Madame empfängt

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»Ja, das bin ich«, erwiderte Gerlinde erschrocken und fühlte, wie sie rot wurde. Sie hatte den Mann überhaupt nicht kommen sehen. Wie ein Geist war er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und füllte nun ihr Blickfeld mit seiner großen, hageren Gestalt aus. Er verbeugte sich und erkundigte sich höflich, ob er Platz nehmen dürfe. Während er sich gegenüber von Gerlinde niederließ, brachte der Kellner den Wein. Der Mann nestelte sofort nach seiner Brieftasche und beglich die Rechnung. Gerlinde beobachtete ihn verstohlen. Er schien noch jung zu sein, vielleicht in ihrem Alter, was jedoch schwer zu bestimmen war, denn er hatte einen dichten Backenbart, und seine Augen waren von einer dunkel getönten Brille verdeckt. Er war sehr elegant gekleidet und trug einen sandfarbenen leinenen Gehrock. Der lange, schmale Hals war bis zum Kinn von einem Vatermörderkragen umschlossen und mit einer kunstvoll geknoteten Krawatte verschnürt, die auf seine geblümte Seidenweste farblich abgestimmt war. Trotz der Hitze hatte er Handschuhe an und trug den Zylinder aus beigefarbenem Filz tief in die Stirn gezogen.

Ein feiner Pinkel, genau, wie Nelly gesagt hat, ging es Gerlinde durch den Sinn. Für eine Weile herrschte betretenes Schweigen und Gerlinde nippte verlegen an ihrem Wein. Dann räusperte sich der Mann, zückte eine goldene Taschenuhr und warf einen kurzen Blick darauf.

»Meine Liebe, was halten Sie davon, wenn wir in Bälde aufbrechen? Heute ist fürwahr ein herrlicher Tag, und wir könnten doch eine kleine Ausflugsfahrt unternehmen. Vielleicht über Bornheim bis zum Lorberg hin und dort den schönen Ausblick genießen. Und auf der Rückfahrt könnten wir noch irgendwo nachtmahlen. Sie haben doch hoffentlich genügend Zeit mitgebracht?«

»Um halb sieben muss ich wieder in Frankfurt sein, mein Herr!«

»Das sollte uns genügen. Nun denn, erheben Sie sich!«, drängte er zum Aufbruch. Gerlinde ließ ihr halbvolles Weinglas stehen und folgte dem Herrn nach draußen.

Der hat es aber eilig! Man hätte sich ja erst mal ein bisschen in Stimmung trinken können. Ein komischer Heiliger ist das. So rappeldürr und eine Stimme wie eine Frau. Die reinsten Steckenbeine hat der!

Gerlinde betrachtete die langen, dünnen Beine ihres Begleiters in den enggeschnittenen, hellgrauen Bügelhosen, die unter den Schuhen befestigt waren. Beim Hinausgehen tauschte sie noch einen vielsagenden Blick mit Irmgard, die ihr aufmunternd zunickte. Schweigend gingen sie zum nahe gelegenen Friedberger Tor, wo vor den Eingängen der Promenaden mehrere Kutschen und Droschken bereitstanden.

»Meine Liebe, wären Sie vielleicht so freundlich, schon eine Kutsche für unsere Zwecke anzumieten? Sagen Sie dem Kutscher, dass er uns zum Lorberg fahren möge und dass wir unterwegs nicht gestört zu werden wünschen. Sie wissen, was ich meine. Bezahlen Sie am besten im Vo­raus. Hier, das dürfte wohl genügen.« Der Mann gab Gerlinde einige Münzen und erklärte, er halte sich so lange im Hintergrund, und wenn sie alles erledigt habe, solle sie ihm einen Wink geben, er würde dann zusteigen. Als Gerlinde sich den Kutschen näherte, wurde sie von einem der Kutscher, der auf einem Kutschbock saß, mit anzüglichem Grinsen gefragt, ob sie denn wieder eine ›Porzellankutsche‹ benötige. Gerlinde kannte den Mann. Schon mehrfach hatte sie seine Kutsche für ein Rendezvous genutzt, ein in galanten Kreisen weitverbreiteter Brauch. Häufig standen Droschkenkutscher mit Kupplern und Prostituierten in Geschäftsverbindung. Gegen ein entsprechendes Trinkgeld stellten sie bereitwillig ihre Kutsche für ein Stelldichein von Hure und Freier zur Verfügung. Die Wagen waren eigens für solche Zwecke mit blickdichten Gardinen versehen, die man zuziehen konnte, und die Sitze waren besonders weich gepolstert. Auf Wunsch fuhren die Kutscher so langsam und sachte, als hätten sie zerbrechliches Porzellan geladen, weswegen eine solche Fahrt im Volksmund auch als ›Porzellanfuhre‹ bezeichnet wurde. Gerlinde trat an den Kutscher heran, bezahlte ihn und erteilte Anweisung, wohin es gehen sollte. Dann gab sie dem im Schatten eines Baumes wartenden Herrn ein Zeichen, dieser eilte herbei, und beide stiegen ein.

