Anaconda 0.2

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Liberact
5

Um halb fünf trat ich aus meinem Büro, eine halbe Stunde früher als sonst. Niemand bemerkte mein Weggehen. Der Conda war da, oder er war nicht da, das kam so ziemlich auf dasselbe raus. Das modulare Sicherheitssystem, das ich am hml, dem Human Machine Laboratory, seit einigen Jahren betreute, musste auch ohne mich auskommen: Videoüberwachung, biometrische Schlüssel, automatische Türverriegelungen, Zugangsfilter, Netzwerkbarrieren. Winzige und große Linsen lieferten Bilder von Kunden im Kontinuum an einen Server unseres Instituts, auf dem sie nach drei Monaten und ein paar Stunden automatisch wieder gelöscht wurden. Über hundert solcher Kameras hatte ich in den vergangenen fünfzehn Jahren bei Banken, Versicherungen und Privatleuten installiert, die alle zusammen täglich eine gigantische Menge Bilder produzierten, Bilder der Gefahrenleere, der Kapitalisierungsstatik, der Hochsicherheitsinformatik, mein Kompetenznachweis.

Parallel dazu schrieb ich Algorithmen für neuronale Netzwerke im Bereich der Emotionserkennung für effiziente Entscheidungsfindung, das zweite Spezialgebiet des hml. Produkte und Kommunikationskanäle, Schnittstellen und Bedienungsoberflächen von Werkzeugen und Apparaten wer­den mit sensorischer Intelligenz ausgestattet, um auf Kundenverhalten zu reagieren und effizienter und schließlich gewinnbringender zu agieren. Aber als Forscher interessierten mich die ökonomischen Ziele nicht. Ich konzentrierte mich auf die Funktionen, die kleine Berechnungen und Anweisungen ausführten, und organisierte meinen Code chaotisch, organisch beinah, als handle es sich um eine lose Ansammlung von Gewürzen. Die ständig wachsende Modulbibliothek war meine Küche, in der ich eine gewisse Unordnung so lange als Schutzmechanismus praktizierte, bis ich selbst darin die Übersicht verlor. Das Ganze war so kompliziert geworden, dass nicht vorauszusehen war, was alles passieren würde, wenn das Programm einmal lief. Aber es funktionierte und zeigte Zahlen und Buchstaben an. Das Fenster öffnete sich brav genau so, wie ich es vorgesehen hatte, und präsentierte die absolut unspektakulären Ergebnisse am Bildschirm. Nur ich vermochte sie zu interpretieren und wusste, was im Innern des Computers ablief, sah vor meinem inneren Auge, wie eine Funktion nach der anderen ausgelöst und durchgerechnet wurde, quer durch den wirren Wald der konstruierten Module, der verketteten Objekte, durch die Vernetzungen und Verlinkungen dieses künstlichen Hirns. Ich war der Herrscher und der Beherrschte zugleich. Ich sah und kontrollierte und sah, was ich kontrollierte. Meine Gedankenwelt war die eines Hologramm-Künstlers.

Ich ließ mein Fahrrad auf dem Platz vor dem Institut stehen, stellte mich mit meiner Aktentasche zwei Straßen weiter an die Haltestelle. Der Bus fuhr pünktlich, und 45 Minuten später überquerte ich am anderen Ende der Stadt den weiten, von alten Autos und ausrangierten Lastwagen verstellten Parkplatz. Neben einem lahmen Igluzelt rauchte eine Feuer­stelle, aufgeschlitzte Matratzen lagen davor, zerschlagene Wodkaflaschen, Bierdosen, Reste eines gebratenen Huhns. Ein Hund schoss auf mich zu, bellte, rannte wieder weg. Auf der linken Seite standen riesige, durch ein weites Rohrleitungsnetz verbundene Öltanks, ein Lastwagen fuhr vor und wieder weg, im Schritttempo, schleichend, als wartete er auf bessere Zeiten. Die Lagerhalle lag im hinteren Teil neben dem halbeingestürzten Wachturm. Ich war schon einmal hier gewesen, dann aber auf halbem Weg wieder umgekehrt, weil Leo mir entgegen gekommen war und mir den Zugang verweigerte. Diesmal stieß ich das Blechtor auf und tastete mich durch das Chaos, einen Fuß vor den andern setzend, durch die blinden Flecken meines Sohnes tappend. Die ursprüngliche Einfahrtshalle war in eine große Küche umfunktioniert worden. Mehrere Tische und Stühle standen im Raum verteilt, zwei Sofawracks an der Wand, ein kleiner Kühlschrank in der Ecke. Mitten in der Halle standen ein Gasherd und ein kleiner Arbeitstisch, auf welchem Gemüse vom Vortag lag. Das Geschirr schön sauber gewaschen auf einer Richte an der Wand, daneben der aus einer alten Badewanne gebaute Wassertrog.

