Mosers Ende

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Donnerstag, 19. Juli 2012

»Schau mal«, rief Linda begeistert aus, »wie weit oben wir schon sind! Unser Hotel Rosenlaui sieht ja schon winzig klein aus, wie ein Puppenhaus!« Michael packte mit der rechten Hand das Seil, drehte sich talwärts und lachte auf.

»Tatsächlich!« Michael und Linda waren um sechs Uhr morgens, als das Tal noch im tiefen Schatten lag, in forschem Tempo vom Hotel abmarschiert und hatten nach einer guten Stunde schon die Engelhornhütte erreicht, wo sie auf der Sonnenterrasse einen Tee tranken und ein Sandwich assen. Ihre Route führte dann durch das steinige und wilde Ochsental hinauf, bis zum Fuss der Nordwand des Grossen Engelhorns. Michael hatte die Wand schon achtmal durchklettert und Linda versprochen, sie diesen Sommer auf die schöne Tour mitzunehmen. Die Kletterei durch diese Wand war nicht einfach, aber der Kalkstein war immerhin stabil und bot guten Halt.

Heute war es endlich soweit! Er schaute Linda an.

»Du, es fehlen uns nur noch drei Seillängen bis zum Ausstieg. Traust du dir zu, die nächste zu führen?« Linda blickte die beinahe senkrechte Felswand hoch und zog eine skeptische Miene.

»Hm, ich weiss nicht so recht. Schaut für mich wie eine Fünf aus. Etwas ambitioniert für mich.« Michael zog die Routenskizze aus seiner Hosentasche hervor.

»Aha, es ist nur eine Vier plus. Das schaffst du, mein kleiner Engel«, sagte er und legte Linda sanft eine Hand auf die Schulter. Linda lächelte.

»Na ja, das würde noch passen, der Engel in der Engelhorn-Nordwand. Wenn nur der Engel nicht aus der Wand fliegt und seine Flügel aufspannen muss…«

Michael grinste.

»Los geht’s, Mädchen.« Linda warf einen Kontrollblick auf die am Gürtel hängenden Karabinerhaken, setzte vorsichtig den rechten Schuh auf einen Tritt im Fels, fasste mit den Händen zwei winzig kleine Griffe, zog sich etwas hoch, suchte für den linken Schuh einen Tritt, dann den nächsten für den rechten Schuh, wieder einen Griff für die linke Hand, einen neuen Tritt, einen neuen Griff… Und schon hatte Linda den ersten Sicherungspunkt erreicht. Sie zog einen Karabinerhaken vom Gürtel, fädelte ihn in die Öse des fest im Fels steckenden Bohrhakens ein und zog dann das Seil hindurch.

»Gut gemacht«, rief Michael von unten. Er war auf dem kleinen Absatz stehen geblieben, hatte sich selber gut gesichert und zog das Seil exakt im Tempo von Lindas Aufstieg nach, so dass es immer gespannt blieb und er Linda, sollte sie trotz aller Vorsicht abstürzen, auffangen könnte. Linda hatte schon wieder drei Meter Höhe gewonnen und steuerte zielstrebig den nächsten Bohrhaken an.

Was für eine tolle Frau, dachte Michael, welch Vergnügen, mit ihr klettern zu gehen! Wie liebe ich ihre schlanke, wohlgeformte Gestalt, ihre eleganten Bewegungen, ihre kräftigen Schenkel, ihre schwarzen, unter dem Kletterhelm vorquellenden Haare, ihr herzliches Lachen! Wenn ich da an meine Angetraute Susanna denke… Ein kräftiger Ruck am Seil riss Michael aus seinen Träumereien.

»Kannst nachkommen!«, rief Linda fröhlich von oben.