Gleich darauf setzte sich die Droschke in Bewegung, und der vornehme Herr zog sofort die Gardinen vor die Fenster. Im gedämpften Tageslicht saßen sich Gerlinde und ihr Freier im Kutscheninnern gegenüber. Die Stimmung war angespannt. Da zog der Mann ein kleines Päckchen aus seinem Gehrock und reichte es Gerlinde mit den Worten: »Ein kleines Präsent für Sie. Ich hoffe, Sie mögen Pralinen?«

»Vielen Dank, der Herr! Sehr freundlich. Ja, ich nasche für mein Leben gern«, bedankte sie sich artig und bewunderte die kleine Bonbonniere, die in Seidenpapier mit der Aufschrift der feinen Konditorei Krantz eingeschlagen war. Gerlinde freute sich tatsächlich über das nette Mitbringsel. Eine solche Freundlichkeit seitens eines Freiers hatte sie bisher noch nicht erlebt. Deshalb mochte sie ihm nun auch ein wenig entgegenkommen und setzte sich neben ihn. Sie schmiegte sich an ihn und erkundigte sich flüsternd nach seinen Wünschen. Der Mann zuckte zusammen und rückte zur Seite, als wäre ihm die Berührung unangenehm.

»Begebe sie sich doch bitte wieder auf Ihren Platz!«, maßregelte er Gerlinde in kaltem Tonfall, sie in der dritten Person ansprechend, wie man es Domestiken gegenüber für angemessen erachtete und fuhr, ein wenig milder werdend, fort: »Nichts für ungut, aber wir haben ja schließlich noch Zeit genug, und mit Verlaub, ich habe es auch nicht so eilig. Vielleicht können wir uns ja ein wenig unterhalten und, meine Liebe, Sie können doch einstweilen schon einmal von dem Konfekt kosten«, forderte er Gerlinde auf und lächelte sie zum ersten Mal an. Gerlinde erwiderte sein Lächeln und nickte zustimmend.

Was für ein Stockfisch! Dem muss man Zeit lassen. Das wird ein schweres Stück Arbeit werden!

Sie gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich bei ihrem Begleiter um einen sehr schüchternen jungen Mann handeln müsse, der wahrscheinlich noch nie intimen Kontakt zu einer Frau hatte. Andererseits kam er ihr aber auch recht sonderbar vor, und es wurde ihr ganz mulmig in seiner Gegenwart. Mit dem lapidaren Gedanken, dass sie halt an ein verstocktes Söhnlein aus gutem Hause geraten war, rief sie sich wieder zur Räson und öffnete ihr Geschenk. Drei herzförmige Pralinen der Geschmacksrichtungen Nugat, Vollmilch und Zartbitter waren in der mit Spitzenpapier ausgelegten Schachtel angeordnet wie ein dreiblättriges Kleeblatt. Auf einem rosafarbenen Deckblatt aus Seidenpapier befand sich in schwungvollen, goldenen Buchstaben die Aufschrift: ›Viel Glück!‹

Gerlinde war gerührt. »Das kann ich brauchen. Wie schön! Fast zu schade zum Aufessen«, bemerkte sie lächelnd und hielt ihrem Begleiter, bevor sie zugriff, die geöffnete Bonbonniere hin. Der junge Mann lehnte höflich ab. Er mache sich nicht viel aus Süßigkeiten. Gerlinde hatte sich für die helle Nugatpraline entschieden. Während sie die Süßigkeit genüsslich auf der Zunge zergehen ließ, musste sie plötzlich an ihre Buben denken. Sie wird die restlichen Pralinen für die beiden aufheben und sie ihnen das nächste Mal mitbringen. Aber so gut schmeckt die Praline gar nicht, sie schmeckt irgendwie bitter, dachte sie dann bei sich.

Gerlinde spürte auf einmal ein unangenehmes Brennen und Kribbeln am ganzen Körper, und es wurde ihr so kalt, dass sie zu schlottern anfing. Mit klappernden Zähnen wollte sie ihren Begleiter um Hilfe bitten, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie kriegte kaum noch Luft und hatte das Gefühl zu ersticken. In wilder Panik wollte sie die Kutschentür öffnen, doch sie konnte sich nicht mehr rühren.

