Stillstand

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Gruppeninteressen vor Gesamtwohl

Das Krankheitsbild der institutionellen Sklerose, an der Österreich so offensichtlich leidet, ist also relativ gut erforscht. Es entsteht laut Olson dadurch, dass sich Interessenverbände (Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Länder, um ein paar zu nennen) durchsetzen, die naturgemäß in erster Linie Partikularinteressen (nämlich die ihrer Mitglieder) vertreten und das Gesamtwohl hintanstellen. Werden solche Institutionen in einer Gesellschaft zu stark, erlangen sie einen zu großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, dann gerät das Gesamtwohl ernsthaft in Gefahr. Diese Konstellation, eine Art politisches Marktversagen, führt in der Regel zu massiven Symptomen. Sie schränkt die Fähigkeit zu gesellschaftlichem Wandel ein. Der folgende Stillstand bremst die Produktivität und das Wirtschaftswachstum und führt in der Folge naturgemäß zu wirtschaftlichem Niedergang.

Mit der bloßen Zufuhr von Geld lässt sich diese volkswirtschaftliche Erkrankung nicht therapieren. Man kann das sehr schön an den zentralen österreichischen Daten ablesen, die zeigen, dass Verschuldung, Steuerlast und Arbeitslosenzahlen seit Langem parallel steigen, während das Wirtschaftswachstum immer schwächer wird. Bezogen auf das Wachstum wird der Mitteleinsatz also immer unwirtschaftlicher. Olson meint sogar, dass die bloße Zuführung von Geld ausgesprochen kontraproduktive Effekte zeitige: Je mehr Geld in schlechte Strukturen gepumpt wird, desto mehr verfestigen sich diese. Wirksam gegen diese institutionelle Sklerose sind nur strukturelle Reformen, die diese Blockadestrukturen aufbrechen. Womit wir beim Hauptproblem wären: Eine echte Reformpolitik muss sich zwangsweise gegen die strukturversteinernden Institutionen richten. Also gegen jene, die die politische Macht im Lande an sich gerissen haben – und die damit auch die personelle Auswahl der möglichen Reformer an der Regierungsspitze in der Hand haben. Das ist nicht nur eine Herkulesaufgabe. Es ist in normalen Zeiten schlicht unmöglich.

Nur in den seltensten Fällen gelingt das, bevor der außer Kontrolle geratene Karren an die Wand fährt. In Schweden zum Beispiel, wo in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts eine schwere Wirtschaftskrise die Regierung zu umfassenden Reformen gegen die auch dort starken Interessengruppen zwang. Eine Reform, von der Schweden noch heute zehrt: Es hat bei ähnlichen Basiswirtschaftsdaten wie Österreich heute nur eine halb so hohe Staatsverschuldung. Und damit viel Spielraum für Krisen. Oder in Deutschland, wo der Sozialdemokrat Gerhard Schröder zu Beginn der Nullerjahre seine „Agenda 2010“ und seine umstrittene „Hartz IV“-Reform durchzog. Reformen, von denen Deutschland noch heute zehrt und die das Land vom wirtschaftlich „kranken Mann Europas“ zur mit Abstand stärksten Wirtschaftsnation des Kontinents machte. Beide Fälle hatten eines gemein: Der wirtschaftliche Niedergang hatte in der Bevölkerung genug Leidensdruck aufgebaut. Ein Leidensdruck, der stärker war als die Partikularinteressen der Interessenverbände.

So weit sind wir in Österreich noch nicht, weshalb es aus parteipolitischer Sicht der Regierenden bisher auch wenig Anlass für wirklich große Reformen gegeben hat. Denn diese Republik steht zwar still. Angesichts der enormen Wirtschaftskraft des Landes tut sie das aber auf sehr hohem Niveau. Der Einzelne merkt also noch nicht oder, besser gesagt, noch nicht stark genug, dass die Basis des Wohlstands im Hintergrund immer stärker erodiert. Gut, die Arbeitslosenrate steigt, die Reallöhne sinken, vor allem in den unteren Segmenten, seit vielen Jahren, das Wirtschaftswachstum blieb in den vergangenen Jahren deutlich hinter dem anderer Euroländer zurück. Aber es tut noch nicht wirklich weh.