Mehrere Türen führten in verschiedene Treppenhäuser, von irgendwoher hörte ich Stimmen, dann Gelächter, Türen schlagen. Der Hund von vorhin schoss wieder heran, sprang an mir hoch. Dann folgte ein großer, junger Mann mit Dreadlocks, die er sich wie einen Turban rund um den Kopf geknotet hatte.

— Was suchst du hier?

— Ich bin Leos Vater.

Der Hund schnüffelte an meinem Knie.

— Leo wohnt nicht mehr hier, schon lange nicht mehr.

— Wo ist er hingezogen?

— Keine Ahnung, raus, in die Stadt, irgendwo ins Zentrum. Mach dir keine Sorgen, irgendwann taucht er schon wieder auf, sobald er Geld braucht, wirst sehen.

Ich schlug dem Hund auf die Schnauze, wimmernd zog er ab.

— Na, mal nicht so aggressiv, Mann! Ist doch nur ein Hund!

— Hat Leo noch Sachen hiergelassen?

— Er ist weg, sag ich, schon seit Monaten. Hier ist nichts mehr. Er hatte ja nicht viel. Wir wussten von Anfang an, dass er hier nicht bleiben würde. Bonzensöhnchen, Anarchotourist, mal ein bisschen den Kitzel des wahren Lebens spüren. Und wenns dann brenzlig wird ... Er machte eine verachtende Handbewegung und streckte die Zunge raus ... gar nichts mehr wissen wollen von neuen Lebensformen! Ein echtes Weichei, dein Sohn, sag ich dir, hat noch viel zu lernen.

Er wandte sich von mir ab, öffnete am anderen Ende des Raumes einen Schrank und begann Kaffee zu kochen.

— Hat er sich noch einmal gemeldet bei euch, nachdem er hier weggezogen ist? Hast du ihn noch einmal gesehen?

— Nein, sag ich doch, er hat sich nicht mehr blicken lassen. Hätte ich ihm auch abgeraten. Aber kürzlich habe ich ihn in der Stadt gesehen, von weitem, mit seiner ehemaligen Freundin. Die war ja auch ein paar Mal hier, wie heißt sie noch gleich?

— Francine?

— Francine, ja, das kann sein. Vielleicht hat er sich an sie rangehängt.

— Weißt du, wo sie wohnt?

— Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Sie ist ein paar Mal hier gewesen, hat kein Wort verloren, wir kennen uns nicht. Und dann hat Leo von ihr auch nichts mehr wissen wollen. Hat sie zum Teufel geschickt.

Er lachte und schüttelte seine Dreadlocks, dass sie erst vorn auf die Brust, dann hinten auf seinen Rücken fielen.

— Er war ja ein echt cooler Kumpel am Anfang, aber dann hat er uns ganz schön eingeheizt mit seinen Ideen und Idealen, mit seinen Monologen und seinen sogenannten sozialen Prinzipien! Scher dich zum Teufel, hab ich zu ihm gesagt. Wir leben doch nicht in einer ungeheizten Lagerhalle, um uns dann von einem Bonzensöhnchen vorschreiben zu lassen, welche Karotten wir essen, wie wir pinkeln und welche Internetseiten wir konsultieren sollen. Für wen hält der sich eigentlich!

