Monikas Reigen

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Dienstag, 11. August 2015

Lukas Lauber und Anna Auer parkten am Waldrand, wo ein hagerer, etwa siebzigjähriger Mann, der einen grossen schwarzen Pudel an der Leine hielt, auf sie wartete und, als sie ausstiegen, sofort zu sprechen begann.

»Bühler, Armin Bühler ist mein Name. Ich wohne in der Keltenstrasse und gehe jeden Morgen mit meinem Blacky in den Wald. Heute begann er plötzlich, wie verrückt zu schnüffeln und zu winseln, und zog mich nach rechts auf einen kleinen Pfad ins Dickicht hinein. Und da lag sie in ihrem Blut… Ich bin übrigens sicher, dass ich die Frau kenne, dass ich sie schon oft hier im Wald gesehen habe. Ich glaube, sie wohnt bei Marta Hadorn im Haus…«

»Also gehen wir endlich«, erwiderte Lukas Lauber unwirsch, und sie folgten dem Mann in den Wald hinein.

Die tote Frau lag auf dem Rücken, den Kopf nach links gedreht, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Ihr weisses T-Shirt war zerrissen und blutgetränkt. Die drei Männer von der Spurensicherung waren bereits an der Arbeit. Sie fotografierten die Tote von allen Seiten und suchten die Umgebung sorgfältig ab. Einige Meter entfernt stand Rechtsmediziner Niklaus Zehnder und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere.

Endlich waren die Leute von der Spurensicherung fertig und packten zusammen. Einer der Männer streckte Lukas Lauber ein kleines Portemonnaie zu.

»Hier, das haben wir in ihrer Hüfttasche gefunden.«

Lukas untersuchte den Inhalt. »Sehr gut, die Identität der Toten ist damit geklärt. Ein Personalausweis und ein Ausweis für Lehrpersonen, beide mit Foto. Monika Sarasin, Lehrerin am Gymnasium am Münsterplatz. Aber kein Hinweis auf eine Adresse oder auf Angehörige.«

»Eine ermordete Gymnasiallehrerin, wie ungewöhnlich«, murmelte Anna Auer erstaunt.

Niklaus Zehnder untersuchte die Tote behutsam und gründlich. Gespannt schauten Anna und Lukas zu.

»Und?«, traute sich Anna nach einer Weile zu fragen.

Der Rechtsmediziner schien sie nicht zu hören und machte weiter. Schliesslich erhob er sich mühsam. Zehnder war um die sechzig und schleppte einen ansehnlichen Kugelbauch mit sich herum.

»Ja, eine böse Geschichte«, sagte er mit säuerlicher Miene, »es handelt sich eindeutig um ein Tötungsdelikt. Die Frau wurde von vorne mit einem Messer erstochen. Die grosse Beule am Kopf deutet darauf hin, dass sie wohl zuerst mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen wurde. Sie dürfte seit rund zwölf Stunden tot sein, wurde also gestern am frühen Abend umgebracht.«

Lukas schaute sich um. »Soweit ich die nähere Umgebung beurteile, wurde sie wahrscheinlich hier an diesem Ort getötet und nicht etwa erst nach ihrem Tod hierher gebracht.«

»Das sehe ich auch so«, stimmte Zehnder zu, »von mir aus können wir die Leiche abholen lassen.«

»Pathologie, nehme ich an?«, fragte Anna.

Der Rechtsmediziner nickte nur, und Anna zückte ihr Handy, um den Leichenwagen aufzubieten.

»Wer von uns bleibt solange hier?«, fragte Lukas.

Anna reagierte sofort. »Du, schlage ich vor. Dann fahre ich zunächst zu diesem Gymnasium. Dort erfahre ich bestimmt auch etwas über die Angehörigen der Verstorbenen.«

»Gut«, stimmte Lukas zu, »wir treffen uns dann später im Präsidium, um das weitere Vorgehen zu besprechen.«

Anna Auer betrat den Schulhof des Gymnasiums am Münsterplatz. Es war jetzt zehn vor neun, und der Hof voll von Schülerinnen und Schülern, die in der ersten Pause des Schultages die letzten Neuigkeiten austauschten. Die Polizistin in Uniform fühlte sich unwohl, hatte das Gefühl, sie werde von allen Seiten angestarrt und als Fremdkörper betrachtet. Durch das weit offen stehende Tor betrat sie das Hauptgebäude, folgte den mit Rektorat beschrifteten Wegweisern und traf auf eine kleine, blonde Frau in dunkelblauem Hosenanzug.