Eine knappe Stunde später hatten sie den Gipfel des Grossen Engelhorns erreicht, setzten sich auf einen grossen, flachen Stein und packten ihren Lunch aus dem Rucksack. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien kräftig, und nur wenige Quellwolken schwebten über den Gipfeln. Aber hier oben auf fast 2‘800 Metern über Meer war die Luft frisch, und ein leichter Nordwind liess die verschwitzten Kletterer trotz Windjacke beinahe frösteln. Aber die Aussicht war atemberaubend. Tief unten schimmerte der Rosenlaui-Gletscher, dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel von Wellhorn, Wetterhorn, Rosenhorn und Hangendgletscherhorn. Weiter weg, im Osten, leuchteten die Schneefelder vom Sustenhorn, Dammastock und Galenstock. Die höchsten Gipfel des Oberlandes hingegen, das Finsteraarhorn und die Jungfrau, waren hinter dem Wetterhorn verborgen.

Zwei andere Seilschaften waren schon vor ihnen oben angekommen, man hatte sich kameradschaftlich begrüsst und tauschte bald Neuigkeiten aus der Kletterszene aus. Michael Steuri kannte fast alle einheimischen Bergsteiger. Er hatte schon als Gymnasiast, vor mehr als dreissig Jahren, zu klettern begonnen und kannte mittlerweile die meisten Routen im Berner Oberland aus eigener Erfahrung. Er hatte sich immer mit gezieltem Training fit gehalten und bewältigte auch jetzt noch, als Zweiundfünfzigjähriger, Routen bis zum fünften Schwierigkeitsgrad. In den letzten vier Jahren hatte er seine sportliche Schwägerin, Linda Moser, nach und nach für die Felswände begeistern können und sie zu einer fast ebenbürtigen Kletterpartnerin ausgebildet.

»Michael, was denkst du?«, fragte Linda, nahm seine Hand und sah ihn mit ihren grossen, dunklen Augen an.

»Ach, ich bin so glücklich, mit dir hier oben zu sein«, sagte er, »weit weg von den Sorgen des Alltags.«

»Hast du denn Ärger im Spital?« Michael seufzte.

»Ach, diese leidige Geschichte mit der Operation von Frau R… Und dann dieser lästige Brief… Aber ich kann dir jetzt noch nichts davon erzählen, vielleicht später mal… «

Michael blieb eine Weile stumm. Dann begann er unvermittelt leise zu lachen.

»Was ist?«, fragte Linda.

»Weisst du, ich dachte an deine Bemerkung vom Puppenhaus während des Aufstiegs. Von hier oben betrachtet, erscheint wirklich alles so winzig, das Tal mit seinen Alltagsproblemen so weit weg, alles so nichtig und klein. Rund um uns herum nur die Berge mit ihrer grossartigen Ruhe, voll von Klüften, Abgründen, senkrechten Wänden, Schutthalden, Schnee und Eis. Was suchen wir eigentlich hier oben? Warum zieht uns diese majestätische Welt mit solch magischer Kraft an, lässt uns keine Ruhe, bringt uns zum Träumen vom Klettern an senkrechten Wänden, vom Sieg über die Schwerkraft, vom Überwinden aller Schwierigkeiten, vom Erlebnis des Gipfels, von der tiefen Zufriedenheit nach dem Abstieg? Scheinbar leblos ist sie, diese Bergwelt, und doch voller Leben. Tausende blühender Pflanzen überziehen die steilen Abhänge, Murmeltiere tollen im Gras herum, Gämse und Steinbock trotzen den kargen Bedingungen, Adler und Alpendohlen segeln hoch in der Luft. Und nur ganz selten, an schönen Sommertagen, wagen sich auch wir Zweibeiner zaghaft ins Hochgebirge.«

»Mensch, du bist ja richtig poetisch«, staunte Linda, »aber eben, da unten im Rosenlaui, so winzig sie von hier aus auch erscheinen mag, braut sich ein tüchtiges Donnerwetter zusammen. Dort sitzt Matthias und widersetzt sich allen Geschwistern, will das Haus um jeden Preis behalten, nimmt alles dafür in Kauf. Ich kenne ihn nun schon lange genug, und ich glaube kaum, dass er nachgeben wird.«

»Ja, das wird schwierig«, stimmte Michael zu.