— Weißt du, was mit Leo passiert ist?

— Muss ich es noch einmal wiederholen?

Ich erzählte ihm, was passiert war, ohne jedoch die Paketbombe zu erwähnen.

— Tut mir echt leid, Mann, sagte er und nahm den nun kochenden Kaffee vom Herd, schenkte sich ein. Willst du eine Tasse?

Ich verneinte. Der Hund hatte sich auf einem der beiden Sofas breitgemacht und schlief. Von irgendwoher war wieder Gelächter zu hören, leise auch stampfende Rhythmen.

— Gibt es sonst noch jemanden, der vielleicht weiß, wo Leo hingezogen ist?

— Nein, niemand. Die beiden Frauen, mit denen Leo seinen Raum geteilt hatte, sind vor ihm weggezogen. Dann war da noch einer, aber mit dem hatte er kaum Kontakt. Die anderen, die noch hier sind, sind ihm nie begegnet. Er ist von hier abgehauen, wie er aufgetaucht ist: ohne irgendeine Erklärung.

6

Es war eine kleine, von Investoren und Spekulanten noch verschont gebliebene Straße mit Gemüsehändlern, erweiter­ten Zeitungs- und Tabakläden, afrikanischen Friseuren und Korbflechtern. Die Fassaden trugen Patina, und die von Blumen und Gerümpel überbordenden Balkone zeugten vom Übermaß des Lebens, das hier aus allen Nähten platzte.

Ich betrat den Hauseingang Nummer 34. An einem eingedrückten Briefkasten klebte der von Hand auf einen Zettel gekritzelte Name: Francine. Darüber vier andere Namen. Seit über einem Jahr war es aus gewesen zwischen Leo und Francine, und ich hatte sie nur einmal gesehen. Ich klingelte. Ein alter Wilder, verfilztes Haar, ledriges Gesicht, öffnete die Tür.

— Was willst du?

— Ist Francine da?

— Was willst du von ihr?

— Nichts, ich möchte sie nur etwas fragen.

— Also willst du doch was von ihr.

— Ist sie da?

— Hör auf, dich selbst zu belügen, Mann, komm rein.

Ich musste die Füße über Gegenstände heben, in die Hocke gehen, mich drehen und winden, um an den übereinandergestapelten Dingen vorbeizukommen. Francines Zimmer war ganz hinten am Ende des Flurs, direkt neben der Küche. Ich klopfte und sah zwei Typen am Küchentisch, die sich nach mir umdrehten.

— Ich bin Leos Vater, sagte ich, um meiner Erscheinung eine Berechtigung zu geben.

— Wer ist Leo?

— Ein Freund von Francine. Ist sie da?

In diesem Augenblick sprang die Tür auf, und unter dem großen dunkelhaarigen Wuschelkopf sah ich die kleinen, hellen Augen, wie ich sie von ihr noch in Erinnerung hatte. Sie hatte sich nicht verändert.

— Ach, Sie. Kommen Sie rein.

Blumen, indische Tücher, ein kleiner Buddha vor einer Kerze, die Farben Violette und Rot beherrschten den Raum, ein Geruch nach Jasmin und Gewürznelken.

— Setzen Sie sich doch.

 

Sie schob mir den einzigen Stuhl herüber und setze sich auf den Bettrand.

— Das tut mir wirklich leid wegen Leo, sagte sie mit ei­nem leicht ausweichenden Blick. Ich habe es nicht geschafft, an die Beerdigung zu kommen, nach allem, was passiert ist. Ich kann es noch immer nicht glauben.

In diesem Augenblick sah ich das Foto von Leo hinter dem Buddha, sein breites Lachen und die lange, von der Kerze braun glänzende Haarsträhne im Gesicht.

— Hat er Sie verlassen?

Sie nickte und schaute auf den Boden. Dann zündete sie sich eine Zigarette an.

— Das habe ich nicht verstanden damals, sagte ich.

— Alle Brücken abbrechen, sagte er, neu anfangen, Tabula rasa.