»Guten Tag. Ich bin Anna Auer, Kriminalpolizei Basel-Stadt.«

Laura Waser starrte bestürzt auf den Polizeiausweis. »Oh je, oh je! Hat wieder einmal ein Schüler etwas Gröberes ausgefressen?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Leider ist es schlimmer. Eine der Lehrerinnen ist gestorben. Es handelt sich um Monika Sarasin.«

Laura Waser stiess einen spitzen Schrei aus. »Nein! Das darf doch nicht wahr sein!«

Sie drehte sich abrupt um und rannte, so schnell es ihre hohen Absätze zuliessen, den Flur hinunter.

»Annina, Annina!«, rief sie und riss die Tür zum Büro ihrer Chefin auf.

Die Rektorin wandte ihren Kopf. »Nicht so stürmisch, Laura! Was ist denn los?«

Laura verwarf die Hände und schrie: »Monika Sarasin ist tot! Hörst du, tot!«

»Jetzt rede nicht so dummes Zeug, meine…«

Sie verstummte augenblicklich, als sie die Polizistin im Türrahmen bemerkte, erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen.

»Frau Doktor Annina Burckhardt, Rektorin des Gymnasiums am Münsterplatz«, stellte sie sich ganz förmlich vor.

»Anna Auer, Kriminalpolizei. Ja, leider ist es wahr. Wir haben Monika Sarasin vor einer Stunde tot im Wald bei den Langen Erlen gefunden.«

»Was, in den Langen Erlen… dort drüben wohnt sie doch…«, murmelte Laura Waser.

»Am besten lasse ich wohl die ganze Schule für heute schliessen«, sagte die Rektorin nüchtern. »Kann ich das Lehrpersonal auch nach Hause schicken oder möchten Sie noch Befragungen machen?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, das kann warten.«

Annina Burckhardt blickte ihre Assistentin an. »Laura, kannst du das übernehmen, die Leute heimzuschicken?«

»Ja, ja, sicher, sofort…«, nuschelte diese und verliess eilig den Raum.

Annina Burckhardt schloss die Tür und wandte sich wieder der Polizistin zu. »Und jetzt haben wir kurz Zeit, miteinander zu reden. Bitte, nehmen Sie hier an unserem Salontisch Platz. Woran ist denn Monika Sarasin gestorben? War es ein Unfall?«

Wie scheinbar emotionslos und geschäftsmässig doch diese Frau den Tod einer ihrer Lehrerinnen aufnimmt, dachte Anna, so etwas habe ich noch nie erlebt.

»Frau Rektorin, es tut mir wahnsinnig leid, aber es handelt sich um ein Tötungsdelikt.«

»Ein… Oh je…« Jetzt machte sich doch Betroffenheit auf dem Gesicht der Frau breit.

»Ja, Monika Sarasin wurde erstochen. Wir haben bei ihr den Ausweis für Lehrkräfte gefunden, so wussten wir, wie sie heisst und wo sie arbeitet, und ich bin deshalb gleich als Erstes hier ins Gymnasium gekommen. Aber natürlich möchten wir sofort ihre Angehörigen informieren. Können Sie uns da weiterhelfen?«

Annina Burckhardt nickte zerstreut, sie schien sich zuerst wieder sammeln zu müssen.

»Wissen Sie, Monika Sarasin hat seit acht Jahren an unserem Gymnasium Geschichte und Geografie unterrichtet. Sie wohnte allein in Riehen, nahe dem Wald, wo das… Unglück passiert ist. Angehörige? Die Adressen kann ich Ihnen nicht geben, aber die werden Sie problemlos herausfinden. Monika hatte zwei Brüder, Sebastian und Peter, und auch ihre Eltern leben noch. Wenn ich mich richtig erinnere, lebt der ältere Bruder immer noch in der Familienvilla der Sarasins im Gellert

Oh, dachte Anna, Familienvilla im Gellert, das tönt nicht schlecht. Aber schliesslich sind die Sarasins ein uraltes Basler Patriziergeschlecht. Da wäre alles andere als eine Familienvilla eine Überraschung gewesen.

»Und sonst? Wissen Sie etwas über ihr Privatleben? Hatte sie einen Partner?«

Die Rektorin seufzte, und es war offensichtlich, dass die Befragung sie bereits zu nerven begann.