Zumal Österreich ja Umverteilungs-Vizeweltmeister ist und damit individuelle Stillstandsverlierer relativ gut abfedert. Deshalb geht eine bedenkliche Entwicklung in der Öffentlichkeit ziemlich unter: Österreich wurde, wie schon erwähnt, in den vergangenen Jahren in internationalen Standortrankings in atemberaubendem Tempo nach unten durchgereicht. 2016 hat es zwar eine kleine Atempause gegeben. Da hat sich das Land im Ranking des „World Economic Forum“ leicht vom 23. auf den 19. Platz vorgearbeitet und in der Rangliste der renommierten Schweizer Wirtschaftshochschule IMD von Platz 26 auf Platz 24 verbessert. Aber: 2010 war das Land von IMD in Sachen Wettbewerbsfähigkeit noch auf Platz 14 eingestuft worden. Da liegen schon Welten dazwischen. Und: Vergleichbare europäische Länder liegen unter den Top Ten. Rang 24 bei der Wettbewerbsfähigkeit entspricht jedenfalls keineswegs dem Status des Landes als Mitglied der Spitzengruppe der Industrieländer. Wenn wir so weitermachen, wird dieser Status also bald Geschichte sein.

Besonders schlecht liegen wir in allen Rankings in den Bereichen „Regierung“, „Verwaltung“ und „Fiskalpolitik“. Was genau genommen kein Wunder ist: Österreich ist nämlich, das steht fest, ein sehr gut verwaltetes Land. Aber auch ein sehr heftig verwaltetes. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße haben wir fast doppelt so viele Verwaltungsbeamte wie die Schweiz und um gut 50 Prozent mehr als Deutschland. Beides Länder, denen man nicht nachsagen kann, schlecht verwaltet zu werden. Im Prinzip haben wir nach dem Fall der k. u. k. Monarchie die Verwaltungsstrukturen einer Großmacht in einen Kleinstaat herübergerettet.

Bürokratien tendieren dazu, ein Eigenleben zu entwickeln. Je größer, umso mehr. Das wird von so gut wie allen Unternehmen als einer der größeren Hemmschuhe für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen. Eine umfassende Aufgabenreform der Verwaltung ist ebenso wie ein umfassender Umbau des heimischen Föderalismus eine der Grundvoraussetzungen, um mit der Therapie der Austrosklerose überhaupt erst beginnen zu können.

Ist Österreich „abgesandelt“?

Das sehen interessanterweise auch viele der Spitzenproponenten der sklerotischen Organisationen so. Der Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, hatte etwa 2015 beim „Europäischen Forum Alpbach“ für Schlagzeilen gesorgt, als er Österreich als „abgesandelt“ bezeichnet hatte. Ein paar Monate später legte der oberste Wirtschaftskämmerer in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“ noch einmal ein kräftiges Schäuferl nach, als er der Regierung ausrichtete, sie „verwurstle“ gerade die Zukunft. Leitl damals: Er wolle sich später nicht nachsagen lassen, vor Fehlentwicklungen nicht eindringlich genug gewarnt zu haben. Man kann also nicht sagen, das Problem sei in den Chefetagen nicht bewusst. Aber wenn es darauf ankommt, sind eben die Beharrungskräfte in den Institutionen stärker. Man hat das sehr schön bei der missglückten Reform der zu zwangsjackenhaft angelegten Gewerbeordnung im Herbst 2016 gesehen. Bundeskanzler Christian Kern von der SPÖ hatte sich eine Reduzierung der gebundenen Gewerbe von 80 auf 40 vorgestellt. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner von der ÖVP – vor seiner Regierungstätigkeit selbst Mitglied der Chefetage der Wirtschaftskammer – hatte eine Reduktion der zahlreichen Nebengewerbe auf einen einzigen Gewerbeschein im Sinn. Nach umfassenden Verhandlungen mit den Sozialpartnern, die von Vertretern der Regierungsparteien dominiert werden, lag die Zahl der gebundenen Gewerbe um eines höher als zuvor. Und ein, sagen wir, Hotelier, der auch Frühstück anbietet, Ausflüge organisiert und seine Gäste mit dem Auto vom Bahnhof abholt, benötigt weiter einen ganzen Schüppel an Gewerbescheinen – und muss entsprechend häufig Kammerumlage bezahlen. Ohne jetzt auf Sinn oder Unsinn der gewerblichen Zunftstrukturen einzugehen: Hier hat die Regierung vor den Institutionen einen vollen Bauchfleck hingelegt. Austrosklerose, wie sie leibt und lebt.