»Meine Liebe, so schön es hier oben ist, wir sollten uns langsam an den Abstieg machen.«

Freitag, 20. Juli 2012

Ich bin jetzt hellwach und schaue auf meine Uhr: Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Zum Glück bin ich immer noch angekleidet! Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe und eile aus dem Zimmer. Von unten höre ich lautes Wehklagen, deshalb renne ich, so schnell es geht, die Treppe hinunter. Auf dem untersten Treppenabsatz, oberhalb der Rezeption, bleibe ich abrupt stehen und lasse unwillkürlich einen kleinen Schrei fahren. Eine dunkelhaarige Frau, die ich sogleich als zum grossen Tisch gehörig erkenne, steht mitten im Raum, klammert sich mit beiden Händen an die Hotelchefin und schreit in einem fort: »Matthias ist tot, Matthias ist tot, …« Claudia Dietrich versucht, sich von ihr loszureissen, schafft es aber nicht. Als sie mich erblickt, ruft sie erleichtert: »Schnell, holen Sie meinen Mann, in der Bar, schnell!« Ich renne ins Freie und will mich zum Nebengebäude wenden, da kommt schon Daniel Dietrich gelaufen.

»Was ist denn los?«

»Offenbar ein Todesfall…« stammle ich, und wir laufen zusammen zur Rezeption zurück.

»Schnell, Zimmer siebzehn«, schreit Claudia Dietrich uns zu, während sie immer noch von der Frau umklammert wird. Der Hotelchef und ich rennen keuchend die Treppe hoch.

Die Türe zum Zimmer siebzehn steht halb offen. Ein Mann, nur mit einem dunklen Pyjama bekleidet, liegt reglos am Boden. Auf der Höhe seines Rückens bedeckt ein grosser Fleck, offenbar von eingetrocknetem Blut, die Holzdielen. Der Mann kommt mir ebenfalls vom grossen Tisch her bekannt vor. Daniel Dietrich kniet sich hin und versucht, dem Mann Puls und Atem zu fühlen. Dann erhebt er sich kopfschüttelnd.

»Ich denke, er ist wirklich tot. Sie, Herr Wolf, bleiben hier und passen auf, dass niemand hereinkommt und nichts angefasst wird. Ich rufe unterdessen den Notarzt an.« Er schliesst die Türe von aussen, und ich bleibe ganz allein mit dem Toten im Zimmer. Ein mulmiges Gefühl schleicht an mir hoch, die Zeit will kaum vergehen, ich stehe am Fenster und starre hinaus in die Dunkelheit. Schliesslich kommt Dietrich zurück und meldet, der Arzt sei unterwegs. Es würde mich natürlich brennend interessieren, mehr über den Verstorbenen zu erfahren, aber ich wage nicht zu fragen, und Dietrich, sichtlich geschockt vom Ereignis, schweigt vor sich hin.

Endlich, um zwanzig nach zwölf, höre ich ein Auto vorfahren, und eine Minute später erscheint ein grossgewachsener, schlanker, älterer Mann mit Glatze und kurzem weissem Bart im Türrahmen.

»Grüss dich, Fritz«, sagt Daniel Dietrich, sichtlich erleichtert, »ich habe dich wahrlich nicht gern aus dem Bett geholt, aber hier sieht es ganz nach einem unnatürlichen Todesfall aus. Übrigens, das ist Herr Valentin Wolf, Hotelgast, und Doktor Fritz Tschanz, diensttuender Arzt aus Meiringen.« Tschanz zieht sich Einweghandschuhe über und untersucht den am Boden liegenden Mann vorsichtig und gründlich. Dann erhebt er sich seufzend.

 

»Ja, dem armen Matthias Moser ist leider nicht mehr zu helfen. Dürfte seit einer guten Stunde tot sein. Über die Todesursache kann nur eine Autopsie letzte Klarheit bringen, aber jedenfalls wurde der Mann von hinten niedergestochen, vermutlich mit einem Messer.« Tschanz wendet sich zu Dietrich.