— Aber Sie waren doch ganz auf seiner Seite, warum sind Sie nicht mit ihm mitgezogen?

— Erst wollte er, dass ich mit ihm in die Lagerhalle ziehe. Ich war auch ein paarmal dort. Aber dann wollte er mich plötzlich nicht mehr sehen.

— Hatten Sie später noch Kontakt zu ihm?

— Ich kann es nicht fassen, dass er nicht mehr da sein soll. Ich realisiers einfach nicht. Ich lebe, als könnte ich ihn anrufen und ihn sehen, wann ich will, als sei er nur für einen kurzen Augenblick weg. Als wäre er auf Reisen und käme morgen wieder nach Hause, voller Bilder und Erlebnisse.

— Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?

— Am Tag der Demo.

— Wart ihr wieder zusammen?

— Seit kurzem.

— Seit wann?

— Seit ein paar Wochen.

— Hat er bei Ihnen übernachtet?

— Ja, immer öfter, auch die Nacht vor der Demo.

— Und warum waren Sie nicht mit ihm auf der Straße?

— Ich war dort. Aber wir haben uns ganz am Anfang verloren. Er musste sein Schild tragen, ich habe Freundinnen getroffen. Wir hatten uns für danach im Kreis verabredet.

— Was ist der Kreis?

— Eine Bar hier im Quartier. Aber an dem Abend kam er nicht. Vom Unfall habe ich erst am anderen Tag erfahren, als es bereits zu spät war. Ich war wütend auf ihn, weil ich dachte, er habe mich sitzenlassen. Das schmerzt mich am meisten: dass ich wütend auf ihn war, während er im Sterben lag. Das ist verrückt, eine Beleidigung des eigenen Gewissens. Das ist der Bankrott unseres Informations- und Kommunikationszeitalters. Wenn das wichtigste aller Dinge nicht funktioniert, wie kann dann der ganze Rest funktionieren?

— Machen Sie sich keine Vorwürfe. Wenn wir das gewusst hätten, wären Sie sofort informiert worden. Aber Leo hat uns nichts erzählt, kein Wort über Sie und über eure Versöhnung. Wir wussten nicht einmal, wo er wohnte.

— Ich glaube, diesmal war es seriöser als vorher, am Anfang. Er wollte bei mir einziehen.

— Hier in diese Wohnung?

— Nicht sehr komfortabel, zugegeben, aber wir verstehen uns hier alle ganz gut.

Ich folgte ihrem Blick durch das Zimmer. Das kleine Regal mit den Büchern, den Kerzen, dem Tand. Der mit Papieren überhäufte Schreibtisch, Biskuitpackungen, Zigarettenreste. Das Fenster und die Aussicht auf die gegenüberliegende Hausfassade. Ich schaute ihr beim Rauchen zu. Ihre etwas nervösen Gesten, die flüchtigen Blicke, die sie mir hin und wieder durch ihre dunklen, festen Locken zuwarf. Ich wäre ein stolzer Schwiegervater geworden. Jetzt war ich ein Misstrauen erweckender Beobachter.

— Wissen Sie, wo er die letzten Monate gelebt hat?

— In der Lagerhalle, nehme ich an.

— Ja, eine kurze Zeit lang, aber dann ist er dort wieder weggezogen. Wo hat er dann gelebt, bis er wieder zu Ihnen kam?

— Keine Ahnung. Darüber hat er nie gesprochen.

Sie zog an ihrer Zigarette.

— Warum sind Sie eigentlich hierher gekommen?, fragte sie und aschte in den Aschenbecher.

— Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Aber vielleicht ist das nicht der richtige Augenblick.

— Schießen Sie los, was haben wir denn schon zu verlieren außer ein bisschen Zeit?

— Einverstanden, aber ich will Sie mit meinen Nachforschungen nicht belästigen.

— Nachforschungen?

Ich zog mein Handy aus der Manteltasche, tippte auf den Bildschirm und öffnete ein Foto.

— Was ist das?

— Das ist eine alte Spieluhr.