Gerlindes Todeskampf dauerte zehn Minuten. Bei vollem Bewusstsein durchlebte sie die schlimmsten Todesqualen. Sah mit schreckgeweiteten Augen, die ihre Pein nur allzu deutlich widerspiegelten, wie ihr Begleiter sie die ganze Zeit mit regem Interesse beobachtete, dass er einen Schreibblock gezückt hatte, auf dem er sich eifrig Notizen machte.

Das Letzte, was sie vor ihrem Tod wahrnahm, war die grausame Kälte, die von ihm ausging, und viel zu spät erkannte sie, dass es kein Mensch war, der mit ihr in der Kutsche saß, sondern eine Bestie. Eine Bestie ohne jegliches Mitgefühl.

3 ›Batzen‹ = umgangssprachlich für Münzen von geringem Wert.

2

Das Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, wurde von dem Droschkenkutscher Heinrich Schuch am Samstagabend gegen halb sechs tot in der Kutsche aufgefunden. Der aufgeregte Mann entschied sich, die Polizei zu verständigen, und fuhr mit der Ermordeten in der Kutsche vom Lorberg zurück nach Frankfurt. Der Beamte, der an diesem Sommerabend in der Amtsstube der Hauptwache Dienst tat, reagierte unwillig auf Schuchs Anliegen: »Für Mord und Totschlag bin ich net zuständig«, erklärte er dem Droschkenkutscher bärbeißig.

»Und wer ist dafür zuständig?«, erkundigte sich Schuch.

»Der Herr Oberinspektor Brand, der ist aber momentan net da.«

»Und wo ist der Herr Oberinspektor? Hätten Sie vielleicht die Güte, ihn herzuholen? Ich hab nämlich da draußen eine Leiche in der Kutsche, und keine Lust, die noch ewig spazieren zu fahren!«, entgegnete der Droschkenkutscher aufgebracht.

»Der ist beim Nachtmahlen drüben im ›Gesegneten Häuschen‹ am Römer. Ei, ich kann aber jetzt net fort, den holen gehen. Die Wache muss ja besetzt bleiben. Da müssen Sie halt warten, bis der wiederkommt. Des kann aber noch ein bisschen dauern, denn der ist grad erst vor einer Viertelstunde fortgegangen.«

»Also, das geht doch werklich net! Was seid ihr dann für Schlafmütze hier! Da werd ich mich beim Bürgermeister beschweren. Ich hab meine Zeit ja auch net gestohlen.«

»Ei, jetzt halte Sie aber mal die Füße still! Ich geh mal gucken, ob ich draußen einer von de Graumänner4 rummachen seh.«

 

Nachdem dieser Vorstoß tatsächlich von Erfolg gekrönt und ein Mann der freiwilligen Bürgerwehr unterwegs war, um den Inspektor zu benachrichtigen, dauerte es noch eine gute halbe Stunde, bis dieser endlich in der Hauptwache eintraf.

Oberinspektor Klaus Brand wirkte weniger wie eine Amtsperson, sondern eher wie ein in die Jahre gekommener Lebemann. Seine Kleidung war von nachlässiger Eleganz, und Schuch fiel auf, dass er nach Wein roch. Offenkundig verärgert darüber, bei seiner Vesper gestört worden zu sein, war sein Ton gegenüber Schuch gereizt. Er forderte ihn auf, zunächst einmal zu beschreiben, wie sich alles zugetragen hatte, und stopfte sich in aller Ruhe eine Tabakspfeife.

Der Droschkenkutscher berichtete, dass die junge Frau um kurz vor halb fünf bei ihm eine Kutsche angemietet und im Voraus bezahlt habe. Als Fahrtziel habe sie den Lorberg oberhalb des Dörfchens Bornheim angegeben. Kurz vor der Abfahrt sei dann noch ein Mann zugestiegen.

»Können Sie den beschreiben?«, erkundigte sich Brand.

»Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich hab doch vorne auf dem Kutschbock gesessen und der kam von hinten. Ich hab von oben eigentlich nur gesehen, dass er einen hellen Zylinderhut aufhatte, und dann ist er auch schon in der Kutsche verschwunden.«

»Das ist ja mehr als dürftig«, erwiderte der Inspektor vorwurfsvoll.

Schuch zuckte mit den Achseln und brummelte, dass er es nicht ändern könne. Der Inspektor befahl ihm, weiter zu berichten.

