Die Schrecken des Pan

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Z serii: Baker Street
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Am Sonntag, den 11. Februar 1923, ging es Raoul, der von Crowley in den Rang eines Hohepriesters berufen worden war, so schlecht, dass Betty hinunter nach Cefalù eilte, um den Landarzt Doktor Maggio, der Raoul in letzter Zeit schon häufiger behandelt hatte, zu verständigen.

»Sie haben ja selbst gesehen, wie schlimm seine Arme aussehen«, sagte sie atemlos, als sie gemeinsam mit dem Arzt den steilen Weg zur Abtei hinaufstieg. »Der ständige Blutverlust ruiniert seinen ohnehin schon geschwächten Körper, ganz zu schweigen von der dürftigen Ernährung und den vielen Drogen, mit denen er sich zugrunde richtet. Und da ist noch etwas …« Sie stockte und musterte den Doktor vorsichtig. »In der Abtei gab es eine Katze und seit einiger Zeit ist sie nicht mehr da«, fuhr sie schließlich fort und barg vor Entsetzen ihr Gesicht in den Händen. »Sie haben sie geopfert und ihr Blut getrunken, diese kranken Schweine! Dadurch ist Raoul vergiftet worden.«

»Sind Sie sicher?« Doktor Maggio blickte skeptisch. »Das ist ja abscheulich! Können Sie den jungen Mann denn nicht dazu bewegen, mit Ihnen gemeinsam nach England zurückzukehren?«

Betty seufzte bekümmert. »Das versuche ich ja bereits seit einem Vierteljahr, doch er will einfach nichts davon hören. Schon in London habe ich ihn angefleht, nicht zu Crowleys Abtei zu fahren und stattdessen wieder sein Geschichtsstudium in Oxford aufzunehmen, zumal er so blitzgescheit ist. Doch er ließ nicht mit sich reden und war von der Idee, Crowleys Adept zu werden, wie besessen. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, dieser Satan hat ihn verhext, aber ich glaube nicht an so einen Schei…, äh, Unsinn.«

»Ein Mann wie Aleister Crowley ist durchaus in der Lage, leicht beeinflussbare Menschen zu manipulieren. Insbesondere solche, die einen Meister suchen, und das scheint mir bei Signore Loveday der Fall zu sein. Wenn er so weitermacht, stirbt er, und das wäre jammerschade, erst recht, wo er noch so jung ist. Ich werde ihm nachher noch einmal ins Gewissen reden, aber ob das etwas nützt, ist eine andere Frage. Wenn er schon auf Sie nicht hört, Signora, wo Sie doch seine Ehefrau sind, wird er sich von mir erst recht nichts sagen lassen.«

Nachdem der Arzt Raouls Bauch abgetastet hatte, erklärte er ernst, dass die Leber und die Milz stark entzündet seien und sein Patient eigentlich ins Krankenhaus gehöre. »Auch den blutigen Durchfall halte ich für höchst bedenklich. Leider haben wir in Cefalù kein Krankenhaus, da müssten Sie schon nach Palermo fahren«, wandte er sich an Betty, die angespannt zuhörte.

»Wir haben aber kein Auto zur Verfügung, also müssten wir entweder mit dem Autobus oder dem Passagierdampfer fahren, doch das wird für Raoul zu strapaziös.«

»In der Tat«, bestätigte Doktor Maggio und übergab Betty ein Medikament mit der ausdrücklichen Anweisung, dem Patienten nur abgekochtes Wasser zu trinken zu geben. »Wenn etwas ist, melden Sie sich – und vergessen Sie bitte nicht, die Rechnung zu begleichen! Da ist auch vom letzten Mal noch etwas offen.“ Ehe er sich auf den Heimweg machte, beschwor er Raoul eindringlich, die Finger von den Drogen zu lassen und unbedingt mehr auf seine Gesundheit zu achten. »Und hören Sie um Gottes Willen mit dieser Selbstverstümmelung auf!« Er wies auf Raouls Unterarme, die von blutigen Streifen übersät waren. »Sie bringen sich damit noch ins Grab«

Raoul war viel zu geschwächt, um ihm zu antworten. Er nickte nur apathisch.