Ein kleines Video zeigte, wie die Zeiger auf dem Zifferblatt vorrückten und wie darauf der schwarze König und die weiße Dame aus dem Gehäuse fuhren, um eine Schachpartie in Angriff zu nehmen.

— Man nennt sie die Grande Dame. Ein signiertes Unikat aus dem 18. Jahrhundert. Das habe ich in wenigen Klicks im Internet erfahren.

Ich blätterte rückwärts und zeigte ihr weitere Bilder: das signierte Zifferblatt, das Räderwerk, die weißen Innereien der Mechanik.

— Schauen Sie sich das alles genau an. Alle Bestandteile außer der Hauptwalze sind aus demselben weißen Material. Es sieht aus wie Elfenbein oder gehärtetes Holz oder vielleicht sogar ein ganz bestimmter Marmor oder ein lackiertes Metall. Aber es handelt sich um etwas ganz anderes.

Francine nahm mir das Handy aus den Händen und blättert vor und zurück durch die Bilder.

— Diese Spieluhr ist durch und durch aus menschlichen Knochen gebaut.

— Menschliche Knochen? Das ist ja grausig. Wie kommt jemand auf so eine Idee? Und warum zeigen Sie mir das?

— Sagt Ihnen diese Uhr etwas?

— Nein, warum?

— Ich habe sie in Leos Zimmer gefunden. Diese Spieluhr wurde vor ein paar Jahren aus einem kleinen Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds gestohlen. Steht alles im Internet.

— Hat Leo ein Uhrenmuseum ausgeraubt?

— Das glaube ich nicht.

— Aber wieso haben Sie diese Spieluhr bei ihm gefunden?

— Das möchte ich gerne von Ihnen erfahren. Denn das Er­staunliche dieser Spieluhr ist nicht nur, dass sie aus menschlichen Knochen gebaut ist. Diese Spieluhr ist mehr als eine Spieluhr.

Ich blätterte auf meinem Handy weiter vor und zeigte ihr Fotos von den Rohrbomben, die in der Hauptwalze versteckt waren.

— Das habe ich in der Hauptwalze des Räderwerks ge­funden. Jemand, und vielleicht Leo, hat sie zu einer Bombe umgebaut. Eine Bombe, die per Post an jemanden geschickt werden sollte.

— Eine Paketbombe?

— Sie hat die Stärke, um diese Hauswand in die Luft zu sprengen und nebenher ihre beiden Freunde in der Küche zu töten.

— Das ist ja furchtbar!

— Wissen Sie etwas über diese Bombe? Haben Sie irgend­eine Ahnung, warum er sie in seinem Zimmer aufbewahrt hat? Hat er selbst an solchen Dingen rumgebastelt?

— Ich habe ihn nie an einer Bombe rumbasteln sehen. Auch nicht an einer alten Spieluhr.

— Kannte er Leute, die so etwas konstruieren?

— Terroristen, meinen Sie?

— Die Leute in der besetzten Lagerhalle zum Beispiel? Wer waren seine Freunde, seine Bekannten? Kennen Sie sein Umfeld?

— Ich kenne nicht alle Leute, mit denen Leo in Kontakt ge­standen hat. Aber die Leute in der Lagerhalle bestimmt nicht. Leo wollte dort auch nicht mehr wohnen, weil sie seine politische Haltung nicht teilten. Er war sich sehr schnell bewusst geworden, dass er mit Anarchisten nicht klarkommen konnte. Sie waren ihm zu destruktiv, zu passiv. Von ihnen hat auch niemand an der Demo teilgenommen. Leos Diskurs hatte ein ganz anderes Fundament.

— Aber unter den Leuten, die Sie kennen: Gibt es jemanden, der mit einer selbstgebastelten Bombe irgendetwas zu tun haben könnte? Kennen Sie jemanden, der sich für alte Spieluhren interessiert?

Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Der weiße Stengel zitterte zwischen ihren Fingern. Feine, bleiche Bleistiftfinger.

— Ich bin nicht gekommen, um Sie zu verhören. Sie sind überhaupt nicht verpflichtet, mir zu antworten. Das ist nur mein persönliches Bedürfnis. