Die Wohlanständigen

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acht

Die gute Nachricht: Berishas Beinbruchgeschichte war falsch. Die Schlechte: Das Rendezvous mit Mali musste verschoben werden, denn die Logik der Aufklärung erforderte zwingend rasches Handeln bei neuen Erkenntnissen. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht auf den anderen Morgen verschieben – und das war Michel klar. Aber er war stinksauer. Innerlich bebte er vor Zorn und haderte mit seinem Schicksal. Die Vorfreude auf die Begegnung mit der rothaarigen Mali war auf ihrem Siedepunkt angelangt, als die Nachricht kam. Gerade hatte er sich die Begegnung mit ihr ausgemalt. Das gemeinsame Essen hatte er großzügig über­sprungen und war gleich in ihrer Wohnung gelandet, genauer gesagt in ihren Armen. Küssen, küssen, küssen und dann, ach, end­lich ihre Bluse öffnen, und im nächsten Moment schien es ihm, als ob er tatsächlich ihre Nacktheit spürte.

Dann klingelte das Telefon und die Botschaft kam, die schlagartig alles veränderte. Er musste sich in die Wirklichkeit zurückzwingen. Er warf das Handy wütend auf seinen Schreibtisch. Es knallte gegen eine Blechdose mit Bleistiften, die scheppernd zu Bo­den ging. Lena stand schnell auf, hob die Dose vom Boden auf und sammelte die Stifte ein. Sie stellte sie auf den Tisch zurück und fragte ihn ganz besorgt, ob es ihm gut ginge. Er wehrte un­wirsch ab.

Nein, nein, es ist alles gut. Ich ärgere mich über diese ganze Lü­gerei. Hält er uns für so blöd!

Die Spurensuche hatte Spuren seines Bluts nicht nur auf der Treppe festgestellt – also da, wo Berisha behauptet hatte, gestürzt zu sein – sondern schon auf dem Trottoir und im Eingangsbereich. Es sieht ganz so aus, als ob er mit einem Auto vor das Haus gefahren worden wäre, sich dann ein Stück hochgeschleppt, bevor er um Hilfe geschrien hatte.

Er schickte Lena aus dem Büro und rief schweren Herzens Mali an, um ihr die Verschiebung ihres Treffens anzukündigen. Um es kurz zu machen: Sie nahm es leicht, schließlich hätten sie sich über vierzig Jahre lang nicht gesehen, da käme es auf einen Tag auch nicht an. Morgen Abend sei sie leider schon verabredet. Aber am Tag darauf, da könne er sie gerne bis Mitternacht anrufen, denn am nächsten Tag hätte sie frei …

Was für eine Perspektive!

Etwas besänftigt setzte er sich ans Steuer und fuhr mit Lena ins Spital. Sie beobachtete ihn von der Seite und wunderte sich über die schnellen Stimmungswechsel ihres Chefs.

Im Spital ging vor Berishas Zimmer ein Beamter auf und ab – und telefonierte.

Michel schnaubte.

Das kann nur Stoffel sein.

Zu Lena gewandt.

Wenn immer ich den sehe, ist er am Telefonieren.

He, Stoffel.

Er drohte mit dem Finger.

Keine privaten Telefonate während der Dienstzeit.

Stoffel drehte sich erschrocken um und beendete hastig sein Gespräch.

Ja, Entschuldigung. Aber sagen Sie das mal meiner Frau.

Michel lachte.

Das werde ich bei Gelegenheit. Grüßen Sie sie von mir.

Stoffel wunderte sich, denn normalerweise reagierte Michel sehr viel gereizter auf seine Telefoniererei.

Und? Gab es irgendwelche Vorkommnisse?

Stoffel schüttelte den Kopf.

Hat er irgendwelche Besuche bekommen?

Nur von einer jungen Frau. Seiner Freundin. Sie ist sehr nett. Sie hat mir einen Kaffee geholt.

Sie können jetzt ins Restaurant und was essen, Stoffel.

Stoffel strahlte.

Ist das ein Befehl, Chef?

Michel nickte grinsend und öffnete die Tür.

Berisha hatte gerade sein Abendessen beendet und schaute erschrocken zur Tür.

Michel griff nach einem Stuhl, setzte sich schweigend ans Bett und bedeutete Lena, dasselbe zu tun. Berisha schaute angstvoll von Michel zu Lena. Michel gab ihr das Zeichen, dass sie sprechen sollte.

Herr Berisha, wir sind gespannt, was Sie uns heute für eine Geschichte erzählen.

Welche Geschichte? Ich verstehe nicht …

Na, die Geschichte ihres Beinbruchs, denn die erste hat sich als unwahr entpuppt.

Er wurde kreidebleich und keuchte beim Sprechen.

Ich kann Ihnen aber keine andere erzählen, denn so ist es eben passiert.

Jetzt mischte sich Michel ein.

Interessant. Wie erklären Sie sich denn die Tatsache, dass Ihr Blut bereits auf dem Trottoir und im Eingangsbereich gefunden wurde?

Lena ergänzte.

Mit Luminol kann man alle Blutspuren sichtbar machen, auch wenn jemand versucht hat, das Blut wegzuputzen. Wir haben also Ihre Blutspur gefunden, die vom Trottoir bis zu der Stelle führt, die Sie als Sturzstelle angegeben haben. Können Sie uns dafür eine Erklärung geben?

Berisha hatte die Augen geschlossen und die Fäuste geballt.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Frau mit dichtem blondem Haar in einem dunklen Regenmantel trat ins Zimmer. Als sie Michel und Lena erblickte, blieb sie erst stehen, gab sich dann aber einen Ruck und trat ins Zimmer.

Guten Tag. Ich bin die Freundin von Bekim. Anita Müller. Sie sind von der Polizei, nehme ich an. Er hat mir von Ihnen erzählt.

Sie kam näher und gab Michel und Lena die Hand.

Dann ging sie auf die andere Seite des Bettes und ergriff Bekims Hand.

Hast du Ihnen jetzt die Wahrheit erzählt? Ich habe ihm nämlich gesagt, dass er Ihnen unbedingt die Wahrheit erzählen muss und dass Sie ihm dann helfen werden.

Michel räusperte sich und war unsicher, wie er sich verhalten sollte. Lena sprang ein.

Ja, ich glaube, Herr Berisha war gerade daran, uns die Wahrheit zu erzählen. Nicht wahr, Herr Berisha?

Er nickte und schluchzte kurz auf. Er blickte gegen die Decke und begann dann stockend zu erzählen.

Also, das ist meine Freundin. Sie heißt Anita. Meine Familie lehnt sie ab, weil sie nicht aus unserem, äh …

Anita sprach es für ihn aus.

Ich bin nicht aus seinem Land, ich habe nicht seine Religion und auch nicht seine Kultur. Deswegen will seine Familie nicht, dass wir zusammen sind.

Bekim nickte heftig.

Seit Wochen droht mir meine Familie mit allen möglichen Konse­quenzen, wenn ich mich nicht von Anita trenne.

Michel wischte sich mit einem Tuch über die Stirn.

Aha. Mit was für Konsequenzen denn?

Berisha zuckte mit den Schultern.

Die ganze Zeit Streit, Hausarrest, Konto sperren lassen, mich nach Kosovo bringen und so weiter.

Aber Sie sind doch erwachsen?

Berisha lachte kurz auf.

Das hat bei uns keine Bedeutung.

Michel zeigte auf das Bein.

Und was hat das alles damit zu tun?

Berisha presste die Lippen zusammen und blickte flehend zu Anita.

Er kann es nicht erzählen, weil er sich schämt. Also, am Freitagabend haben ihn seine Cousins von zu Hause abgeholt und gesagt, sie wollten mit ihm ausgehen und was trinken. Das haben sie auch gemacht. Später sind sie aber statt nach Hause in einen Wald gefahren, haben ihn mit einer Pistole bedroht und ihm gesagt, dass sie ihn umbringen würden, wenn er sich nicht von mir trennen würde. Er musste aus dem Auto aussteigen und sich niederknien. Sie haben an seinem Kopf vorbeigeschossen.

Sie stockte und wischte sich die Augen.

Dann haben sie so lange auf sein Bein geschlagen, bis es gebrochen war, ihn vor dem Haus ausgeladen und ihn allein gelassen. Seine eigenen Cousins.

Lena hatte mitgeschrieben und wurde dabei immer fassungsloser.

Michel nahm das Notizbuch und blätterte um bis zu der Na­mensliste. Er zeigte sie Anita.

Sind das die Namen der Cousins?

Sie las die Namen und schüttelte langsam den Kopf.

Nein, das sind nicht die richtigen Namen.

Berisha bäumte sich auf.