Diese Erstarrung ist natürlich auch international nicht unbeobachtet geblieben. Die Industriestaaten-Organisation OECD beispielsweise hat Österreich in ihrem jüngsten Länderbericht ordentlich die Leviten gelesen. Auch was die Gewerberegulierung betrifft. Zu starre Strukturen und zu strenge Regulierung würden Wettbewerb behindern, die Wirtschaft bremsen, die Inflation hochtreiben und die Kostenposition des Landes verschlechtern. Das gelte besonders für unternehmensnahe Dienstleistungen wie etwa IT-Services. Hier bedroht zu strenge Regulierung die Zukunftsfähigkeit des Landes.

Wie das im Endeffekt aussehen kann, zeigt ein ausreichend abschreckendes Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft: Italien hat die institutionelle Sklerose schon früher als Österreich unbehandelt eskalieren lassen. Die Folgen waren ein äußert anämisches Wirtschaftswachstum, extrem hohe Staatsverschuldung, der Niedergang der Industrie in Norditalien. Heute zittert ganz Europa vor einem Italien-Crash, der die gesamte Eurozone mitreißen könnte. Reformen gibt es noch immer nicht. Ein abschreckendes Beispiel, das uns krass vor Augen führt, dass Reformunlust der gerade Weg in den drohenden Staatsbankrott ist. So weit sollten wir es hierzulande nicht kommen lassen.

Diagnose II

GEFANGEN IM REFORMSTAU

Hauptursache für die massive Austrosklerose sind aufgeschobene Reformen. Ihre Notwendigkeit wird von niemandem bestritten. Aber sie werden nicht umgesetzt.

Man kennt das von Hochwasserkatastrophen: An einer Engstelle verklaust sich Treibgut, der Fluss beginnt, sich aufzustauen. Wenn die Verklausung nicht schnell aufgelöst wird, bildet sich ein Stausee. Je höher dieser ansteigt, umso größer wird die Gefahr für die darunterliegenden Gebiete im Fall des Durchbruchs. Und brechen wird der Damm, wenn der Druck zu groß wird, jedenfalls. Der Verklausung des österreichischen Reformflusses ist bereits Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts passiert. Nach dem Ende der Regierungszeit des Sozialdemokraten Bruno Kreisky (der eine umfassende Öffnung der österreichischen Gesellschaft geschafft hatte, in Wirtschaftsdingen aber eher etatistisch agierte) stellten österreichische Regierungen von Reform- und Zukunfts- auf Verwaltungsmodus um. Es war schließlich bequemer, erkennbare politische und wirtschaftliche Baustellen mit Schuldenmachen zuzudecken, als die vermeintlich wohlerworbenen Rechte der eigenen Klientel anzutasten.

 

Natürlich war der Damm nicht gänzlich dicht: Immer wieder gab es kleinere Reförmchen und Anpassungen. Manchmal sogar recht erfolgreich, denn um die Jahrtausendwende galt Österreich wirtschaftlich in Europa als Vorzeigeland. Und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends hatte man den Eindruck, dass sich der konservative Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sogar ernsthaft daranmachte, den Reform-Stausee kontrolliert abzulassen. Schüssels Pech war wohl, dass seine Koalitionskumpels von der FPÖ beziehungsweise vom BZÖ mehr den Futtertrog und die eigene Befindlichkeit im Auge hatten als Reformen. Mit einem Regierungspartner, dessen Umfeld heute, mehr als zehn Jahre später, noch immer die Korruptionsstaatsanwaltschaft und die Gerichte beschäftigt und dessen Minister hauptsächlich durch intelligenzbefreite Maßnahmen à la „Busspurenbenützung für Regierungsmitglieder“ oder „Blaulicht für Minister-Dienstfahrzeuge“ in Erinnerung geblieben sind, war eben kein Staat zu machen. Schon gar kein Reform-Staat.