»Ich fülle jetzt den Totenschein aus, und du, Daniel, avisierst die Polizei. Ich denke, es reicht, wenn die morgen früh anrückt. Bis dann muss aber das Zimmer verschlossen bleiben und niemand darf etwas anrühren.«

»In Ordnung«, erwidert Dietrich, »dann versuche ich, direkt Polizist Peter Kehrli zu erreichen. Er ist doch ein Neffe der Ehefrau des Verstorbenen.«

»Ach ja, stimmt, die Linda Moser ist seine Tante. Wo steckt sie eigentlich?«

»Ich nehme an, immer noch unten bei Claudia. Gehen wir doch hinunter.« Unglaublich, denke ich, hier in der Gegend scheinen alle irgendwie miteinander verwandt zu sein. Wir treten auf den Flur hinaus, und der Hotelchef schliesst das Zimmer von aussen ab. Mittlerweile haben sich im Flur etwa zwanzig Hotelgäste versammelt, sprechen durcheinander, gestikulieren, wollen wissen, was passiert ist. Daniel Dietrich erklärt, es habe einen Todesfall gegeben, und bittet die Leute, auf ihre Zimmer zu gehen und Ruhe zu bewahren. Aber da mich selbst das Geschehen so fasziniert und mich niemand weiter beachtet, gehe ich einfach mit hinunter, immer einige Schritte hinter Tschanz und Dietrich bleibend, und beobachte vom untersten Treppenabsatz aus, was weiter passiert.

Während Daniel zum Telefon geht, kommt Claudia mit Linda Moser zusammen aus dem Büro heraus. Doktor Tschanz begrüsst Linda und drückt ihr gegenüber sein Bedauern und Mitgefühl zum Verlust ihres Ehemanns aus. Er will ihr ein Beruhigungsmittel geben, damit sie besser schlafen könne, aber sie lehnt dies ab. Claudia bietet ihr an, sie dürfe gerne ein anderes, freies Zimmer zum Schlafen benutzen.

»Nein danke«, sagt sie, »ich gehe lieber zu meiner Tochter Elena ins Zimmer. Es wird uns gut tun, heute Nacht nicht allein zu sein.« Da kommt Daniel Dietrich zurück.

»Ich habe soeben mit Peter Kehrli telefoniert. Er war total fassungslos, ist aber derselben Meinung wie Fritz Tschanz. Es genügt, wenn er morgen früh hierherkommt, sofern wir das Zimmer verschlossen halten.«

»Danke, Daniel«, sagt Linda Moser.

»Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Linda?«, fragt Claudia. Linda schüttelt den Kopf, verabschiedet sich mit einem Händedruck von allen und steigt die Treppe empor in Richtung Elenas Zimmer. Nachdenklich steige auch ich wieder zu meinem Zimmer hoch und lege mich ins Bett, kann aber erst nach zwei Uhr morgens einschlafen.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Bruno Brawand war gar nicht zufrieden. Leise fluchte er vor sich hin, während er seinen Laptop startete. Verdammt, die miese Geschäftslage wäre schon schlimm genug. Aber dann noch dieser Brief, der setzt dem Fass den Deckel auf… Bruno, seit drei Jahren Geschäftsführer der Moser Bau AG, sass nachmittags um fünf im Garten des Hotels Rosenlaui unter einem Ahornbaum, starrte auf den Bildschirm und machte sich Sorgen. Sein grosses Glas Bier hatte er, etwas allzu schnell, leergetrunken und soeben bei Daniel Dietrich ein zweites bestellt. Er öffnete jetzt sein Buchhaltungsprogramm und studierte intensiv die Lage der zahlreichen Haben- und Soll-Konten. Aber, wie er auch die Ergebnisse in seinem Kopf drehte und wendete, es wollte einfach nicht aufgehen. Die hohen Löhne und die Schuldzinsen frassen einen zu grossen Teil des Ertrages auf, und es war absehbar, dass das Geschäftsergebnis auch heuer, wie schon letztes und vorletztes Jahr, im Minus ausfiele. Und dies trotz seiner beileibe nicht geringen Anstrengungen, die Auftragslage zu verbessern, insbesondere dem kleinen Deal mit seinem Schwager Samuel… Wenn es nur mit der Familienvilla endlich vorwärts ginge! Und dann kam noch dieser vermaledeite Brief…