»Dann war weiter nix mehr, und als wir auf dem Lorberg angekommen sind, hab ich von oben an die Kutsche geklopft und laut gerufen, dass wir da sind. Doch da hat sich nix gerührt. Da hab ich einen Augenblick gewartet und noch mal gerufen. Und als sich dann immer noch nix gerührt hat, bin ich vom Kutschbock gestiegen und hab nachgeguckt, und da hab ich die Frau drinnen liegen sehen. Das war kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen. Die hat so verkrümmt dagelegen und ihr Gesicht war furchtbar aufgedunsen! Ganz furchtbar! Und da hab ich mir gleich gedacht, dass da was net stimmen kann, und bin hierhergefahren.«

»Haben Sie den Mann noch gesehen?«

»Nein, der war längst über alle Berge. Ist bestimmt während der Fahrt ausgestiegen. Davon hab ich aber nichts mitgekriegt.«

»Gut, dann gehen wir jetzt zur Kutsche, damit ich mir die Tote ansehen kann. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, das von Belang sein könnte?«

»Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist, aber ich hab die Frau schon öfter gefahren. Die war immer in Herrenbegleitung, und manchmal ging es da drinnen in der Kutsche auch ein bisschen galant zu, wenn Sie wissen, was ich meine.« Schuch senkte verschämt den Blick.

»Nein, das weiß ich nicht!«, entgegnete der Inspektor barsch und ersuchte den Kutscher um eine genauere Aussage.

»Ei ja, wenn Sie’s genau wissen wollen, die war’n da drinnen halt am Pimpern.«

»Und war das immer der gleiche Mann, der mit der Frau in die Kutsche gestiegen ist, oder waren das verschiedene Männer?«

»Das waren, soweit ich mich erinnern kann, immer verschiedene Männer.«

»Also handelt es sich bei der da draußen um ein liederliches Frauenzimmer. Ich guck mir die jetzt mal an. Vielleicht ist die ja gar nicht tot, sondern hat einfach nur zu viel Branntwein gesoffen. Das wär ja nicht das erste Mal, bei solchen Weibern!« Brand erhob sich widerwillig von seinem Schreibtischstuhl.

Nach einer kurzen Begutachtung der Toten ließ der Inspektor das anatomische Institut des Senckenbergianums verständigen, um die Leiche abzuholen und zu sezieren. Die Handtasche, ein violetter Pompadourbeutel aus Satin, die neben der Leiche auf der Kutschenbank lag, hatte Brand an sich genommen. Darin befanden sich ein Fläschchen Rosenöl, ein Taschentuch, eine Geldbörse mit 25 Kreuzern, ein Hornkamm sowie ein Schlüsselbund. Sonstige Dinge, die Hinweise auf die Identität der Toten hätten liefern können, waren nicht vorhanden.

Am Montagmorgen erstattete der Städtische Leicheninspektor, Heinrich Hoffmann, Bericht, demzufolge die Tote an einer Atemlähmung gestorben war, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem toxischen Stoff verursacht worden war. Da sich allerdings keinerlei Rückstände im Blut und den Organen nachweisen ließen, mutmaßte der Leichenbeschauer, es müsse sich um ein Gift mit sehr kurzer Zerfallszeit handeln. Diesbezüglich mochte sich Doktor Hoffmann jedoch noch nicht genauer festlegen. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, die er aber erst genauer prüfen müsse.

Nachdem eine natürliche Todesursache bei der gesunden jungen Frau laut Doktor Hoffmann eindeutig auszuschließen war, stellte sich für den ermittelnden Polizeiinspektor die Frage, ob es sich hier um eine Selbst- oder Fremdtötung handelte.

Bereits am Tag darauf klärte sich für den Inspektor glücklicherweise auf, wer die Tote war. Ihre Herrschaft, das Ehepaar Saltzwedel, hatte, nachdem ihr Dienstmädchen bereits den zweiten Tag abgängig war, eine Vermisstenmeldung eingereicht. Die Identifizierung der Leiche durch den Herrn Apotheker Ottmar Saltzwedel erwies, dass es sich bei der jungen Frau tatsächlich um die Kammerjungfer Gerlinde Dietz handelte.

Aufgrund der Befragung ihrer Herrschaften und ihrer Tante Emilie Dietz aus Offenbach, die übereinstimmend aussagten, dass die Tote weder jemals Selbsttötungsgedanken geäußert habe, noch in ihren Lebensumständen ein plausibler Grund für eine solche Tat vorhanden sei, musste im Fall der jungen Frau von einem Mord ausgegangen werden. Bezüglich Täter und Motiv tappte die Polizei im Dunkeln. Von dem liederlichen Nebenerwerb der jungen Frau, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit neben ihrer Tätigkeit als Dienerin als Prostituierte betätigte, wussten weder ihre Herrschaften noch ihre Tante und zeigten sich darüber sehr betroffen.