»Wissen Sie, wir mischen uns nicht in das Privatleben unserer Lehrkräfte ein, solange sie ihre berufliche Aufgabe korrekt wahrnehmen. Was ich weiss, ist, dass Monika im Tennisclub Smash Basel sehr aktiv war. Sie wohnte allein, hatte aber, gelinde gesagt, einen ziemlichen Verschleiss an Männern… Momentan war sie aber wieder einmal Single. Aber fragen Sie ruhig noch bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrkörper nach.«

»Das werde ich gerne tun, und ich danke Ihnen sehr für die Auskünfte«, sagte Anna kühl und verabschiedete sich rasch.

Sie war froh, wieder draussen zu sein. Diese merkwürdige Atmosphäre im Rektoratsbüro hatte sie geradezu schockiert. Was war der Grund, dass die Rektorin die Nachricht vom Mord an einer Lehrerin mit so wenig Anteilnahme empfing? Hatte sie etwa schon davon gewusst? Oder war ihr Charakter einfach so gestrickt? Eines war klar: Mit dieser Frau würde sie sich nochmals befassen müssen.

Die Schülerinnen und Schüler hatte man, ohne ihnen Genaueres mitzuteilen, nach Hause geschickt. Das Lehrerkollegium hingegen war von Laura Waser in die Aula beordert worden, wo ihnen Annina Burckhardt die Nachricht von Monika Sarasins gewaltsamem Tod überbrachte. Alle standen unter Schock. Niemand konnte wirklich glauben, was passiert war, es mutete einfach zu verrückt an. Monika, diese fröhliche, beliebte Kollegin, aus dem Nichts heraus brutal ermordet, das konnte doch einfach nicht wahr sein!

Christa Vonlanthen stand am Fenster und starrte vor sich hin. In was für ein Wespennest hat mich bloss mein Schicksal geführt? Gestern noch der geglückte Start, die aufgestellte neue Klasse, die liebe Kollegin Monika, später dann das Glücksgefühl, als ich mit der Münsterfähre den Rhein überquerte, dann den warmen Abend auf dem Balkon genoss und mich schon beinahe zuhause fühlte… Und heute Morgen dieser brutale Hammerschlag, ein unbegreiflicher Mord, der alles zunichtemacht…

»Christa, ganz allein hier am Fenster?«

»Ehm, ja, Hallo…«

Ein grosser, hagerer, weisshaariger Mann blickte sie durch eine runde Brille hindurch mit traurigen Augen an.

 

»Ich bin Andreas Vischer, Lehrer für Latein und Philosophie, unter anderem auch in der 4c.«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Entschuldige, ich wurde gestern so vielen Leuten vorgestellt…«

»Überhaupt kein Problem, ich kenne das. Wie war denn dein erster Tag gestern?«

»Überraschend gut, darf ich sagen. Nur jetzt dieser Tiefschlag… Hast du Monika gut gekannt? Kannst du dir vorstellen, warum…?«

Andreas Vischer zuckte mit den Achseln. »Auch ich fühle mich total geknickt und sehr traurig. Ja, ich kannte Monika sehr gut, wir haben ja schon lange zusammengearbeitet und uns auch privat ab und zu gesehen. Ich bin absolut ratlos, was da passiert sein könnte.«

»Ja, ratlos ist das richtige Wort«, seufzte Laura Waser, die soeben hinzugetreten war. »Mitten aus dem blühenden Leben gerissen, wer kann das begreifen? Monika war doch überall beliebt! Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendein Irrer war, der sich im Wald wahllos ein Opfer ausgesucht hat.«

»Ja, das scheint auch mir die einzige Möglichkeit zu sein«, stimmte Andreas zu. »Aber es bringt ja nichts, wenn wir hier spekulieren. Es ist Sache der Polizei, das Verbrechen aufzuklären. Ich verziehe mich jetzt nach Hause und versuche, mit dem Studium eines lateinischen Gedichtes meine trüben Gedanken zu verscheuchen. Ich wünsche euch noch einen guten Tag.«

Nun, jeder hat da seine eigenen Methoden, sich zu zerstreuen, dachte Christa und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.

Lukas Lauber hatte fast eine Stunde neben der Leiche ausharren müssen, bis endlich die zwei Männer von der Pathologie eintrafen. Sie legten die Tote in einen einfachen Sarg und trugen diesen zum breiten Waldweg, wo der Leichenwagen stand. Lukas konnte mitfahren und ging dann zu Fuss von der Pathologie zurück ins Präsidium, wo er seine Chefin, Silvia Stauber, kurz über den Fall informierte. Danach rief er Anna Auer auf ihrem Handy an. Sie war gerade unterwegs zu Monika Sarasins Eltern und sagte, sie benötige bis auf weiteres keine Unterstützung. Lukas musste zuerst einen Anflug von Enttäuschung überwinden. Dann gab er sich einen Ruck, holte am Automaten einen Kaffee und machte sich schweren Herzens daran, seinen Pendenzenberg zu verkleinern.