Bruno hatte seine Augen geschlossen und war ins Grübeln geraten. Bin ich denn unfähig, ein Baugeschäft zu führen? Früher, unter dem alten Samuel Moser, habe ich doch als Bauführer eine gute Figur abgegeben. Sonst hätte mich mein Schwiegervater doch nicht zum Nachfolger ernannt! Na ja, zugegeben, ich musste noch etwas nachhelfen, und Barbara hat sich auch mächtig stark gemacht für mich, aber wer würde das nicht tun? Jetzt reiss dich zusammen, Bruno, du musst das Ding einfach zum Laufen bringen!

Oh, wer legt denn da seine Hände auf meine Schultern? Bruno drehte den Kopf.

»Ach so, du bist es!« Seine Ehefrau Barbara stand hinter ihm und lachte ihn strahlend an. Bruno liebte ihre schon etwas mollige Figur, ihre kurzen, dunklen Haare, ihre braunen, nie geschminkten Augen, ihre Fältchen um die Nase herum, ihren kleinen, stets ein wenig offenen Mund, ihr kehliges Lachen.

»Sorgen, mein Herz?«, fragte sie. Bruno murmelte einen Fluch in sich hinein.

»Das kann man wohl sagen. Sieht von Monat zu Monat schlechter aus.«

»Ganz so schlimm wird es nicht sein«, meinte Barbara betont optimistisch.

»Komm, wir schauen uns die Sache mal gemeinsam an.« Erleichtert stimmte Bruno zu. Barbara würde bestimmt, wie schon so oft, eine Lösung finden!

Barbara setzte sich neben ihn und begann, die Tabellen zu studieren. Mehrere Minuten lang sagte sie gar nichts, dann holte sie aus ihrer Handtasche Block und Farbstifte hervor und fing am, ein Schema zu malen. In die Mitte des Blattes zeichnete sie einen schwarzen Kreis und schrieb hinein: Defizit. An diesen Kreis setzte sie etwa ein Dutzend Pfeile an, in alle Richtungen weisend. An die Enden der Pfeile malte sie Kästchen in verschiedenen Farben und schrieb Stichworte hinein, etwa Lohnkosten, Kapitalkosten, Steueraufschub, Verzögerung bei Matter, Einspruch von Meyer, Kostenüberschreitung bei Sieber. Dann malte sie weitere Pfeile, neue Kästchen, bis das ganze Blatt wie ein Labyrinth aussah.

Bruno schaute fasziniert zu. Frauen denken einfach irgendwie anders! Am Ende notierte Barbara, immer wieder in den Computertabellen nachschauend, neben jedes Kästchen eine Zahl. Sie lehnte sich zurück, schaute auf das Blatt und meinte: »So, jetzt haben wir, auf diesem sogenannten Mindmap, die grafische Übersicht unserer geschäftlichen Probleme.« Bruno war perplex.

»Wo hast du das nur gelernt?« Barbara lächelte, der Stolz war ihr anzusehen.

»Schliesslich habe ich die Management Akademie in Thun abgeschlossen. Da lernt man eben, Probleme mal anders anzugehen, als man es schon immer gemacht hat. Du zum Beispiel marschierst, wenn ein Problem vorliegt, einfach schnurgerade darauf zu, du denkst sozusagen eindimensional, gehst von A zu B und dann nach C. Ein Mindmap hingegen ist zweidimensional, da kannst du Abhängigkeiten, Rückkopplungen und Blockaden besser darstellen. So wirst du, wenn es optimal gemacht wird, mit einem Blick die kritischen Schwachstellen der Projekte überblicken.« Bruno umfasste Barbaras Kopf mit beiden Händen.

»Ich staune, Frau Professorin.« Barbara lachte und drückte ihrem Mann einen dicken Kuss auf den Mund.

»Hoffentlich auch, mein Männlein!«

»Aber«, meinte Bruno zaghaft, »was heisst jetzt das konkret für unser Geschäft?« Barbaras Miene wurde eine Spur besorgter.

»Ja, Reserven haben wir tatsächlich kaum mehr. Ich sehe drei Alternativen, um über die Runden zu kommen: Entweder holen wir nächstes Jahr zwanzig Prozent mehr Aufträge herein, oder wir kaufen die Ware um mindestens zehn Prozent billiger ein, oder wir bauen beim Personal ab und erledigen die ganze Administration selber.« Bruno war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Auch Barbara hatte kein Wunderrezept!

»Das scheint mir aber alles unrealistisch. Die ersten beiden sind auf legalem Weg unerreichbar, und die dritte würde für uns eine Siebentagewoche ohne Ferien bedeuten.« Barbara nickte.

»Apropos legalem Weg: Was machen wir mit dieser Drohung?« Bruno erwiderte schulterzuckend: »Da müssen wir wohl oder übel bezahlen. Ich will nicht noch grösseren Ärger im Haus.«

»In dem Fall erhöht sich aber unser Defizit nochmals um ein Drittel«, meinte Barbara trocken und fügte dem Mindmap ein weiteres Kästchen mit einer negativen Zahl zu.

»Das heisst doch im Klartext«, sagte Bruno, »unser Geschäft können wir nur retten, wenn die Familienvilla sehr bald zum Verkauf kommt. Wir müssen Matthias umstimmen. Ach, ich könnte ihn erwürgen, ihn mit seiner blödsinnigen Sturheit!«

Linda Moser stieg aus der Duschkabine, trocknete sich ab, schlüpfte in ihren pinkfarbenen Morgenmantel und trat auf den langen Gang hinaus, an dessen Ende ihr Zimmer lag. Morgen würde sie, da war sie sicher, in Beinen und Armen einen tüchtigen Muskelkater verspüren, aber im Augenblick fühlte sie sich rundum wohl. Die Klettertour mit Michael hatte ihre Laune beinahe in den Himmel gehoben, hatte ihr ein Stück Glück geschenkt. Das war der Mann, mit dem sie wirklich zusammen sein wollte! Und er wollte doch auch, begehrte sie seit Jahren, wie noch kein Mann sie begehrt hatte. Linda blieb vor ihrer Zimmertüre stehen. Ihre gute Laune sank im Bruchteil einer Sekunde in den Keller hinunter, ihre Gedanken begannen zu kreisen.

Und jetzt? Da drinnen sitzt mein miesepetriger Ehemann Matthias. Nein, er wird nicht fragen, wo ich gewesen sei. Mit keinem Wort wird er meine Eskapade erwähnen. Seine Rache besteht darin, mich anzuschweigen und mich traurig anzublicken. Warum lässt er mich dann nicht gehen? Warum will er um jeden Preis nach aussen die heile Familie spielen, will sogar in die alte Villa seiner Eltern ziehen, damit alle Welt sieht, er hat es geschafft, er hat seine Ehe gerettet, seine weisse Weste ist unbefleckt, er bleibt der untadelige Anwalt, er leistet perfekte Arbeit in seiner klinisch sauberen Kanzlei an der Bahnhofstrasse… Oh ja, er glaubt, er sei gerecht, jeden Verstoss gegen das Gesetz müsse er aufklären und den Übeltäter seiner Strafe zuführen. Oh ja, er ist gerecht, vor allem aber selbstgerecht bis zum Überdruss. Und ich? Nach dem Gesetz bin ich seine Ehefrau, müssen wir ausharren, bis der Tod uns scheidet… Nein, aber nicht mit mir! Linda erschrak ob ihrer eigenen Stimme. Energisch drückte sie die Türklinke nach unten.

Aber das Zimmer war leer. Ihr Mann würde wohl irgendwo im Garten sitzen. Linda stellte sich vor den Wandspiegel, liess den Morgenmantel zu Boden gleiten und drehte sich langsam zweimal um ihre Achse. Ja, sagte sie sich, für meine siebenundvierzig mache ich doch eine durchaus gute Figur. Sie trat näher zum Spiegel. Und auch mein Gesicht ist noch passabel, wenn auch jetzt, ohne Schminke, etwas langweilig, beinahe allzu gleichmässig. Meine straffe, sonnengebräunte Haut, meine symmetrischen, dunklen Augen, meine schön gerade Nase, meine vollen Lippen, mein gut abgerundetes Kinn, mein schlanker Hals. Doch, ich gefalle mir! Linda legte sich, wieder im Morgenmantel, auf das Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Matthias ging ihr nicht aus dem Sinn. Wir sind ja doch immerhin fast zwanzig Jahre zusammengeblieben, da muss doch mal mehr gewesen sein? Habe ich ihn mal richtig geliebt? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Jedenfalls hat er mir damals mächtig imponiert. Ein durchaus gutaussehender Mann, studierter Rechtsanwalt, mit Aussicht auf eine eigene Kanzlei, redegewandt, ohne auf Angeber zu machen, zwar ohne viel Humor, aber doch mit einem gewissen spröden Charme. Und ich? Fünfundzwanzigjährige Apothekenhelferin, wohl allzu hübsch und zu sexy, um die seriösen Männer anzuziehen, war ich schon mehrmals an den Falschen geraten.

Und dann kommt so ein Studierter und wirbt um mich. Ja, das war es, eine Werbung, ganz klassisch, mit rosaroten Nelken und dunkelroten Rosen, exquisiten Pralinen, Einladungen zum Essen, Ausfahrten im Cabriolet. Richtig verliebt war ich wohl nicht, aber geschmeichelt in allen Farben und Tönen. Die ersten Monate unserer Freundschaft waren wirklich schön. Matthias war ja ziemlich zurückhaltend, ich hätte mir ein wenig mehr den stürmischen Liebhaber gewünscht. Ich glaube nicht, dass ich damals eine allzu grosse rosarote Brille trug, aber, wie es eben ist, man lernt die schwierigeren Eigenheiten eines Menschen erst so nach und nach kennen.

Was man am Anfang noch als zuvorkommend, korrekt, tugendhaft, gerecht und sauber tituliert, empfindet man drei Jahre später als kontrollierend, penibel, selbstgerecht und pingelig. Natürlich ging es uns materiell ganz prächtig, aber emotional hat sich immer mehr die Wüste ausgebreitet…

 

Und das war beileibe nicht nur meine eigene Empfindung! Matthias hat sich wirklich extrem stark verändert, wie mir auch andere bestätigen. Wie konnte das geschehen? Ich kann es mir nicht genau erklären. Eine gewisse Überheblichkeit hatte er immer schon an sich. Als Lieblingskind seiner Eltern kommt man eben schnell zur Einsicht, man sei etwas Besseres. Aber es war wohl auch die Arbeit mit seinen Klienten, mit den Gesetzes-Paragraphen, der stete Kampf gegen den politischen Filz im Dorf, der alle Probleme unter dem Deckel hielt… Wahrscheinlich hat ihn das fertig gemacht, hat ihn so extrem intolerant werden lassen. Eigentlich hätte ich Mitleid mit ihm haben müssen. Aber er war unterdessen so unnahbar geworden, so abweisend, dass ich mich Michaels Annäherungsversuchen noch so gerne überliess… Würde es mir mit Michael genauso gehen? Ich kann es mir nicht vorstellen, er ist so vollkommen anders… Linda war eingeschlafen.