In den Augen Inspektor Brands gewann der Fall dennoch an Klarheit: Gerlinde Dietz war Mutter von zwei unehelichen Kindern und führte zudem noch einen höchst unsoliden Lebenswandel, indem sie neben ihrer Tätigkeit als Dienstmagd der Prostitution nachging. In einem solchen Milieu seien ja Mord und Totschlag an der Tagesordnung, erklärte der Inspektor der Journaille gegenüber. Man müsse hier vermutlich von Mord aus niederen Beweggründen wie etwa Eifersucht oder Neid ausgehen.

Im Frankfurter Konversationsblatt war zu lesen, dass es sich bei dem ermordeten Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, um die gestrauchelte Tochter anständiger Frankfurter Bürger gehandelt habe, die nichts unversucht gelassen hätten, die Widerspenstige wieder auf den rechten Weg zu führen. Doch leider hätten sie dafür nur Undank geerntet. Die braven Leute wären über das schlimme Ende von Gerlinde untröstlich, obgleich sie, nach den Bekundungen der Mutter, so etwas schon immer hätten kommen sehen. Gerlinde Dietz war, wie der renommierte Zeitungsschreiber Schirrmann dank sorgfältiger Recherche und Befragung im Umfeld der Toten herausfand, eine leichtlebige, verantwortungslose Person, der einzig die Ausschweifung etwas bedeutet hatte. Um ihrem Lotterleben ungezügelter frönen zu können, hatte sie ihre beiden Kinder zu einer alten Tante abgeschoben und sich kaum mehr um die armen Würmchen gekümmert. Gottlob war die Städtische Fürsorge durch den schrecklichen Vorfall auf das Elend der Kinder aufmerksam geworden und hatte sie in ein Waisenhaus eingewiesen.

Inspektor Brand, der den Mörder im Prostituierten-Milieu vermutete, ließ in den folgenden Wochen verstärkt Razzien in den Bezirken der Straßenprostitution vornehmen, die bekanntlich auch von Gelegenheitsprostituierten aufgesucht wurden. Mehrere Huren, überwiegend he­runter­gekommene Straßendirnen, wurden in Arrest genommen und verhört. Keine von ihnen war jedoch auch nur annähernd in der Lage, stichhaltige Hinweise zur Aufklärung des Giftmordes zu liefern. Alle Frauen erklärten übereinstimmend, die Ermordete weder persönlich gekannt noch jemals in den Gegenden des Straßenstrichs gesehen zu haben.

Als sich in der folgenden Zeit ein Großteil des Frankfurter Gendarmerie-Korps und der freiwilligen Bürgerwehr zu nachtschlafender Zeit in den stillen Winkeln des Rossmarkts und der Mainzergasse herumdrückte, sich am Leonhards Tor und an der Rückseite des Römer-Rathauses gegenseitig auf die Füße trat, und die versteckten Winkel der Wall-Anlagen ebenso durchstreifte wie das gesamte Klapperfeld, blieben die Huren und ihre Kundschaft allmählich weg. Die Gassendirnen verfluchten die Allgegenwart der Ordnungshüter, die ihnen das Geschäft ruinierten, und waren schon dabei, sich neue Schlupfwinkel auszusuchen, als die für sie so lästigen Streifzüge endlich ein Ende fanden.

Schließlich sah Oberinspektor Brand ein, dass derartige Ermittlungen ihn nicht weiterbrachten. Überdies gelangte er mehr und mehr zur Überzeugung, dass weitere Nachforschungen im Falle Dietz vergebliche Liebesmüh waren, und die Aufklärung des Giftmordes verlief im Sande. Bald schwieg auch die Tagespresse und kaum ein Frankfurter zerbrach sich noch den Kopf über das vergiftete Dienstmädchen Gerlinde Dietz, die ja, wie jedermann inzwischen wusste, ein schlimmes Frauenzimmer war, und da brauchte man sich über ein ebensolches Ende nicht zu wundern.

4 Seit dem Frankfurter Wachensturm von 1833 war von einigen beherzten Bürgern mit Metzgermeister Martin May und dem Bierbraumeister Balthasar Rupp eine Bürgerschutzwache aufgestellt worden, in die alle Nicht-Stadtwehrpflichtigen eintreten sollten. Als Erkennungszeichen trugen sie eine graue Armbinde. Die Frankfurter nannten diese freiwillige Bürgerwehr ›Graumänner‹.