Ich will sie nicht anzeigen. Nein, um Gottes Willen. Das ist doch meine Sache. Ich muss die nicht anzeigen.

Sie irren sich! Was Ihnen widerfahren ist, kann man nicht mehr als leichte Körperverletzung abtun. Das ist eine vorsätzliche und schwere Körperverletzung und damit ist es ein Offizialdelikt. Das heißt, wir erheben Anklage und wenn Sie die Aussage verweigern, machen Sie sich strafbar.

Berisha schloss wieder die Augen. Michel wandte sich zu Anita.

Reden Sie ihm gut zu. Wir lassen Ihnen eine Stunde Zeit.

Er stand auf.

Kommen Sie, Lena.

Sie verließen das Zimmer.

Gehen wir ins Restaurant? Stoffel wird ja wohl fertig sein.

Stoffel löffelte gerade sein Eis fertig, sprang aber sofort auf, als er Michel erblickte.

Ist schon gut. Wann werden Sie denn abgelöst, Stoffel?

Der guckte auf die Uhr.

In einer Stunde.

Gut. Wir gehen in einer Stunde wieder hoch.

neun

Drei von Bekim Berishas Cousins wurden noch am selben Abend verhaftet. Von der Werdt hatte darauf bestanden, kurzen Prozess zu machen und umgehend Streifenwagen losgeschickt, um alle fünf Cousins gleichzeitig zu verhaften. Zwei hatten sich offensichtlich bereits in den Kosovo abgesetzt. Ob aus Angst vor Konsequenzen der Misshandlung ihres Cousins oder aus anderen Gründen, konnte nicht festgestellt werden. Die fünf waren die Söhne eines Bruders und einer Schwester von Bekims Vater. Zwei waren im selben Alter wie Bekim, einer deutlich jünger. Die beiden Flüchtigen waren wohl älter. Die Eltern gaben sich laut Aussagen der Polizisten verschüchtert und verstockt. Sie hätten von alledem nichts gewusst. Die beiden Mütter sprachen kein Deutsch, die Väter sehr schlecht. Vielleicht versteckten sie sich auch bloß hinter dieser Sprachlosigkeit. In der einen Wohnung seien sehr viele Familienmitglieder gewesen. Die Polizisten hätten den Eindruck gehabt, dass gerade ein Familien- oder Sippenrat getagt hatte. Aber es war aus den Leuten nichts Vernünftiges herauszubekommen. Morgen würde man sich mit Dolmetschern die Familien nochmals vorknöpfen, dass hatte der Chef lauthals geschworen.

 

Von der Werdt war in seinem Element. Das Verhalten dieser Menschen kam seiner Weltsicht entgegen. Michel hatte den Eindruck, als ob er sich freute, dass diese Leute sich genauso verhielten, wie seine Partei es immer an die Wand malte. Ihn quälte die brutale Verhaltensweise dieser Leute natürlich auch, aber er schloss dadurch nicht auf die gesamte Bevölkerung eines Landes. Es ärgerte ihn maßlos, wie triumphierend sein Chef den Fall er­lebte. Er versuchte, kühlen Kopf zu bewahren und vernahm einen nach dem anderen der jungen Männer, aber sie schwiegen beharrlich und verwiesen unisono auf ihren Anwalt, der erst morgen früh zurück in der Hauptstadt sein würde. Daraufhin drohte Von der Werdt ihnen mit sofortiger Abschiebung und nahm noch am selben Abend Kontakt mit der Ausländerbehörde auf. Michel schüttelte nur den Kopf, denn noch waren die Gesetze in diesem Land nicht so, wie es sich die Partei seines Vorgesetzten wünschte. Hingegen blickte Michel immer wieder verstohlen auf die Uhr und verfolgte verzweifelt, wie die Zeit verging. Lena hatte er be­reits nach Hause geschickt. Beim Abschied hatte sie ihm zugeflüstert, dass sie fündig geworden sei. Michel hatte sie nur verständnis­los angeguckt. Erst als sie gegangen war, war ihm ein Licht aufgegangen. Sie hatte wohl das Mikrofon in seinem Büro gefunden.