Kurz vor acht Uhr abends fuhr ein dunkelblauer Mercedes auf den Parkplatz des Hotels Rosenlaui. Ein Mann stieg aus und ging, in der Rechten eine Aktentasche, in der Linken eine kleine Reisetasche, auf den Hoteleingang zu. Dieses lästige Familientreffen, seufzte er vor sich hin, hat mir gerade noch gefehlt. Dabei hätte ich im Amt mehr als genug zu tun. Die Baugesuche häufen sich, ebenso die Einsprachen, und überall wird meine Stellungnahme gefordert. Ich wollte ja unbedingt in den Gemeinderat gewählt werden, aber unterdessen muss ich sagen, es bedeutet mehr Bürde als Würde. Und die Bezahlung ist auch an der untersten Grenze. Und als hätte ich nicht schon genug Ärger, funkt mir jetzt noch dieser verfluchte Matthias dazwischen, mit seinem unseligen Brief… Der Mann liess sich an der Rezeption seinen Zimmerschlüssel geben, stellte aber sein Gepäck in der Bibliothek ab und ging direkt in den Speisesaal, wo die meisten Hotelgäste gerade beim Hauptgang sassen. Er steuerte auf den grossen Tisch in der Saalmitte zu, begrüsste seine Tischgenossen nur mit einem angedeuteten Winken und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl.

»Endlich«, rief ihm Linda Moser zu, »warum kommst du denn so spät, Samuel?« Samuel Moser, der ältere Bruder von Lindas Mann Matthias, brummte vor sich hin.

»Ach, wie mich das ärgert, immer diese sinnlos langen Sitzungen im Gemeinderat, das ist doch eine reine Zeitverschwendung.«

»Das kann ich verstehen«, pflichtete ihm seine Schwester Barbara bei, »und die Sitzungshonorare sind eine reine Verschleuderung von Steuergeldern.« Samuel lächelte säuerlich. Er war nicht gerade das, was man gemeinhin einen schönen Mann nennt. Etwas korpulent, mit dickem Hals und einem Ansatz von Doppelkinn, einem breiten Gesicht mit unregelmässiger Haut, flachem Schädel mit nur noch wenigen, langen, rötlichen Haaren. Er wirkte viel älter als der nur um zwei Jahre jüngere Matthias.

Da trat Maria Manzoni an den Tisch.

»Guten Abend und willkommen, Herr Moser. Möchten Sie noch gerne das komplette Abendmenu essen?« Samuel winkte ab.

»Nein, nein, ich beginne mit dem Hauptgang. Und bringen Sie mir einen Dreier Merlot.« Samuel hatte plötzlich realisiert, wie hungrig er nach der langen Sitzung geworden war, und ass seinen Teller viel zu hastig leer. Gleich darauf erschien Maria schon mit dem Nachtisch. Die anderen hatten ihr Dessert schon beendet und diskutierten in Zweier- oder Dreiergrüppchen miteinander. Samuel wartete ab, bis die Gespräche am Tisch für einen Moment erloschen waren, und warf dann trocken in die Runde: »Und, habe ich recht, wenn ich ahne, dass in der Familie noch kein Verhandlungsergebnis erzielt wurde?«

Eine bedrückende Stille entstand am Tisch. Samuels Schwestern, Susanna und Barbara, hielten sich eine Hand vor den Mund und warfen sich ängstliche Blicke zu, während Bruder Matthias nur finster vor sich hin starrte. Auch die Eingeheirateten der Familie, Michael, Linda und Bruno, wagten nichts zu sagen. Samuel blickte der Reihe nach alle in der Runde an.

»Na, wohl alle aufs Maul gefallen, ihr Feiglinge?« Weitere Sekunden verstrichen. Plötzlich stiess die sechzehnjährige Elena Moser einen Schrei aus, erhob sich so ruckartig, dass ihr Stuhl nach hinten umkippte, und rannte schluchzend aus dem Saal hinaus. Vetter Luca und Mutter Linda eilten ihr sofort nach. Das war nun das erlösende Zeichen zum Aufbruch. Es dauerte keine Minute, und Samuel Moser war allein am Tisch zurückgeblieben. Er machte sich nicht daraus, bestellte sich einen Cognac und trank ihn in aller Ruhe genüsslich aus. Eine tolle Familie haben wir da, überlegte er grimmig vor sich hin, ein richtig explosives Gemisch! Zum Glück müssen das unsere Eltern nicht mehr erleben!