Zunächst wartete da das Protokoll zum Verhör dieser zwei Schlägertypen. Am Sonntagabend waren sie vor dem Restaurant Sternen im Kleinbasel aufeinander losgegangen. Die Bilanz der Schlägerei: Mehrere Fleischwunden, die genäht werden mussten, zwei ausgeschlagene Zähne und ein gebrochener Zeigefinger. Leider waren die Augenzeugen erst dazugekommen, als die Schlägerei schon in vollem Gange war. Und die Aussagen der zwei Kämpfer selbst waren so widersprüchlich, dass man unmöglich feststellen konnte, wer weshalb angefangen hatte, und wer zuerst sein Messer zog. Lukas musste sich richtig dazu zwingen, das Protokoll niederzuschreiben. Was kann denn die Polizei in so einem Fall machen? Die Schläger sind mit ihren Wunden wohl schon genug bestraft, dachte er, vielleicht erhalten sie dazu noch eine Busse, aber nächstes Wochenende gehen wieder irgendwo zwei andere aufeinander los…

Die nächste Pendenz war der Überfall in der Kantonalbankfiliale am Morgartenplatz. Gestern Morgen hatten, kurz nach Schalteröffnung, zwei maskierte und bewaffnete Männer die Angestellten zur Herausgabe von Bargeld gezwungen. Einer der Mitarbeiter konnte zwar den Alarmknopf drücken, aber als die Polizei eintraf, waren die Räuber schon mit einem Auto geflüchtet, in dem ein Dritter gewartet hatte. Immerhin, einer der Bankangestellten hatte den schwarzen Mazda noch davonfahren gesehen und sogar die Kontrollschildnummer notieren können. Die sofort ausgelöste Grossfahndung hatte schnell einen Teilerfolg gebracht. Eine Stunde später wurde der Mazda in Delémont angehalten, der Fahrer verhaftet und ein Drittel des Geldes sichergestellt. Der Verhaftete hatte sich aber bisher geweigert, Angaben zu seinen Komplizen zu machen. Lukas sah die Unterlagen zum Fall nochmals durch und machte sich dann auf den Weg ins Untersuchungsgefängnis, um den Mann ein zweites Mal zu befragen.

Um elf Uhr kehrte Lukas frustriert in sein Büro zurück. Die Befragung war erneut ergebnislos geblieben. Trotzdem gab es noch Hoffnung, die Komplizen zu finden. Im Auto hatte man nämlich mehrere Fingerabdrücke sowie Hautzellenmaterial gefunden. Falls die Fingerabdrücke oder die genetischen Profile der Flüchtigen bereits in einer Polizeidatenbank gespeichert waren, würde man sie identifizieren können. Ein weiteres Problem wäre dann aber, die flüchtigen Männer auch noch aufzuspüren. Jetzt galt es einfach, die Laborergebnisse abzuwarten.

Lukas nahm sich das nächste Dossier vor. Häusliche Gewalt, auch so ein leidiges Thema, mit dem die Polizei täglich konfrontiert war. Ein Mann hatte im Breitequartier seine Frau so brutal zusammengeschlagen, dass sie mit gebrochenen Rippen und etlichen Prellungen ins Spital eingeliefert werden musste. Schwere häusliche Gewalt war -– zum Glück für die Opfer – seit dem Jahr 2004 in der Schweiz ein Offizialdelikt, das heisst, die Behörden waren verpflichtet, solche Fälle zu verfolgen, unabhängig davon, ob das Opfer einen formellen Strafantrag stellte oder nicht. Früher hatten die misshandelten Frauen leider oft darauf verzichtet, einen Strafantrag gegen ihren Partner zu stellen, und in diesem Fall waren der Polizei die Hände gebunden gewesen. Lukas tippte die Befragungsprotokolle der Frau und ihres Mannes in den Computer. Der Richter würde es schwer haben, sein Urteil zu fällen. Die Aussagen der beiden wichen ganz erheblich voneinander ab, und Zeugen gab es keine. Lukas seufzte, schloss den Bericht ab und begab sich in die Kantine zum Mittagessen.

Nachdenklich ging Annina Burckhardt in ihrem Büro auf und ab. Sie sah die nächsten Tage wie eine riesige dunkle Wolkenwand auf sich zukommen. Die Aufregung innerhalb der Schule und in der Öffentlichkeit würde gigantische Ausmasse annehmen. Sie sah die Schlagzeilen in der Presse schon vor sich: Mord an einer beliebten Lehrerin! Einen vergleichbaren Mordfall hatte es wahrscheinlich in den Basler Schulen noch gar nie gegeben. Annina Burckhardt hasste alles, was die Ordnung des Schulbetriebes störte. Die ersten ein oder zwei Wochen des neuen Schuljahres konnten praktisch abgeschrieben werden. Und wie sollte sie kurzfristig einen Ersatz für Monika auftreiben? Nichts als ungelöste Probleme… Aber da musste sie jetzt einfach durch!

Es klopfte an der Tür.

»Ich bin‘s«, hörte Annina eine wohlbekannte Männerstimme.

Oh je, auch das noch, dachte sie. Muss der jetzt aufkreuzen? »Also, komm!«

Andreas Vischer kam herein, trat neben die am Fenster stehende Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Es tut mir so leid.«

»Fass mich nicht an«, zischte Annina, machte sich resolut frei und stellte sich hinter ihren Schreibtisch. »Es ist vorbei zwischen uns, ist dir das nicht klar?«

Andreas hob unsicher die Hände. »Doch, absolut. Ich wollte dich ja nur in dieser schwierigen Situation ein wenig trösten und dir Mut machen.«

»Papperlapapp! Mut habe ich selber genug! Und den Trost brauchst doch vor allem du! Du wirst Monika bestimmt wahnsinnig nachtrauern.«

Andreas Vischer hatte seinen Kopf gesenkt und machte unschlüssig ein paar Schritte hin und her. Was sollte er jetzt nur machen? Ach, es war sowieso egal, er hatte beide Frauen endgültig verloren!

»Also dann…«, murmelte er und verliess das Rektoratsbüro.

Anna Auer hatte Monika Sarasins Eltern telefonisch ihren Besuch angekündigt. Sie hatte nur erwähnt, ihre Tochter sei verunfallt, aber Monikas Mutter hatte sofort die Vermutung geäussert, dass sie nicht mehr am Leben sei.

Anna war dann von der Innenstadt aus mit dem Tram Nummer drei hierher ins Gellert gefahren. Dieses Quartier von Basel wurde früher traditionell von der betuchteren Bevölkerungsschicht bewohnt. Noch vor sechzig Jahren hatte hier ein Dutzend prächtiger Familienvillen in ebensolchen Parkanlagen gestanden. Nach und nach hatte dann aber auch der Mittelstand dieses ruhige Wohnquartier für sich entdeckt, und immer mehr Reiheneinfamilienhäuser und sogar Mehrfamilienhäuser ersetzten die grossen Villen. Die Sarasins waren eine der letzten Familien, die immer noch im Gellert ihre Villa bewohnten. Nicht dass etwa die anderen sogenannten besseren Familien verarmt wären! Nein, die Vischers, Staehelins, Merians und Burckhardts hatten sich für eine andere Lösung entschieden: Sie hatten ihre riesigen Grundstücke im Gellert als begehrtes Bauland verkauft und sich mit dem Millionengewinn ein neues, ebenso standesgemässes Domizil erworben, etwas weiter weg vom Stadtzentrum, vorzugsweise auf dem Bruderholz oder in Riehen.

Der das Wohnhaus der Sarasins umgebende Park wurde gegen Süden hin durch drei mächtige, alte Buchen dominiert, die jetzt im Sommer angenehmen Schatten spendeten. Auf der Nordseite streckten sich vier Birken schlank in die Höhe, auf der Westseite stand eine knorrige alte Eiche. Der Rest des Gartens war ein Mosaik aus Rasen, Blumenrabatten, Wildblumenwiese und einigen niederen Sträuchern. Der hohe metallene Zaun, der das Grundstück umgab, war von aussen kaum zu sehen, da er durch eine dichte Hecke aus verschiedenen Sträuchern verdeckt wurde. Das schmiedeeiserne Eingangstor wirkte wie frisch gestrichen, der Kiesweg dahinter sah aus wie soeben geharkt, und die steinernen Treppenstufen zum Hauseingang glänzten wie frisch poliert. Auch der Garten wurde offensichtlich von einem Fachmann gepflegt. Die Blumenrabatten rund um das Haus waren beinahe unkrautfrei, wenn auch die Pflanzen durch die Hitze etwas gelitten hatten. Bestimmt gibt es hier noch eine ganze Menge an Dienstpersonal, sagte Anna sich, das sieht alles so gepflegt aus hier.