Auch wenn die jungen Männer beharrlich schwiegen, war die ganze Aktion dann doch erst weit nach Mitternacht zu Ende. Ge­nauso wie es Michel befürchtet hatte. Er fuhr nach Hause, duschte, ging ins Bett und konnte doch nicht schlafen, obwohl er erschöpft war. Er wälzte sich von einer zur anderen Seite und versuchte sich vorzustellen, dass Mali bei ihm wäre. Es gelang ihm nur kläglich. Schließlich übermannte ihn die Erschöpfung. Gegen Morgen träumte er, dass ihn seine Wohnungsvermieterin, die ihm seit Jahren den Haushalt und jeden Tag leckere Sandwich machte, überraschend zum Sex nötigte. Schweißgebadet schreckte er aus dem Schlaf hoch, nur wenige Augenblicke, bevor sein Wecker läutete. Voller Wut warf er ihn gegen die Wand, wo er scheppernd zerbrach.

Die nächsten zwei Tage verbrachte er missmutig im Büro. Die Verhöre von Bekims Cousins wurden noch einmal verschoben, weil Von der Werdt unbedingt dabei sein wollte, aber vorher auswärts noch dringende Termine hatte. Endlich wurde es am zweiten Tag Abend und der lang ersehnte Augenblick kam. Er ging nach Hause, duschte ausgiebig und machte sich auf den Weg zu Mali.

Ihr kleines, adrettes Einfamilienhaus stand in einem steuerbegünstigten Vorort der Hauptstadt. Michel atmete einmal kurz durch und klingelte. Er erschrak über den lauten Klingelton, der bis nach außen zu ihm durchdrang und die Totenstille schrill zerriss, die in diesem Quartier herrschte. Dann hörte er schnelle Schritte, die Tür ging auf und Mali mit ihrem feuerroten Haar strahlte ihn an.

Komm herein. Gut, dass du nicht fünf Minuten früher gekommen bist, da war ich gerade noch unter der Dusche.

Sie gab ihm die Hand.

Sie hatte eine schwarze Hose und eine giftgrüne Bluse an, die ihre roten Haaren krass zur Geltung brachten.

Da waren wir ja gleichzeitig unter der Dusche. Du bei dir und ich bei mir …

Mali lachte.

Könntest du die Schuhe ausziehen, bitte.

Michel setzte sich auf einen kleinen Hocker und zog die Schuhe aus.

Komm, der Tisch ist gedeckt. Ich habe für uns gekocht.

Essen? Darauf hatte sich Michel nun ganz und gar nicht einge­stellt. Im Gegenteil: Er hatte vor dem Besuch ja noch extra etwas gegessen.

Sie führte ihn in das Wohnzimmer zu einem festlich gedeckten Tisch. Alles glitzerte und funkelte. Die Teller hatten goldene Ränder, das Besteck war hochglänzend silbrig und die langstieligen Kristallgläser reflektierten das Kerzenlicht eines schweren Silberleuchters, der in der Mitte des Tisches thronte.

Setz dich, Serge. Ich hole den Champagner.

Michel setzte sich schwer atmend und musterte das Wohnzimmer, als ob es sich um einen Tatort handeln würde. Die Einrichtung entsprach nun ganz und gar nicht seinem Geschmack. Es hingen viel zu viele Bilder an den Wänden. Reproduktionen alter Meister in viel zu protzigen Rahmen. Da ein Kommödchen, dort ein kleines Gestell mit irgendwelchen Porzellanfigürchen. Ein weißer flauschiger Teppich.

Mali kam nun schwungvoll mit einer Flasche Champagner an den Tisch.

Und wie gefällt es dir bei mir?

Michel schluckte.

Schön. Sieht alles sehr geschmackvoll aus. Ich habe mich nur ge­rade gefragt, wie du so einen schneeweißen Teppich sauber hältst.

Sie strahlte ihn an.

Erstens ziehen Besucher die Schuhe aus, und dann habe ich eine sehr gute Schamponiermaschine. Einmal im Monat wird der Teppich einer gründlichen Reinigung unterzogen.

Sie machte gekonnt die Flasche auf und füllte beide Gläser.

Auf was wollen wir trinken, Serge?

Michel erhob sich.

Auf unsere Begegnung?

Das ist eine sehr gute Idee.

Sie stießen an. Mali kam näher, streckte sich und gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. Er roch ihr Parfum, das einen sehr betörenden Duft verströmte. Leider wandte sie sich gleich wieder um und setzte sich an den Tisch.

Dass wir uns wieder getroffen haben! Das ist doch wirklich wahnsinnig. Seit der Schule haben wir uns nie mehr gesehen, und dann tauchst du plötzlich im Hause Krättli auf.