Zwei Tage später ging es Raoul so schlecht, dass Crowley persönlich Doktor Maggio herbeirief. Der Arzt diagnostizierte eine akute Entzündung des Dünndarms und ließ Betty und den Okkultisten wissen, dass der Zustand des Patienten lebensbedrohlich sei und mit dem Schlimmsten gerechnet werden müsse. Betty begleitete den Arzt nach Cefalù, wo sie Raouls Eltern ein Telegramm schickte, um sie über den lebensgefährlichen Zustand ihres Sohnes in Kenntnis zu setzen. Anschließend schickte sie eine Depesche an das Britische Konsulat in Palermo, worin sie Crowley beschuldigte, ein gefährlicher Geisteskranker zu sein, der für den desolaten Gesundheitszustand ihres Gatten verantwortlich sei. Als sie zur Abtei zurückkehrte – sie hatte zuvor in Cefalù etliche Cognacs gekippt, da ihr vor Aufregung die Knie schlotterten und sie das Gefühl hatte, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen –, kam es zwischen ihr und Crowley, der sie in Empfang nahm, zu einem Eklat.

»Er wird sterben«, sagte Crowley in sinisterem Tonfall. »Ich habe eben das I Ging zu Rate gezogen. Das Orakel hat mit dem Hexagramm ›Auflösung‹ geantwortet, das deutet klar auf Tod hin.«

Das war zu viel für Betty. Ihre ganze Erbitterung gegen den Magier brach sich Bahn und sie bekam einen heftigen Wutanfall, bei dem sie Gläser zertrümmerte und einen Krug nach Crowley warf, der seinen Kopf nur haarscharf verfehlte. »Du perverser Drecksack hast Raoul auf dem Gewissen!«, schrie sie außer sich.

Als Crowley versuchte, sie festzuhalten, trat sie nach ihm und schlug ihm mit der Faust auf die Nase. Schwester Ninette und die scharlachrote Frau, die in die Halle stürmten, um den Streit zu schlichten, wurden von ihr als Schlampen und Schlimmeres beschimpft. In dem allgemeinen Tohuwabohu wurde plötzlich die Tür geöffnet und Raoul, der nur noch wie ein wandelndes Gerippe war, wankte herein, bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, und brach entkräftet zusammen. Betty eilte zu ihm hin, bettete seinen Kopf auf ihrem Schoss und brach haltlos in Tränen aus. Wenig später trugen ihn Crowley und die drei Frauen ins Zimmer zurück, wo sie ihn behutsam aufs Bett legten.

Am 16. Februar 1923 starb Raoul Loveday mit erst dreiundzwanzig Jahren. Betty, die nur kurz aus dem Zimmer gegangen war, fand ihn tot in seinem Bett. Sie schrie entsetzt auf und fiel in Ohnmacht. Als sie nach geraumer Zeit wieder das Bewusstsein erlangte, saß Crowley an Raouls Totenbett, während Schwester Ninette und Alostrael weinend an seiner Seite standen.

»Er verließ uns ohne Angst oder Schmerzen«, sagte der Magier mit stoischer Ruhe. »So als wäre er hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen. Als sein Werk erfüllt war, erlosch er wie ein Zündholz, das meine Zigarre angezündet hatte.«

Betty hätte dem Zyniker am liebsten ins Gesicht geschlagen, doch aus Achtung vor dem Verstorbenen unterließ sie es.

Am nächsten Morgen wurde die Totenbahre mit dem Sarg aus der Abtei getragen. Meister Therion, in einen langen Kapuzenumhang aus weißer Seide gehüllt, schritt dem Trauerzug auf dem Bergpfad, der zum örtlichen Friedhof führte, voran. Dahinter folgten die am ganzen Körper bebende Betty und Crowleys weinende Konkubinen. Die beiden Kinder Hansi und Howard, wie der Vater in weiße Seidengewänder gekleidet, trugen Blumenkränze auf den Köpfen und sprangen ausgelassen um den Sarg herum.

»Wir werden Raoul beerdigen, wir werden Raoul beerdigen«, jauchzte Hansi übermütig und hätte mit der unvermeidlichen Zigarette, die er glimmend in der Hand hielt, einem der Leichenträger fast ein Loch in die Hose gebrannt.

Nachdem ihr das Britische Konsulat die Fahrkarte bezahlt hatte, kehrte Betty nach London zurück. Gleich nach ihrer Ankunft erstattete sie bei Scotland Yard Anzeige gegen Crowley. Sie beschuldigte ihn, für den Tod ihres Ehemanns verantwortlich zu sein, weil er ihn bei einem Ritual gezwungen habe, Katzenblut zu trinken. Anschließend gab sie dem Sunday Express ein Interview zu Raouls Tod. Ihre Skandalgeschichten ließ sie sich teuer vergüten. Sie berichtete von ominösen schwarzen Messen, bei denen Crowley mit einem Ziegenbock kopuliert und ihm danach die Kehle durchgeschnitten habe, woraufhin er und seine Anhänger sich im Blut des Bockes gesuhlt hätten. Außerdem verwahre der Magier in seiner Nachtkonsole ein schwarzes Kästchen mit fünf blutverkrusteten Krawatten, die laut seiner Aussage Jack the Ripper bei seinen Morden getragen habe. Crowley kenne den Ripper und stehe mit ihm in Kontakt. Er sei ein mächtiger Schwarzmagier, der den Zauber beherrsche, sich unsichtbar zu machen, daher sei er auch nie gefasst worden.

In den darauffolgenden Tagen und Wochen übertrafen sich die Skandalblätter förmlich in der Schlammschlacht gegen Crowley. »Neue finstere Enthüllungen über Aleister Crowley«, »Der Zauberer der Verderbtheit«, »Der böseste Mann der Welt«, »Der Mann, den wir gerne aufhängen würden!«– so lauteten die Schlagzeilen der Sensationspresse.

Crowley schwor vor Gericht, dass Betty Mays Bezichtigungen gegen ihn nichts als böswillige Lügen seien. »Es gab kein Tieropfer und ich habe Raoul Loveday auch nie gezwungen, Katzenblut zu trinken«, beteuerte er unter Eid.

Während der Verhandlung stellte sich zwar heraus, dass Betty den Sunday Express von Anfang an über Crowley und seine Abtei auf dem Laufenden gehalten hatte, doch der Okkultist geriet durch ihre Verunglimpfungen ins gesellschaftliche Abseits und wurde von der Bevölkerung als Bestie verteufelt, die an den Galgen gehöre.

Am 23. April 1923 ließ der Diktator Benito Mussolini Crowley und seine Anhänger aus Italien ausweisen und verbot Geheimbünde dieser Art. Wenig später fanden Kinder beim Spielen auf einer Brache in Palermo die enthaupteten Leichen zweier nackter Männer mit abgetrennten Geschlechtsteilen. Unweit des Fundorts entdeckte die Polizei die Köpfe. Bei den Toten handelte es sich um zwei polizeibekannte männliche Prostituierte. Crowley geriet in Verdacht, die Morde begangen zu haben, da bekannt war, dass er Palermo häufig besucht hatte, um sich mit Drogen einzudecken und männliche wie weibliche Prostituierte aufzusuchen. Es stellte sich jedoch heraus, dass er ein wasserdichtes Alibi hatte, da er sich zur Tatzeit wegen einer Heilbehandlung in England aufgehalten hatte. Ein reicher Gönner hatte seinem »Herrn und Meister« mit einer großzügigen Spende die Kur ermöglicht.


»Der Beruf des Irrenhauswärters hat in unserer Familie gewissermaßen Tradition«, erklärte die Krankenschwester Maureen Morgan mit grimmigem Lächeln und trank einen Schluck Tee, um munter zu bleiben, denn die Nachtschicht war noch lange nicht zu Ende. »Mein Vater war dreißig Jahre lang Wärter im Bethlem Royal Hospital in London – in der Kriminalabteilung für Frauen.«

 

»Oh Gott, da hatte er ja das große Los gezogen, der Arme! Ein harter Job. Da sind Sie hier aber besser aufgehoben, Maureen, obgleich unsere Patienten auch sehr anstrengend sein können.« Doktor Sandler rollte mit den Augen und nahm noch ein rosa glaciertes Petit Four vom Kuchenteller.

In diesem Moment ertönte das durchdringende Läuten einer Patientenglocke in dem behaglich eingerichteten Salon, der dem Personal des Holloway-Sanatoriums in Virginia Water als Aufenthaltsraum diente.

»Wem sagen Sie das?«, seufzte die junge Frau mit den rotblonden, modisch geschnittenen Haaren unter der weißen Schwesternhaube schicksalsergeben und erhob sich aus ihrem Sessel. »Das wird doch hoffentlich nicht wieder Sir Alfred sein!«

Als sie auf den langen Flur hinaustrat, an dessen Seiten sich zahllose Zimmerfluchten erstreckten, bestätigte sich ihre Befürchtung. Das Läuten kam aus einer Suite am Ende des Gangs, die von Sir Alfred de Kerval bewohnt wurde, der sie schon den ganzen Abend auf Trapp hielt. Obwohl Maureen erst 18 Jahre alt war, hatte sie ausreichend Erfahrungen mit jedweder Skurrilität und Schrulligkeit ihrer Patienten auf der Entgiftungs-Station des luxuriösen Holloway-Sanatoriums. Die Anstalt war 1873 gegründet worden, um seelisch kranken Menschen aus der Oberschicht die Möglichkeit zu geben, in einer Umgebung zu genesen, die keine Wünsche offen ließ. Doch Sir Alfred, ein rundlicher Herr im Schottenrock, der eine schwarze Perücke und eine Brille mit dunklen Gläsern trug, war noch absonderlicher als die anderen illustren Personen, die sich im Seitenflügel des weitläufigen, schlossartigen Gebäudes von ihren mannigfaltigen Süchten entwöhnten.

Maureen klopfte an die Tür und trat ein. »Was kann ich für Sie tun, Sir Alfred?«

Der korpulente Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht lag auf einer Ottomane und stöhnte gequält. »Der Odem unserer Dame könnte mir helfen, Fairy Queen, sonst mache ich heute wieder kein Auge zu.«

»Tut mir leid, Sir Alfred, aber es gibt keinen Äther«, beschied Maureen dem Patienten freundlich, aber bestimmt. Ihr war inzwischen hinlänglich bekannt, was sich hinter Sir Alfreds kryptischer Umschreibung verbarg. In dieser Hinsicht waren Süchtige alle gleich: Sie wollten so viele Drogen von ihr erhalten wie möglich. »Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie unter Lähmungsgefühlen, Asthma und Kurzatmigkeit leiden. Dass Sie Ihre Krankheiten mit Kokain, Opium, Morphium, Heroin und Äther zu behandeln pflegten, hatte bereits fatale Folgen für Ihre Gesundheit.«

»Sie haben noch was vergessen, Fairy Queen, nämlich Haschisch, Wein und Schnaps. Dann bringen Sie mir wenigstens einen Cognac«, quengelte der Mann im Schottenrock wie ein unleidliches Kind. Den Kilt trug er Tag und Nacht, und das schon seit fünf Tagen, denn so lange war er jetzt hier.

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und Maureen, die ihm den Puls fühlte, bemerkte, dass auch sein Körper schweißgebadet war. Er litt unter schweren Entzugssymptomen. Sie hatte ihm vorhin schon 300 mg Morphinsulfat verabreicht und mehr war nicht drin, so leid es ihr tat – und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar. Als sie anschließend seinen Blutdruck prüfte und feststellte, dass er deutlich erhöht war, ließ sie sich jedoch erweichen und eilte zum Schwesternzimmer.

»190 zu 140«, sagte sie zu Doktor Sandler, der ihr aus dem Salon entgegenkam.

»Dann geben Sie ihm meinethalben ein Amlodipin, aber sonst kriegt er nichts mehr. Warten Sie, ich hole es!« Der dunkelhaarige Psychiater mit dem markanten Gelehrtengesicht, der auf der Entwöhnungsstation als Assistenzarzt arbeitete, betrat gemeinsam mit Maureen das Schwesternzimmer und machte sich am Medikamentenschrank zu schaffen.

Als er Maureen das Porzellanschälchen mit den Tabletten reichte, berührte er flüchtig ihre Hand. Sie erschauerte und spürte, wie sie rot wurde. Schon seit geraumer Zeit hegte sie Gefühle für den Psychiater, die sie jedoch geflissentlich zurückhielt – zum einen, weil Liebesbeziehungen zwischen den Angestellten des Sanatoriums strengstens verboten waren, zum anderen, da sie mutmaßte, dass sich der aufstrebende junge Arzt, der noch eine vielversprechende Karriere vor sich hatte, bestimmt nicht mit einer einfachen Krankenschwester abgeben würde. Obgleich »Joe«, wie sie ihn im Stillen zu nennen pflegte, nicht die Spur von Standesdünkel verströmte und sich ihr gegenüber stets freundlich und kollegial verhielt. Das traf allerdings auch auf die anderen Kollegen der Entgiftungsstation zu. Lediglich der Anstaltsleiter, Professor Sutton, ein Nachkomme des Gründers und Multimillionärs Thomas Holloway, strahlte die Arroganz der britischen Oberschicht aus.