Nur: Seit dem Ende der Ära Schüssel geht gar nichts mehr. Es sind zwar schon mehrere rot-schwarze „Reformpartnerschaften“ ausgerufen worden, von Bundeskanzler Christian Kern sogar ein „New Deal“ und ein „Plan A“, auf einschlägige Aktivitäten warten wir aber noch immer. Den Hauptgrund dafür haben wir im vorigen Kapitel schon abgehandelt: Austrosklerose, institutionelle Verhärtung, hervorgerufen durch eine unglückliche Staatskonstruktion und einen völlig aus den Fugen geratenen Föderalismus. Kurzum: Länder und Sozialpartner halten sich eine Bundesregierung. Die kann vieles tun, aber sicher nicht gegen die Kerninteressen ihrer „Herren“ verstoßen. Bei neun Bundesländern und vier großen Sozialpartnern kommen da eben viele „Herren“ zusammen.

Die Macht liegt bei Lobbygruppen

Man kann ruhig sagen, dass das ganze politische System nicht mehr zeitgemäß ist und nicht mehr zu einer Demokratie im 21. Jahrhundert passt. Das fängt bei der Wahl zum Nationalrat an: Wir haben ein Listenwahlrecht. Der Wähler wählt also nicht Abgeordnete, sondern Parteien. Wer an wählbarer Stelle steht, wird von einem kleinen Kreis innerhalb der Parteien entschieden. Die meisten der Abgeordneten werden von den Landesparteien auf die Listen gesetzt, wobei bei den Regierungsparteien die jeweiligen Sozialpartner AK, ÖGB, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer und bei der ÖVP zusätzlich die drei großen Bünde Bauernbund, Wirtschaftsbund und ÖAAB Einfluss nehmen. Ein Abgeordneter ist also primär diesen Organisationen gegenüber verantwortlich und muss darauf achten, die Interessen seiner „Entsender“ zu vertreten, wenn er sich bei der nächsten Wahl wieder an wählbarer Stelle finden will. Zusätzlich ist er der sogenannten „Fraktionsdisziplin“ unterworfen, darf also sein freies Mandat, das er vom Wähler angeblich erhalten hat, gar nicht ausüben. Der Wähler selbst hat so gut wie keine Möglichkeit, diese Listen zu beeinflussen. Die wenigen Ausnahmen, in denen Vorzugsstimmenkampagnen zu signifikanten Umreihungen geführt haben, bestätigen eher diese Regel.

Die Auswahl der Regierungsmitglieder läuft nach demselben Schema. Allein dieses Auswahlverfahren garantiert, dass Regierungsmitglieder bei Reformen, die Kerninteressen der Länder oder der Sozialpartner treffen könnten, völlig chancenlos sind. Das Problem bei einer derartigen Konstruktion: Die eigentliche Macht liegt nicht bei einer Bundesregierung, welche gesamtstaatliche Interessen zu vertreten hat, sondern bei Teilorganisationen, die die Interessen ihrer Klientel im Blick haben und diese jedenfalls vor das gesamtstaatliche Interesse stellen. Das kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Sozialpartner etwa sind ja dazu da, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Zumal diese überwiegend (mit Ausnahme der Gewerkschaft) Zwangsmitglieder sind und gar keine Wahl haben. Und dass ein Landeshauptmann primär die Interessen seines Landes vertritt, kann man ihm auch nicht wirklich übel nehmen.

In einem gesunden politischen System würde eine Regierung diese Partikularinteressen selbstverständlich berücksichtigen und bewerten. Dann aber in ein Gesamtkonzept einbringen, in dem das gesamtstaatliche Wohl im Vordergrund steht. Auch wenn das die Interessen einzelner dieser Lobbygruppen tangiert. In so einem System wären umfassende Reformen, die auch in die Strukturen eingreifen, kein großes Problem. In einem sklerotischen politischen System wie dem österreichischen funktioniert das jedoch nicht. Ein solches System führt, wie wir das anhand der Theorie der institutionellen Sklerose von Mancur Olson schon festgemacht haben, zwingend zu gegenseitigen Blockaden.

