Stecken. Aber die Gerlinde hat gesagt, dass er sie seither immer so komisch anguckt, und es wäre ihr so mulmig zumute, dass sie sich schon überlegt hätte, sich eine andere Stellung zu suchen. Ich habe oft darüber nachgegrübelt, ob am Ende nicht dieser ekelhafte Widerling etwas mit der Sache zu tun hat. Sicher, der Kerl, mit dem ich die Gerlinde noch kurz vor ihrem Tod gesehen habe, sah anders aus und war mit Sicherheit nicht der Saltzwedel. Aber vielleicht war der junge Stutzer ja gar nicht der Mörder. Ich weiß es nicht genau, aber wenn ich an den Saltzwedel denke und wie abartig der sich gebärdet hat, dreht sich mir förmlich der Magen um. Und glauben Sie mir, in unserem Geschäft erlebt man viel Absonderliches, und ich bin weiß Gott nicht zimperlich. Normalerweise mach ich so was ja nicht. Diskretion wird in unserem Gewerbe groß geschrieben, und ich würde nie mit anderen Leuten über einen Freier reden und schon gar nicht seinen Namen nennen. Deswegen hab ich auch vorhin nichts gesagt. Aber verdammt noch mal! Die Gerlinde ist vergiftet worden, und der Kerl ist Apotheker. Und, unter uns gesagt: Der ist nicht ganz dicht im Oberstübchen. Vielleicht können Sie dem auf den Zahn fühlen.«

5 Der sogenannte ›Frankfurter‹ war ein im Glas servierter Mokka.

6 Frankfurter Redewendung für ›Brötchen‹.