Auf dem Namensschild am Eingangstor waren, wie bei den besseren Familien üblich, nur die Initialen eingraviert. Man wusste ja schliesslich, wer wo zu Hause war… Aha, las sie, ‘S – V‘, also S für Sarasin und V für den Mädchennamen der Frau. Würde mich gar nicht wundern, wenn sie eine Vischer wäre, und natürlich keine gewöhnliche Fischer, sondern eine mit dem Vögeli-Vau.

Anna betätigte die aussen am Tor angebrachte Klingel. Der Summer ertönte, sie stiess das Tor auf und ging auf das Haus zu. Die zweistöckige Villa machte einen sehr noblen Eindruck. Vom Stil her musste sie gegen hundert Jahre alt sein, aber sie sah aus wie frisch renoviert. Das Haus war aus massiven, gelblichen Sandsteinquadern gebaut. An jeder Ecke standen zur Zierde zwei starke, weisse Marmor-Säulen mit elegant geschwungenen Kapitellen. Die hohen, eher schmalen Fenster hatten breite, steinerne Simse. Die erste Etage trug auf allen vier Seiten einen langen, ziemlich breiten Balkon mit einer auf weisse Säulchen gestützten steinernen Brüstung. Das Ziegeldach stand etwa einen Meter vor, so dass die Balkone zur Hälfte gedeckt waren.

Die mächtige, eichene Eingangstür ging auf, und im Türrahmen erschien eine ältere Frau in weisser Schürze.

»Ja, Sie wünschen?«

Anna kam sich vor wie im neunzehnten Jahrhundert: Eine Dienstmagd wie im Bilderbuch!

»Anna Auer, ich habe mich angemeldet.«

Ein kleines Lächeln erschien auf dem Gesicht der Angestellten. »Oh, wie schön, ich heisse auch Anna. Bitte folgen Sie mir.«

Die Kommissarin wurde durch die grosse Eingangshalle hindurch in einen Salon geführt. Das Innere des Hauses wirkte genauso gepflegt wie das Äussere. Zweifellos sorgte eine tüchtige Reinigungskraft hier für saubere Verhältnisse. Die drei Fenster im Salon gingen auf den Garten hinaus und hatten innen breite Simse aus Marmor, auf denen Töpfe mit blühenden Orchideen und Lilien aufgereiht waren. An den Wänden hingen grössere und kleinere Ölbilder und Aquarelle, lauter Landschaftsaufnahmen aus der näheren Umgebung. Die Möbel waren ganz im klassischen Stil gehalten und sehr sorgfältig gepflegt.

In der Mitte des Salons stand eine ältere, sehr bemerkenswerte Frau. Sie musste die sechzig schon lange überschritten haben, sah aber, wie sie schlank und aufrecht dastand, jünger aus. Ihre blond gefärbten, mittellangen Haare hatte sie sorgfältig frisiert, Augen und Lippen waren diskret geschminkt. Sie empfing die Besucherin mit einem charmanten Lächeln, obwohl ihr keinesfalls danach zumute sein konnte.

»Ich bin Monikas Mutter, Margareta Sarasin, geborene Vischer. Seien Sie willkommen, Frau Auer.«

Anna musste sich auf ein altes, mit Gobelin-Stickerei verziertes Sofa setzen. Irgendwie fühlte sie sich vollkommen deplatziert hier, trotzdem empfand sie die Atmosphäre im Haus als angenehm und gastfreundlich. Die Tür ging auf, und ein mittelgrosser, schlanker Mann um die siebzig in weissem Hemd und blauer Krawatte betrat den Salon.

 

»Darf ich vorstellen, mein Mann Max«, sagte Frau Sarasin.

Die Kommissarin kondolierte zunächst dem Ehepaar zum Verlust ihrer Tochter.

Der Vater schüttelte vehement den Kopf. »Das ist ja nicht zu glauben, unsere Monika ist tot? Sie war doch völlig gesund und unternehmungslustig! Was ist denn da passiert?«

»Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber es sieht ganz danach aus, als sei Ihre Tochter umgebracht worden.«

»Was sagen Sie da!« Die Eheleute erstarrten und schauten einander fassungslos an.

»Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein! Warum denn um Himmels willen?«, fragte der Vater nach einer Weile.

»Leider haben wir noch gar keine Anhaltspunkte, die Polizei steht erst am Anfang der Ermittlungen. Aber bitte erzählen Sie mir jetzt einfach etwas über Ihre Tochter.«

»Zuerst brauche ich aber einen Drink«, sagte Max Sarasin und ging langsam zu einem an der Wand stehenden kleinen Schrank mit gläsernen Türchen. »Nehmen Sie auch einen?«

Anna Auer schüttelte den Kopf.

Max Sarasin goss Whisky in zwei Gläser und brachte diese zum Salontisch.

»Zum Wohl, Margareta, trotz allem«, stiess er mit seiner Frau an.

Er nahm einen Schluck und liess ihn mit geschlossenen Augen die Kehle hinabrinnen. »Ach, unsere arme Monika. Wissen Sie, wir haben drei Kinder, Sebastian, Monika und Peter, die alle hier im Hause aufgewachsen sind. Wie soll ich das jetzt richtig ausdrücken, aber Monika war immer schon irgendwie anders als ihre Brüder. Etwas rebellisch, unangepasst, fast trotzig, würde ich sagen. Oder nicht, Margareta?«

Frau Sarasins Augen waren von Tränen verschleiert, alle Augenblicke wischte sie diese mit einem Papiertaschentuch ab. »Ja, das war sie. Ein liebes Mädchen, aber äusserst eigenwillig. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass sie einmal einen guten Mann aus unseren Kreisen heiraten würde. Aber es sollte wohl nicht sein…«

Margareta Sarasin schlug die Hände vor das Gesicht und begann leise zu schluchzen. Ihr Mann legte einen Arm um ihre Schultern und fuhr fort. »Ja, eigenwillig war sie, aber auch sehr intelligent und zielstrebig. Sie schaffte ohne Probleme ihre Matura und studierte dann mit Enthusiasmus Geschichte und Geografie. Gymnasiallehrerin war immer ihr Ziel gewesen, und ich glaube, sie hatte wirklich ein Talent dazu, die Jugendlichen für ihre Fachgebiete zu begeistern. Nach dem Studium ging sie ein Jahr auf Reisen und fand danach sofort eine Anstellung am Gymnasium am Münsterplatz, der traditionsreichsten Mittelschule der ganzen Schweiz. Ich denke, sie war wirklich glücklich an dieser Schule. Vor sechs oder sieben Jahren hat sie sich dann diese hübsche Wohnung in Riehen gekauft. Aber wir waren leider nur ein einziges Mal dort eingeladen.«

Oh, das ist allerdings bemerkenswert, dachte Anna Auer für sich. »Das heisst, Sie hatten nur wenig Kontakt zu Ihrer Tochter?«

Max Sarasin zuckte mit den Schultern. »Sie ging eben ihre eigenen Wege. Man sah sich ab und zu.«

»Dann wissen Sie wohl auch nicht Bescheid über ihr Privatleben?«

Margareta Sarasin lachte dünn. »Glauben Sie denn, sie hätte uns etwas erzählt? Nein, wir wissen wenig über sie. Im Tennisclub Smash Basel war sie sehr aktiv, dort hatte sie ihre engsten Freundinnen. Darunter natürlich Patrizia Staehelin, die Partnerin unseres jüngeren Sohnes Peter. Und was Monikas Liebschaften betrifft, erzählte man sich so einiges…«

Erneut war Frau Sarasin in Tränen ausgebrochen.

»Dann will ich Sie nicht länger belästigen«, sagte Anna Auer. »Nur eine kleine Bitte hätte ich noch. Leider durfte ich Ihre Tochter nicht mehr lebend kennenlernen. Hätten Sie mir vielleicht ein gutes Foto von ihr?«

Margareta Sarasin nickte, verliess wortlos den Salon und kam mit einem kleinen, gerahmten Portrait zurück.

»Oh, wie schön, vielen Dank. Sie bekommen das Bild garantiert bald wieder«, versicherte Anna Auer, »und dann möchte ich jetzt gerne Ihre Söhne kennenlernen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Max Sarasin, »Sebastian, der ältere, wohnt mit seiner Familie hier im Haus. Wissen Sie, wir haben im ersten Stock eine Küche und im Erdgeschoss ein Bad einbauen lassen, und so die viel zu grosse Villa in ein Zweifamilienhaus verwandelt. Und der Peter hat sein eigenes Haus in Riehen. Ob wohl Sebastian zuhause ist? Anna!«

Anna Auer zuckte zusammen. Ach Unsinn, ich bin ja gar nicht gemeint!

Die ältere Frau in der weissen Schürze erschien im Türrahmen.

»Bitte, Herr Doktor Sarasin?«

»Ist die Jungmannschaft im Haus?«

»Sehr wohl, Herr Doktor Sarasin, bis zum Mittagessen sind noch alle hier.«

Anna Auer schaute auf die Uhr: Zwanzig nach elf. Was wohl dieser Sohn beruflich machte?

»Bring die Kommissarin nach oben, Anna.«

»Sofort, Herr Doktor Sarasin.«

»Mama, sag doch endlich, was ist eigentlich passiert? Warum wurden wir alle nach Hause geschickt? Man sagte uns nur, es sei ein Unglück geschehen.«

Nadja fasste ihre Mutter bei den Schultern. Barbara Moser hatte Tränen in den Augen.

»Ach, Nadja, es ist ja so schrecklich. Anscheinend wurde unsere liebe Kollegin Monika Sarasin gestern Abend in den Langen Erlen umgebracht.«

»Was! Umgebracht? Wie furchtbar!«, flüsterte Nadja und drückte ihre Mutter an sich. »Aber weshalb nur? Wer konnte nur so etwas tun? Die Sarasin war doch so eine mega tolle Lehrerin! Und noch so jung! Ich fasse es einfach nicht!«

In diesem Moment kam Guido Moser zur Tür herein. Er stellte seine Mappe auf den Boden, kam zu Frau und Tochter und strich den beiden sanft über die Haare. Seine Stimme war fast nur ein heiseres Flüstern. »Ja, meine Lieben, wir haben heute einen schrecklich traurigen Tag durchzustehen. Wer kann das nur getan haben?«

»Die Polizei wird das schon herausfinden«, versuchte Barbara sachlich zu bleiben. »Aber kommt jetzt zu Tisch, essen müssen wir ja trotz allem etwas.«

Schweigend begann die kleine Familie ihre Mittagsmahlzeit, alle waren in ihre eigenen Gedanken versunken.

Guido Moser war, seit seinem Studienabschluss vor fünfundzwanzig Jahren, im Gymnasium am Münsterplatz Lehrer für Mathematik und Physik. Seine Frau Barbara unterrichtete dort, auch schon seit bald zwei Jahrzehnten, Biologie und Chemie. Die siebzehnjährige Nadja war jetzt in der Klasse 4b. Weder ihr Vater noch ihre Mutter erteilten Unterricht in dieser Klasse. Dies wurde wenn immer möglich so geregelt, um von vornherein alle Spekulationen, ein Lehrer könnte das eigene Kind bevorzugen, zu entkräften. Aber bei Nadja wäre sowieso niemand auf eine solche Idee gekommen. Alle wussten, dass sie nicht nur talentiert, sondern auch sehr fleissig war, und ihr Platz als Klassenprima war unangefochten. Gleichzeitig war Nadja so liebenswürdig und bescheiden, dass auch niemand neidisch auf sie war.

Barbara erhob sich vom Tisch und räumte das Geschirr ab. »Willst du heute noch lernen, Nadja?«

»Ich müsste schon, aber ich glaube, das schaffe ich nicht, ich fühle mich so mega aufgewühlt. Ständig geht mir die Sarasin im Kopf herum… Ich glaube, heute kann ich nur noch herumhängen

»Dann geh doch besser zu Lisa«, schlug ihr die Mutter vor.

Nadjas Augen leuchteten auf. »Ja, das ist eine gute Idee. Ein wenig tratschen, das wird uns gut tun.«

Lisa Carona aus der Parallelklasse 4c war Nadjas beste Freundin. Sie hatten schon zusammen die Grundschule besucht und waren fast unzertrennlich. Und dies trotz ihren ziemlich gegensätzlichen Charakteren. So gewissenhaft, ordentlich und fleissig Nadja war, so unbeschwert, chaotisch und wenig fleissig war Lisa. Aber obwohl Lisa zuhause nur wenig lernte, schaffte sie es doch dank ihrer Intelligenz und ihrem guten Gedächtnis, den Anschluss in der Klasse nicht zu verlieren und in allen Fächern zumindest auf ein Genügend zu kommen. Dafür galt Lisa als konkurrenzlos schönste junge Frau des Jahrgangs und war dementsprechend bei den Burschen die klare Favoritin. Ihre schlanke, mit genau den notwendigen Rundungen versehene Figur zog alle Blicke an, und die Mischung der Gene ihres japanischen Vaters und ihrer Schweizer Mutter hatte ein einzigartig hübsches Gesicht entstehen lassen, dessen exotischer Faszination sich niemand zu entziehen vermochte. Auch in ihrer Kleiderwahl war Lisa immer topaktuell, achtete aber gleichzeitig darauf, sich eine individuelle, zu ihrer fernöstlich angehauchten Erscheinung passende Note zu erhalten.