Die pfiffige Maureen, die aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte ihre Schäfchen gut im Griff und war bei Patienten und Pflegepersonal gleichermaßen beliebt. Auch von den Anstaltsärzten wurde die Schwester, die selbst in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte, wegen ihres angenehmen Wesens geschätzt. Obgleich sie noch jung war, verfügte sie schon über eine erstaunliche Reife und Charakterstärke – für die sie einen hohen Preis bezahlt hatte. Als Jugendliche war sie in schlechte Kreise geraten und erheblich ins Straucheln gekommen. Doch die Hilfe ihrer Eltern und ihr eigener unbändiger Lebenswille hatten ihr aus der Krise herausgeholfen. Sie hatte im London Hospital eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie mit Bravour abgeschlossen hatte, und war danach ins Holloway-Sanatorium gewechselt, wo sie in der Pflege seelisch kranker Menschen ihre große Berufung gefunden hatte.

»Die andere Tablette ist kein Barbiturat, sondern lediglich ein Placebo«, riss die Stimme des Arztes Maureen aus ihrer Versonnenheit.

»Gut so«, erwiderte sie zustimmend, »denn der eiserne Grundsatz der Suchtmedizin lautet ja: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Und ihre Wirkung wird die Pille trotzdem nicht verfehlen.« Sie hatte es schon häufiger erlebt, dass eine harmlose Milchzuckerpastille bei Patienten die gleiche beruhigende Wirkung erzielen konnte wie ein Sedativ, das den ohnehin vom Drogen- und Alkoholabusus geschwächten Körper noch zusätzlich belastete.

Doktor Sandler lächelte verschwörerisch. »Sie sagen es, meine Liebe – und halten Sie sich den alten Schwerenöter bloß auf Abstand!«

»Das dürfte schwierig werden«, flachste Maureen grinsend. »Ich möchte ihn nämlich dazu überreden, endlich mal seinen Schottenrock abzulegen, eine Dusche zu nehmen und ein frisches Nachthemd anzuziehen, denn das hat er bitter nötig«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu und nahm ein weißes Krankenhemd aus dem Wäscheregal des Schwesternzimmers. »Residiert in einer Luxus-Suite und hat noch nicht mal einen anständigen Pyjama dabei«, mokierte sie sich kopfschüttelnd, während sie über den chinesischen Seidenläufer im Flur lief.

Sie goss dem Patienten etwas Wasser in ein Glas und bat ihn, die Blutdrucktablette zu nehmen. Dann platzierte sie das Nachthemd auf der Lehne der Ottomane und fügte hinzu, dass Sir Alfred völlig verschwitzt sei und daher ein Bad oder eine Dusche ratsam wäre.

»Danach ziehen Sie sich ein frisches Nachthemd über, legen sich ins Bett, nehmen das Barbiturat und schlafen wie ein Baby!« Sie schenkte Sir Alfred, der ohnehin von ihr entzückt war und sie immer seine »Feen-Königin« nannte, ein strahlendes Lächeln.

»Das mach ich aber nur, wenn Sie mich einseifen«, säuselte er anzüglich.

Maureen musterte ihn resolut. »Das schaffen Sie schon alleine, Sir Alfred! Ich lass Ihnen aber gerne Wasser in die Wanne und lege alles zurecht, was Sie brauchen.«

Maureen, die sich auf einem Sessel am Kamin niedergelassen hatte, nachdem ihr Patient im Badezimmer verschwunden war, um ihm zur Seite zu stehen, falls er Hilfe brauchte, mochte ihren Augen nicht trauen, als Sir Alfred in einem goldverbrämten schwarzen Seidenkaftan, der mit einem goldenen Pentagramm und anderen okkulten Symbolen bestickt war, aus der Badezimmertür trat.

»Sie sehen ja aus wie ein Zauberer«, entrang es sich ihr unwillkürlich.

»Magier wäre treffender«, konterte Sir Alfred, der sich auch der dunklen Brille und Perücke entledigt hatte. Dadurch kam seine Kahlköpfigkeit zum Vorschein und die dunklen, glasigen Augen, die Maureen eindringlich fixierten. »Und – erkennen Sie mich?«

Maureen zuckte nur mit den Achseln, was Sir Alfred zu enttäuschen schien.

»Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ich bin der gefährlichste Mann der Welt, der Zauberer der Verderbtheit.«

Erst jetzt dämmerte es Maureen, wen sie vor sich hatte. »Sie sind Aleister Crowley, über den die Presse die ganze Zeit diese schlimmen Hetzartikel schreibt«, äußerte sie verblüfft. »Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Sie sehen so … so harmlos und gutartig aus, ganz anders als auf den Zeitungsfotos.«

Ehe sie sich’s versah, ergriff der Okkultist ihre Hand und küsste sie. »Mein gutes Kind, Sie haben mich erkannt! Im Grunde meines Wesens bin ich harmlos und gutartig. Und dass Sie diese Zeitungsschmierereien als das erkennen, was sie sind, nämlich bösartiges Machwerk, zeigt mir einmal mehr, wie klug Sie sind. Sie durchschauen die schnöde Welt, obwohl Sie noch so jung sind. Da ist eine ganz eigene und mächtige Kraft in Ihnen, das habe ich von Anfang an gespürt. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass ich Sie ›Fairy Queen‹ nenne – was nicht alleine an ihrer feenhaften Anmut liegt, sondern auch daran, dass sie in der Lage sind, den Dingen auf den Grund zu schauen. Deswegen habe ich mich auch entschlossen, Ihnen meine wahre Identität zu offenbaren, die sonst nur dem Anstaltsleiter und den behandelnden Psychiatern bekannt ist. Eine Vorsichtsmaßnahme, die leider unumgänglich war. Denn dank Queen Bettys Schandmaul, das das Blaue vom Himmel herunter lügt und alles verdreht, was verdreht werden kann, bin ich zum meistgehassten Mann Englands aufgestiegen. Auch hier in dieser Luxus-Klapse gibt es bestimmt einige, die mich lynchen würden, wenn sie wüssten, wer ich bin.«

»Von mir erfährt keiner was«, sicherte ihm Maureen zu.

Sein Blick wirkte mit einem Mal gehetzt und er schaute immer wieder hektisch zur Tür. »Ich weiß, dass ich Ihnen trauen kann, Fairy Queen«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »deswegen möchte ich Ihnen auch etwas zeigen.« Er verschwand in seinem Schlafzimmer und kehrte mit einem Kuvert zurück, dem er mit bebenden Händen einen Zeitungsartikel entnahm, den er Maureen zeigte.

»Aleister Crowley – Ein zweiter Jack the Ripper«, stach ihr die fette Schlagzeile ins Auge. In dem Artikel aus dem John Bull wurde reißerisch über die Leichenfunde in Palermo berichtet und dass die italienische Polizei Crowley verdächtigte, die Morde begangen zu haben.

Maureen schüttelte unwirsch den Kopf. »Aber das ist doch gar nicht mehr aktuell! Im Daily Telegraph war vor zwei Tagen zu lesen, dass Sie für die Morde gar nicht infrage kommen, da Sie für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi haben. Ich habe es selbst gelesen.«

»Natürlich kann ich das nicht gewesen sein, denn als die Morde begangen wurden, war ich ja schon hier im Holloway-Sanatorium. Der Anstaltsleiter hat mich informiert, dass er das Scotland Yard gegenüber bestätigt hat. Nein, darum geht es gar nicht.« Crowley war so erregt, dass ihm Schweißperlen übers Gesicht rannen. »Der Artikel wurde mir heute mit der Post zugestellt. Was ich damit sagen will, ist – es muss durchgesickert sein, dass ich hier bin. Irgendjemand da draußen weiß es und hat mir das geschickt.«

Maureen musste ihm zwar recht geben, dennoch war ihr daran gelegen, den aufgelösten Mann zu beruhigen. »Wer immer das auch gewesen sein mag, der Ihnen diesen üblen Streich gespielt hat, ich kann Ihnen jedenfalls versichern, Mr Crowley, bei uns auf der Station sind Sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Kein Außenstehender oder Unberufener hat hier Zutritt, dafür sorgt schon unser Pförtner. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Sir, und können sich beruhigt zu Bett begeben.« Sie reichte Crowley das vermeintliche Barbiturat, welches er mit einem Schluck Wasser hastig herunterwürgte.

»Das kann ich jetzt auch gut gebrauchen«, krächzte er heiser, »denn ich sage es Ihnen unumwunden, Fairy Queen: Ich habe panische Angst. Bitte helfen Sie mir und lassen Sie mich nicht alleine«, stammelte er und umklammerte angstvoll Maureens Hand.