Das Ergebnis ist Reformstau. Wie groß der Stau schon geworden ist und wie schnell der Pegel steigt, zeigt die Geschichte der Reformempfehlungen des Rechnungshofs. Dessen damaliger Präsident Josef Moser hatte erstmals 2009 ein rund 400 Vorschläge umfassendes Vorschlagspaket für eine dringend notwendige Verwaltungsreform geschnürt. Die überarbeitete Neuauflage 2011 enthielt dann die berühmt gewordenen 599 konkreten Vorschläge für die Umsetzung dieser Verwaltungsreform. Als Moser fünf Jahre später in Pension ging, war die Zahl der Vorschläge auf mehr als 1000 angewachsen. Umgesetzt war von den ursprünglichen Vorschlägen wenig. Politiker sehen das freilich anders: Nationalratspräsidentin Doris Bures hatte vor einiger Zeit einmal öffentlich erklärt, sie verstehe die Aufregung um die Rechnungshofvorschläge grundsätzlich nicht. Schließlich setze die Regierung 80 Prozent der Empfehlungen dieses parlamentarischen Kontrollorgans um. Das stimmt. Allerdings betrifft die Umsetzung überwiegend Kleinigkeiten aus Randbereichen. Die wirklichen Reformvorschläge, die, die in die Tiefe der Strukturen gehen, greift niemand an. Und wenn ein Regierungsmitglied einmal vorwitzig wird, wie beispielsweise der Finanzminister beim jüngsten Finanzausgleich, holt es sich bei der Betonfraktion mit einiger Sicherheit einen blutigen Kopf.

Dabei wäre gerade dort das große Geld beziehungsweise der große Kick für die Wirtschaft zu holen. Man müsste nicht einmal die Welt neu erfinden. Detaillierte Vorschläge für eine Modernisierung des Staates liegen zuhauf in den diversen Regierungsschreibtischladen herum. Man müsste sie nur herausziehen und umsetzen. Schließlich war der Rechnungshofpräsident ja nicht der Einzige, der sich Gedanken über die notwendige große Staats- und Verwaltungsreform gemacht und vor dem Weg in die Pension noch 1007 Vorschläge dafür hinterlassen hat. Es gibt auch ein umfassendes Reformkonzept des Wirtschaftsforschungsinstituts WIFO. Es gibt detaillierte Reformvorschläge von anderen Wirtschaftsforschungsinstitutionen. Es hat noch unter Schüssel einen Staatskonvent gegeben, von dem so gut wie alle Reformvorschläge unverwirklicht geblieben sind. Und es haben ein paar von den jeweiligen Regierungen eingesetzte Reformkommissionen sowie Kommissionen zur Evaluierung der Arbeit dieser Reformkommissionen gewerkt. Nur: Geschehen ist halt leider so gut wie nichts. Es war im Prinzip nicht mehr als teure Beschäftigungstherapie für Wirtschaftsforscher und regierungsnahe Experten.

Es geht um viele Milliarden

Dabei geht es um viel Geld. Je nach Reformkonzept wird die theoretisch mögliche Gesamteinsparung auf insgesamt zehn bis 25 Milliarden Euro geschätzt. Letzteres entspricht ungefähr den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer oder der Lohnsteuer, also der beiden größten Steuerpositionen im Land. Nur zum Vergleich: 15 Milliarden müsste man einsparen, um die abenteuerlich hohe Steuer- und Abgabenquote auf deutsches Niveau zu senken. Das ist durchaus nicht utopisch. Immerhin erzielten die Deutschen mit einer Steuer- und Abgabenquote von 40 Prozent in den vergangenen Jahren permanent Budgetüberschüsse, während die Österreicher mit einer um fast 5 Prozent höheren Quote nicht das Auskommen fanden und die Budgetlöcher mit immer höheren Schulden stopfen mussten. Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass die Deutschen mit der „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ einen Teil der Ausgabenreformen, die Österreich schon so lange unerledigt vor sich herschiebt, bereits vor 15 Jahren durchgezogen haben. Es ist nun einmal so, dass man strukturelle Ausgabenprobleme nicht durch Schulden und höhere Einnahmen, sondern nur durch Eindämmung der Ausgaben lösen kann. Etwas plastischer: Es hilft herzlich wenig, in ein mit Löchern übersätes Fass immer mehr Wasser hineinzuschütten. Wenn man die Löcher nicht stopft, wird es immer wieder herausrinnen.