Michel nickte, prostete ihr noch einmal zu und leerte das Glas in einem Zuge. Mali erhob sich sofort, kam mit der Flasche zu ihm und füllte erneut sein Glas. Wieder konnte er den Duft ihres Parfums riechen. Diesmal konnte er auch einen kurzen Blick in ihre dezent geöffnete Bluse werfen.

Wie bist du denn eigentlich zur Polizei gekommen? Ich war ja vollkommen überrascht.

Michel begann zögernd zu erzählen.

Also, meine Mutter ist relativ früh gestorben. Wir waren ja nicht gerade reich. Gymnasium kam für mich nicht in Frage. Also bin ich nach langem Hin und Her auf die Polizeischule und habe mich langsam hochgearbeitet. Nach zwei Jahren Praktikum in London bei Scotland Yard haben sie mich gleich zum Kommissar gemacht. Ich war, glaube ich, der jüngste Kommissar aller Zeiten. Damals ging das noch. Heute brauchst du für meine Position eine Hochschulausbildung. Er leerte das Glas ein zweites Mal. Mali stand so­fort wieder auf und schenkte ein. Er sog tief ihren Duft ein und hoffte auf einen weiteren Einblick. Diesmal beugte sie sich aber nicht sehr weit, und er sah bloß ihren schönen Hals.

Das ist ja großartig. Wolltest du denn nicht gleich in London bleiben?

Er lächelte.

Nein, mich zog es wieder in die Heimat zurück. London war doch sehr hektisch.

Sie lächelte verschmitzt.

Und? Hattest du dort eine Freundin?

Nein, meine Arbeitszeit ließ das gar nicht zu. Ich war praktisch Tag und Nacht in Bereitschaft.

Bevor sie weiter in ihn dringen konnte, begann er Fragen zu stellen.

Und du? Bist du schon lange im, äh … Hause Krättli, so hast du die Kanzlei genannt, glaube ich.

Sie winkte ab.

Ach, schon ewig. Also nicht immer am Stück. Als ich noch verheiratet war, musste ich eine Zeitlang zu Hause bleiben, aber da habe ich mich furchtbar gelangweilt. Nach der Scheidung habe ich sofort wieder gearbeitet.

Dann stand sie abrupt auf.

So. Ich hole jetzt die Vorspeise.

Sie ging trällernd und hüfteschwingend aus dem Wohnzimmer. Gleich darauf kam sie mit zwei Tellern zurück.

Magst du Avocado?

Michel nickte. Er war innerlich entschlossen, alles gut zu finden und bei allem mitzumachen.

Ja, sicher. Ich liebe Avocados.

Das freut mich, ich habe eine Sauce mit Krevetten dazu ge­macht.

Sie stellte den Teller vor ihn, und er legte blitzschnell seinen Arm um Malis Hüften.

Ich finde es schön, dass wir uns begegnet sind.

Sie lachte und lehnte sich kurz an ihn, drehte sich dann aber elegant aus seinem Arm.

Die Avocados aßen sie schweigend. Zwischendurch schenkte sie ihm noch einmal das Glas voll. Diesmal erhaschte er endlich den Einblick in ihre Bluse, den er sich erhofft hatte, und was er sah, enttäuschte ihn nicht. Er konnte es schier nicht mehr aushalten, ihr einfach gegenüberzusitzen und belanglose Konversation zu machen. Sie schien es zu genießen, und er wusste nicht, wie er diesen kleinen Teufelskreis durchbrechen konnte.

Mehr als zwei Stunden später – als sie endlich mit dem Dessert fertig waren und er schon hoffte, dass man jetzt aufstehen würde und sich dadurch eine Möglichkeit der Annäherung ergeben würde – schleppte Mali einen Arm voller Fotobücher und eine Flasche Whiskey zum Tisch. Sie war putzmunter und schien voller Tatendrang. Michel fühlte sich mittlerweile müde von dem vielen Essen, dass sie ihm aufgetischt hatte, und vor allem von dem schweren Rotwein, den sie immer wieder nachgoss. Er trank ja sonst nur Bier, und Rotwein vertrug er ganz schlecht.

So. Schau mal, da sind Fotos von unseren Wanderausflügen. Erinnerst du dich?

Er schüttelte den Kopf. Sie blätterte energisch und zeigte triumphierend auf ein Foto.

Schau mal! Das bist du.

Sie kam mit dem Buch auf seine Seite und legte es vor ihn.