 

Sie sagte ihm in besänftigendem Tonfall, dass derlei Angstzustände beim Entzug häufiger auftreten würden, das würde sich aber wieder legen und ihm könne gar nichts passieren. Anschließend geleitete sie ihn zu seinem Bett, wo sie fürsorglich die Decke über ihn breitete und ihm wie einem Kind versprach, bei ihm zu bleiben.

»Wenn es Ihnen guttut, über Ihre Ängste zu sprechen, dann tun Sie das ruhig, denn das kann durchaus heilsam sein.«

»Danke, mein Engel!«, stieß der Okkultist unter Tränen hervor. »Aber ich weiß gar nicht, ob ich deine reine, unschuldige Seele überhaupt mit solchen Abgründen belasten soll.« Er war Maureen gegenüber nun noch vertraulicher geworden.

»In meinem Beruf ist mir nichts Menschliches fremd, Mr Crowley«, entgegnete sie. »Also sagen Sie ruhig, was Sie auf dem Herzen haben.«

»Ich … ich habe einen ganz schrecklichen Verdacht. Ich glaube nämlich, dass er mir den Artikel geschickt hat.« Der Magier gab ein peinvolles Wimmern von sich und war kaum noch in der Lage, weiterzusprechen.

Maureen musterte ihn mit wachsender Anspannung, da sie zunehmend den Eindruck gewann, dass sich in seinem Bewusstsein Wahn und Wirklichkeit mischten, was beim Drogen- und Alkoholentzug keine Seltenheit war. »Wen meinen Sie denn mit ›er‹?«, erkundigte sie sich.

»Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Er kam am 13. Mai 1922, also vor knapp einem Jahr, zu meiner Abtei nach Cefalù auf Sizilien. Ich erinnere mich noch genau an ihn: ein großer, muskulöser Mann mit einem blassen Dutzendgesicht unter dem Strohhut und einem eleganten, gut geschnittenen hellen Leinenanzug. Er sah aus wie ein britischer Aristokrat in der Sommerfrische – und das war er wohl auch. Er hatte ausgezeichnete Manieren, lüftete vor mir den Hut wie ein Gentleman und stellte sich als John Smith vor. Gleichzeitig räumte er ein, dass es sich dabei um ein Pseudonym handele, da er mir aus Gründen der Diskretion seinen wirklichen Namen nicht nennen könne, wofür er mich aufrichtig um Entschuldigung bat. Ich ließ ihn wissen, dass in der Abtei von Thelema weltliche Namen ohnehin nichts bedeuteten und jeder Adept von mir einen magischen Namen erhalte, der wahrhaftiger zu ihm passe. Mit großer Ehrfurcht berichtete mir der junge Mann, er habe an der Front als Militärarzt gedient und zu dieser Zeit sei ihm ein Artikel aus dem International in die Hände gekommen, aus der Feder von mir, dem großen Meister der Magie. Das Gesetz von Thelema, ›Tu was du willst, soll sein das einzige Gesetz‹, habe ihn so tief beeindruckt, dass er daraufhin alle meine Schriften gelesen habe und zu mir gereist sei, um mein Adept zu werden. Ich habe sofort gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, doch ich habe nicht genau gewusst, was. Da ich aber spürte, wie viel ich ihm bedeutete, willigte ich ein, ihn als Schüler aufzunehmen. Noch am gleichen Tag sagte ich ihm offen ins Gesicht, dass er unter einer höllischen Verkrüppelung leide, woraufhin er mir anvertraute, dass er bestialische Kopfschmerzen habe und unentwegt Stimmen höre. Er hoffe sehnlichst darauf, dass es mir als seinem Herrn und Meister gelingen möge, sie zum Schweigen zu bringen. Zunächst exerzierte ich mit ihm Stellungsund Atemübungen des Yoga, vollzog an ihm verschiedene Bannungsrituale und hielt ihn dazu an, Opium zu rauchen und ein magisches Tagebuch zu führen, worin er Träume, zufällige Gedanken und Stimmungen aufzeichnen und mir zur Analyse aushändigen sollte. ›Der dunkle Drang in mir schreit nach Verwirklichung, ich kann an nichts anderes mehr denken‹, schrieb er. Ich deutete dies als Signal, dass es an der Zeit war, seine Sexualität auszuleben, da ich die augenscheinliche Gehemmtheit des Mannes als das eigentliche Problem ansah. Also zelebrierte ich mit ihm und meiner ersten Konkubine Alostrael eine Orgia. Die Riten verliefen wenig erfolgreich – obwohl meine scharlachrote Frau ihn mit der Hand stimulierte, bekam er keine Erektion.«