Kritiker der vorliegenden Reformvorschläge meinen, die genannten Einsparungssummen seien Maximalwerte und völlig unrealistisch. Zumindest auf kurze Sicht kann man dem zustimmen, denn viele der strukturellen Reformen würden erst mittel- oder langfristig spürbare monetäre Auswirkungen zeigen. Das ist aber noch kein Antireformargument. Denn erstens gibt es auch Bereiche – etwa das aus den Fugen geratene Förderwesen –, in denen kurzfristig sehr viel Geld freizuspielen wäre. Zweitens: Selbst wenn man in einer ersten Stufe nur 10 Prozent des Potenzials realisieren würde, wären das bis zu 2,5 Milliarden Euro. Eine Summe, mit der man schon sehr viel Zukunftsträchtiges anfangen kann. Von der wirtschaftsbelebenden Wirkung, die ein Zurückstutzen der Bürokratie auf ein vernünftiges Maß hätte, reden wir da noch gar nicht.

Man muss nur einmal anfangen. Das Problem ist natürlich, dass vor der Sanierung der zahlreichen Reformbaustellen eine sinnvolle Baustelleneinrichtung stehen muss: nämlich eine grundlegende Föderalismusreform und eine Neupositionierung der Sozialpartner. Der mit Abstand schwierigste Part kommt also zuerst. Denn dass Länder und Sozialpartner plötzlich im Sinne des gesamtstaatlichen Interesses agieren und zu diesem Zweck auch den einen oder anderen Nachteil für ihre eigene Kernklientel in Kauf nehmen würden, ist eher nicht sehr realistisch.

Nehmen wir trotzdem an, dass Sozialpartner, Länder und Regierung aus Staatsräson ausnahmsweise an einem Strang ziehen, dann sind folgende Baustellen abzuwickeln:

 Der Staatshaushalt ist zu sanieren. Österreich gibt, wie schon erwähnt, seit mehr als 40 Jahren permanent mehr aus, als es einnimmt. Und das, obwohl die Steuerquote von Rekord zu Rekord eilt und die Steuerbelastung im internationalen Vergleich sehr hoch ist. Es ist ein Hase-Igel-Problem: Wo immer die Einnahmen hinkommen, die Ausgaben sind schon dort.

 Die Verwaltung ist zu straffen. Österreich hat die Verwaltungsstruktur eines Großreichs in die Republik herübergerettet und beim EU-Beitritt noch eine Verwaltungsebene oben draufgepappt bekommen, ohne unten eine wegzuschneiden. Das ist teuer und wirtschaftshemmend. Bürokratie hat die Tendenz, neue Bürokratie zu erzeugen. Das Ergebnis ist eine wirtschaftslähmende Gesetzesflut.

 Das Steuersystem ist umfassend zu reformieren. Es ist belastend und wenig zukunftssicher, weil es sehr stark auf der Besteuerung menschlicher Arbeit beruht, die im Zuge der kommenden Digitalisierung schrumpfen wird. Kommt es nicht zu neuen Schwerpunktsetzungen, wackelt das gesamte Sozialsystem.

 Dieses Sozialsystem ist sehr gut ausgebaut, im internationalen Vergleich aber sehr teuer. Und es ist voll mit Fehlanreizen, wenn es etwa über Sozialleistungen Sogwirkung auf Armutseinwanderung ausübt oder zu wenige Anreize für den Umstieg auf Arbeitseinkommen bietet. In zwei Bereichen – Pensionen und Gesundheit – steuert es ohne umfassende Reformen definitiv auf die Unfinanzierbarkeit zu.

 Das Förderwesen ist völlig entgleist. Österreich schüttet, bezogen auf die Wirtschaftsleistung, fast doppelt so viel Geld in den Förderbereich wie der Rest Europas, ohne zu evaluieren, was diese Förderungen überhaupt bewirken und ob es sich um sinnvoll eingesetztes Geld handelt. Hier sind bei klugen Reformen kurzfristig große Summen zu heben.

 Die Bildung ist ein spezielles Kapitel: Österreich gibt im internationalen Vergleich außerordentlich viel Geld für den Bildungssektor aus und erreicht damit außerordentlich durchschnittliche Ergebnisse: blamables Mittelmaß beim PISA-Test, die Universitäten in internationalen Rankings nicht unter den ersten hundert. Hier sind umfassende Reformen gefragt, die über die bisher am heftigsten diskutierte Frage, wer die Parteibücher der Lehrer kontrollieren darf, weit hinausgeht.

 

Es gibt also viel zu tun. In den folgenden Kapiteln werden wir uns diese Baustellen einmal näher ansehen.

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