3

Sidonie Weiß saß wie jeden Abend an ihrem Sekretär und schrieb, was ihr momentan gar nicht so recht von der Hand gehen mochte, denn sie musste immer wieder an das ermordete Dienstmädchen denken und daran, was ihr der kleine Rudi Schickel heute früh erzählt hatte. Wie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel, warf sie einen Blick auf den gerahmten Scherenschnitt Friedrich Hölderlins, der über ihrem Schreibtisch hing. Unter dem Porträt des Dichters stand ein Zitat aus dem ›Hyperion‹:

›Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie.‹

Welch ein Genie, ging es dem Fräulein beim Anblick des Porträts durch den Sinn, und eine tiefe Wehmut erfasste sie. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Rotweinglas und beschloss, eine Pause einzulegen. Zuweilen beflügelte sie das Bildnis Hölderlins und entlockte ihr die wunderbarsten Gedanken. Manches Mal aber überkam sie bei seiner Betrachtung eine lähmende Trübsal, der sie sich ganz und gar hingab. Zumindest für eine kleine Ewigkeit. Für eine kleine Ewigkeit, die sie sich zugestand und gleichzeitig auch begrenzte. Denn früh hatte sie gelernt, dass sich die Welt wieder drehen musste, damals, als sie ihm begegnete, im Hause ihrer Cousine, Susette Gontard.

Es gibt ein Gegengift, selbst für die Unbill einer unerwiderten Liebe!

Sidonie trat ans Fenster und öffnete die beiden Flügel. Eine frische Abendbrise wehte ihr entgegen. Sie schaute hinunter auf die Töngesgasse. Es dämmerte bereits. Über den Häusergiebeln konnte sie schon den Abendstern erkennen. An dem milden Spätsommerabend war die Gasse voller Leben. Junge Leute standen lachend und scherzend vor den Häusern, Gassenkinder tollten herum, Frauen saßen am Fenster und hielten einen Plausch mit der Nachbarin, und die Männer kamen von der Arbeit nach Hause. Während das Fräulein verschiedene Leute grüßte und Grüße erwiderte, hielt sie Ausschau nach Rudi. Bald konnte sie den Jungen in einer Gruppe von Kindern ausmachen, die Fangen spielte. Sie rief nach ihm. Der Junge unterbrach sein Spiel, kam herbeigelaufen und erkundigte sich, mit hochgerecktem Kopf unter dem Fenster stehend, was das Fräulein von ihm wolle.

»Komm bitte morgen früh um acht Uhr zu mir, mein Junge. Dann gehen wir zusammen zur Hauptwache, und du sagst dem Inspektor alles, was du mir heute Vormittag erzählt hast!«, teilte ihm das Fräulein in freundlichem, aber bestimmtem Tonfall mit, der keinen Widerspruch duldete.

»Ach, Fräuleinsche, ich will aber net auf die Gendarmerie! Könne Sie da net allein hingehen und denen erzählen, was ich Ihnen gesagt hab?«, erkundigte sich Rudi flehend.

»Nein, es ist wichtig, dass du mitkommst. Du brauchst dich doch nicht vor denen zu fürchten, du hast ja schließlich nichts ausgefressen, oder?«, bemerkte Sidonie schelmisch. »Komm, sei nicht so ein Angsthase, so kenn ich dich ja gar nicht. Außerdem bin ich ja dabei. Also sei bitte pünktlich. Ach, warte mal, hier hast du noch was.« Sidonie warf dem Jungen einen Apfel zu und begab sich wieder an ihr Schreibpult.

 

Fast trotzig blickte sie auf das Gemälde, das über dem Konterfei Hölderlins an der Wand angebracht war. Es stammte aus dem späten Mittelalter und war das Porträt ihrer Ahnin, Katharina Weiß von Limpurg, der Sidonie mit ihren kupferroten Haaren, der feinen, bleichen Stirn und den meergrünen Augen auffallend glich. Katharina war eine sehr gebildete, kultivierte Dame. Sie sprach und schrieb fließend Latein und verfasste Chroniken sowie eine Vielzahl gelehrter und erbaulicher Schriften. Sidonie, die sich seit ihrer frühen Jugend schriftstellerisch betätigte, war sie ein großes Vorbild.

Wundersam getröstet, ergriff sie ihre Feder und schrieb bis nach Mitternacht weiter.

Sidonie Weiß, die im ausgehenden 18. Jahrhundert als einzige Tochter einer vornehmen, aber verarmten Frankfurter Patrizierfamilie geboren worden war, schrieb seit nunmehr 35 Jahren und hatte in dieser Zeit über 20 Bücher veröffentlicht. Ihre Kriminalromane und Schauergeschichten erfreuten sich weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus großer Beliebtheit, bekannt war sie vor allem aber auch durch ihre Liebesgedichte. In den vornehmen Literarischen Salons Frankfurts, in denen Sidonie ihre Werke gelegentlich zum Vortrag brachte, fragte man sich im Stillen, wie es kam, dass eine blaustrümpfige, alte Jungfer, als die das Fräulein doch bei aller Liebenswürdigkeit gelten musste, in der Lage war, derart ergreifende Liebesempfindungen zu Papier zu bringen.

Sidonies Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber. Als Sidonie fünf Jahre alt war, erlag ihr Vater der Schwindsucht. Die Waise fand Aufnahme in der Familie ihres wohlhabenden Onkels, Christian Koch, wo sie gemeinsam mit ihren drei Cousins und der drei Jahre älteren Cousine Susette aufwuchs und erzogen wurde. Susette war für Sidonie bald wie eine geliebte Schwester, und Sidonie wurde wie eine leibliche Tochter behandelt. Sie erfuhr alle Vorzüge eines wohlhabenden, großbürgerlichen Haushalts und erhielt eine Erziehung, wie sie höheren Töchtern zukam. Im Gegensatz zu ihrer hübschen Cousine Susette war Sidonie mit ihren roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem leichten Silberblick nicht gerade eine Schönheit. Während sich im Hause Koch die jungen Kavaliere um Susette förmlich zu drängen begannen, schätzte man die unscheinbare Sidonie wegen ihrer Gutartigkeit höchstens als liebe Freundin. Schon früh hatte sie sich, ohne je darüber zu murren, mit ihrer Rolle als Mauerblümchen abgefunden. Während andere junge Damen von nichts anderem als von Bällen und Gesellschaften sprachen, interessierte sich Sidonie nur für Bücher, was dazu führte, dass sie bereits in jungen Jahren außerordentlich gebildet war – weitaus gebildeter, als man es einer Dame der Gesellschaft zubilligte. Sie begann, Geschichten und Gedichte zu schreiben, und versäumte kaum einen Literarischen Zirkel, der in den großbürgerlichen Salons Frankfurts abgehalten wurde. Ihre ganze Liebe und Verehrung galt der Literatur, und sie hatte das große Glück, zahlreichen namhaften Dichtern und Gelehrten persönlich zu begegnen.

Als Susette schließlich den Frankfurter Bankier, Jakob Gontard, heiratete, holte sie Sidonie als ihre engste Vertraute zu sich in die Villa Gontard, um in dem riesigen, kalten Mausoleum, wie sie es zu nennen pflegte, nicht so allein zu sein, denn ihr Gatte verbrachte weitaus mehr Zeit in seinem Bankhaus als mit seiner jungen Gemahlin. Sidonie, die Susette förmlich vergötterte, stellte ihre eigene Existenz wie selbstverständlich in den Dienst der schönen Cousine. Sie stand ihr während ihrer Schwangerschaften bei und wurde der keineswegs glücklich verheirateten Susette zur Seelentrösterin. Im Jahre 1796 stellte Jakob Gontard für seine Söhne den jungen Friedrich Hölderlin als Hauslehrer ein. Schon bald verliebte sich der Dichter in Susette, die ihrerseits, mit ihrer Ehe unzufrieden, Hölderlins Zuneigung erwiderte und eine heimliche Liaison mit ihm einging. Die beiden Verliebten bemerkten nicht, dass Sidonie, Susettes guter Geist, auf ihre stille, verhaltene Art ebenfalls in den jungen Dichter verliebt war. Diese Liebe blieb für Sidonie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Einzig ihrer Feder öffnete sie ihr Herz und ließ ihren Gefühlen so freien Lauf.

Als Gontard im Jahre 1800 schließlich von der Liebe seiner Frau zu dem Hauslehrer erfuhr, musste Hölderlin das Haus der Bankiersfamilie verlassen. 1802 starb Susette, die sich bei einem ihrer Söhne angesteckt hatte, an Röteln. Sidonie, die sich mit dem Hausherrn nie besonders gut verstanden hatte, zog daraufhin aus und siedelte in ihr Elternhaus in der Töngesgasse über, das in der Frankfurter Altstadt gelegen war. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst im heiratsfähigen Alter, und ihr bleiches, sommersprossiges Gesicht mit den meergrünen Augen entbehrte nicht einer gewissen Anmut. So fand sich auch ein junger Verehrer, der die Schönheit von Sidonies Seele erkannte und sich in das zarte Geschöpf verliebte. Doch Sidonie, die ihr Herz unwiederbringlich an Hölderlin verloren hatte, lehnte den Antrag ab. Sie blieb unverheiratet, und inzwischen war sie zwar ein spätes Mädchen, mitnichten aber eine verbitterte, alte Jungfer. Neben der Schriftstellerei widmete sie sich der Armenfürsorge. Verwendete sie anfangs noch ihre eigenen, bescheidenen Mittel, den armen, kinderreichen Familien in der Nachbarschaft mit Milch, Lebensmitteln und Kleidern auszuhelfen, so war sie mittlerweile dazu übergegangen, wohlhabende Bürger für ihre mildtätigen Zwecke zu gewinnen.