Maureen bemühte sich zwar um Gelassenheit, mochte ihre Abneigung aber nicht verhehlen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich derartige Schilderungen besonders ergötzlich finde, zumal sie auch ein Stück weit bestätigen, was in den Skandalblättern über Sie zu lesen war, Mr Crowley«, sagte sie kühl und erhob sich von ihrem Stuhl mit der Erklärung, sie habe auch noch andere Patienten zu versorgen. Sie verspürte wenig Lust, noch weiteren drastischen Anekdoten aus Crowleys magischem Schaffen zu lauschen.

Doch ihr exzentrischer Patient hielt sie zurück. »Bitte, Fairy Queen, lass mich nicht alleine!«, flehte er verzweifelt. »Er geht mir nicht mehr aus dem Sinn und ich habe die schlimmsten Alpträume.«

Da es offenkundig war, in welcher Bedrängnis sich Crowley befand, beschloss Maureen, ihm in seiner Krise beizustehen. Sie tupfte ihm behutsam die Schweißperlen von der Stirn und ließ sich wieder auf dem Stuhl an der Kopfseite des Bettes nieder.

Wenn seine Angstzustände schlimmer werden, muss ich Doktor Sandler Bescheid sagen, sinnierte sie. Aber vorher würde sie selber versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen – zumal sie zu Crowley einen guten Draht hatte. Einen weitaus besseren, als ihn der Magier zu den Psychiatern hatte, wie sie aus den Dienstbesprechungen wusste, denn im Gegensatz zu den Ärzten, die er als Dilettanten und Seelenklempner beschimpfte, fraß er Maureen förmlich aus der Hand.

»Schwester Maureen, unsere Spezialistin für schwierige Fälle«, pflegte Doktor Sandler immer zu scherzen, wenn es Maureen wieder einmal gelungen war, einen renitenten Patienten »handzahm« zu machen.

»Wenn es Ihnen guttut, darüber zu reden, Mr Crowley, dann tun Sie sich keinen Zwang an«, ermunterte sie den Magier, dessen entrückter Blick verriet, wie gefangen er in seiner Gedankenwelt war.

Mit belegter Stimme fuhr Crowley mit seinen Schilderungen fort: »Schließlich dämmerte es mir, warum die sexualmagischen Rituale nicht in der Lage waren, den Knoten zu lösen: Mein Adept war homosexuell und hatte panische Angst, sich das einzugestehen. Also versicherte ich ihm, dass es nichts gäbe, wofür er sich schämen müsse. Er senkte betreten den Blick und gestand mir, dass ihm die Stimmen sehr böse und hässliche Dinge sagen würden. Auch das Böse und Hässliche gehöre zum Kosmos, ließ ich ihn wissen, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes.« Er presste angespannt die Lippen zusammen. »Damit muss ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Er starrte mich an und begann zu keuchen. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Zu meinem Erstaunen riss er sich die Kleider vom Leib, rannte splitternackt den Berghang hinab wie eine junge Ziege und stürzte sich ins Meer. Als er zurückkam, bat er mich mit bleichem Gesicht und ehrfürchtiger Stimme, noch einmal zu wiederholen, was ich zuvor zu ihm gesagt hatte. ›Auch das Böse und Hässliche gehört zum Kosmos, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes‹, sprach ich mit tiefer Überzeugung.«

Maureen hatte ihm fasziniert zugehört. »Die schwarze Sonne, das hört sich richtig unheimlich an.«

Crowley lächelte sinister. »Du hast es erfasst, Fairy Queen. Die schwarze Sonne ist ein alter Name Satans.«

Obgleich es Maureen unwillkürlich fröstelte, ermahnte sie sich zur Sachlichkeit. »Ich glaube nicht an den Teufel, die eigentlichen Erfinder der Hölle sind die Menschen.«

»Richtig, mein schlaues Mädchen! Hinter der Hölle verbergen sich die grausamsten Fantasien, die jemals von Menschen ersonnen wurden – zur Ehre der großen Schlange Satan. ›Ich bin die Schlange Satan, ich lebe an den äußersten Enden der Welt‹ – so stand es schon in den ältesten Hieroglyphen der Ägypter geschrieben.« Crowleys Augen funkelten diabolisch.