Da, schau mal. Wir haben gerade am Feuer die Würste gebraten. Da ist die Meyerhofer. Und da bist du, ganz mager und mit kurzen Hosen.

Er schaute hin und erkannte sich tatsächlich. Er war wirklich richtig mager gewesen und sah irgendwie traurig und verloren aus. Als ob er mitten in einer Gruppe Fremder gewesen wäre und niemand gekannt hätte.

Du wirkst so verloren. Guck mal. Man möchte dich gleich in den Arm nehmen und vor allem möchte man dich füttern. Du siehst so unterernährt aus.

Na ja, gefüttert hatte sie ihn jetzt zuhauf. Sie könnte ihn dafür jetzt mal in den Arm nehmen.

Du könntest mich ja jetzt mal in den Arm nehmen. Sozusagen nachträglich.

Sie schaute ihn lächelnd an.

Das hast du jetzt aber schön gesagt.

Dann ging ihr Blick wieder zu den Fotos.

Da, schau mal, das bin ich. Bin ich nicht ein hübsches kleines Mädchen?

Er besah sich das schmale Mädchen, das begeistert einen Ast mit einer Wurst dran vor die Kamera hielt.

Siehst du die vielen Sommersprossen?

Er zog das Bild näher, konnte aber beim besten Willen keine Sommersprossen entdecken.

Na ja, so viele sind es jetzt aber auch nicht.

Sie blätterte weiter im Album.

Also ich habe gelitten, und ihr habt mich auch ausgelacht.

Michel protestierte.

Also ich sicher nicht.

Nein, du nicht.

Sie strich ihm zärtlich über den Kopf. Er schlang wieder den Arm um ihre Hüften und drückte sie sanft an seine Seite.

Nein, du hast mich sogar eine Zeitlang jeden Tag abgeholt und wir sind Hand in Hand zur Schule gegangen. Weißt du noch?

Ja, ja, es ist mir wieder in den Sinn gekommen. Du hast mir da­mals schon gefallen.

Aha. Und jetzt, gefalle ich dir denn immer noch?

Er presste sie stärker an sich, jetzt spürte er auch ihren Busen.

Ja, du gefällst mir sehr. Seit wir uns gesehen haben, denke ich nur noch an dich.

Soso. So ist das also.

Sie lächelte ihn an und küsste ihn wieder ganz leicht und kurz auf die Lippen.

Das freut mich.

Dann drehte sie sich wieder elegant aus seinem Arm.

Und jetzt trinken wir noch zum Abschluss unseres schönen Abends einen Whiskey. Morgen muss ich nämlich früh im Büro sein. Magst du Eis zum Whiskey?

Er schüttelte den Kopf. Er hasste Whiskey.

Nein, nein, ich trinke ihn am liebsten pur.

Sie füllte die Gläser zwei Finger breit. Dann prostete sie ihm zu und trank das Glas auf einmal leer. Er bemühte sich, es nachzumachen, verschluckte sich aber und bekam einen wüsten Hustenanfall.

Oh je. Soll ich dir auf den Rücken klopfen, Serge?

Er schüttelte energisch seinen Kopf und trank mit Todesverachtung das Glas leer.

Sie strahlte ihn an.

Ist alles in Ordnung mit dir?

Ja, alles in Ordnung. Es war ein sehr schöner Abend. Ich danke dir.

Er musste den Satz richtig herauswürgen, so enttäuscht war er, aber er konnte es zum Glück mit dem noch nicht ganz abgeklungenen Hustenanfall kaschieren. Beim Aufstehen merkte er den Alkohol bis in die Beine, die seltsam schwach waren. Er ließ noch einmal den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, bis er sich kräftig genug fand, Richtung Ausgang zu gehen. Als er mit Mühe und Not die Schuhe angezogen hatte, brachte sie ihm den Mantel. Er zog ihn an. Sie schaute ihm ernst in die Augen, dann zog sie sei­nen Kopf zu sich hinunter und küsste ihn leidenschaftlich. Michel war so baff, dass er kaum reagieren konnte. Bis er richtig begriffen hatte, was da vor sich ging, war es auch schon wieder zu Ende. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr.

 

Ich kann nicht sofort mit jemandem ins Bett, verstehst du, obwohl ich große Lust habe. Wer weiß, vielleicht das nächste Mal. Kommst du wieder?

Er nickte heftig, brachte aber kein Wort mehr heraus.

Sie drehte sich um und öffnete die Haustür.