Sidonie, die in Frankfurt allgemein nur ›das Fräulein‹ genannt wurde, war wie alle Ledigen und Alleinstehenden eine Außenseiterin in einer Gesellschaft, die das Familienideal über alles stellte. In den großbürgerlichen Salons bewunderte und schätzte man die Schreibkunst der Dichterin, empfand die freigeistige Intellektuelle indessen als suspekt. Nicht nur deshalb, weil sie bei gesellschaftlichen Anlässen mehr als schlicht, mitunter sogar nachlässig gekleidet war, war auch die Konversation mit ihr keineswegs so, wie man das in gehobenen Kreisen für angemessen erachtete. Sidonie Weiß galt als eigensinnig. Mit ihrer Meinung hielt sie nicht hinterm Berg und war weit davon entfernt, sich lieb Kind machen zu wollen. Ihre gelebte Devise, dem Gassenkehrer mit der gleichen Höflichkeit zu begegnen wie dem Bürgermeister, sorgte beim Frankfurter Großbürgertum, das gerne auch mit der hochdotierten Bundestagsdiplomatie aus dem Palais Thurn und Taxis gesellschaftlichen Umgang pflegte, für Unbehagen. Wollte man doch im Dunstkreis eines Fürsten von Metternich nicht etwa den Eindruck erwecken, man trage sich mit liberalem Gedankengut. Unverfänglicher dagegen waren für die tonangebende Oberschicht die Wohltätigkeitsaktivitäten des Fräuleins. In einer Stadt, der man nachsagte, dass nur das Geld den Lebensinhalt bestimme, war den Angehörigen des Geldadels durchaus daran gelegen, Bürgersinn zu beweisen, und zu allen Zeiten hatte man in Frankfurt eifrig gesammelt und gespendet, um Kultur und Wissenschaft zu fördern und die ärgste Not der armen Leute zu lindern – solange man das blanke Elend nicht vor der eigenen Haustür hatte. Sidonie hingegen, die mitten in der Frankfurter Altstadt lebte, war umgeben von armen, kinderreichen Familien. Und obgleich sie auch hier aufgrund ihres privilegierten Standes nicht richtig dazugehörte, war sie doch alles andere als ein distanzierter Zaungast.

Wirklich wohl fühlte sich Sidonie nur an ihrem Schreibtisch, was ihr jedoch nicht den Blick auf die Wirklichkeit trübte. Sie kannte die Elendsquartiere der Altstadt, in deren drangvoller Enge die Menschen zusammengepfercht waren wie Tiere im Stall. Und wenn es nicht die Schwindsucht war, die die Menschen hinwegraffte, war es der Branntwein. Um der ungesunden Beengtheit der Behausungen zu entkommen, verbrachten die Kinder oftmals den größten Teil des Tages auf der Straße. Die meisten Gassenkinder waren genau wie ihre Mütter gezwungen, mit dazuzuverdienen, denn der Lohn des Vaters reichte kaum für das Nötigste. Arbeiteten die Mütter stundenweise als Zugehefrauen oder Wäscherinnen in den Häusern der Höhergestellten, so fegten die Kinder Höfe, erledigten Botengänge und Besorgungen, trugen Lasten oder verkauften Backwaren auf öffentlichen Plätzen und Anlagen an Flaneure. Sidonie wusste, dass viele der Kinder Hunger litten, denn obgleich in den ärmlichen Haushalten sparsam gewirtschaftet wurde und alle anfallenden Nahrungsreste bis zum Äußersten verwässert und gestreckt wurden, reichten die kargen Mittel kaum aus, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Das Fräulein versuchte seit vielen Jahren, den Armen zu helfen, indem sie mehrere Suppenküchen in der Altstadt ins Leben gerufen hatte, wo arme Leute jeglichen Alters die Möglichkeit haben sollten, sich kostenlos satt zu essen. Außerdem erhielten die Kinder bedürftiger Familien in ihrem Haus in der Töngesgasse täglich einen Becher frische Milch. Da dies sehr gut angenommen wurde und dazu beitrug, den Mangelerkrankungen der Heranwachsenden ein wenig vorzubeugen, trug sich Sidonie inzwischen mit dem Gedanken, das Erreichte auszuweiten. Sie plante, in sämtlichen Regionen Frankfurts, dort wo die Not am größten war, kleine Milchbuden errichten zu lassen. Weil ihr indessen die Mittel zur Umsetzung noch fehlten, hatte sie vor, demnächst in den Kreisen der Wohlhabenden dafür zu sammeln.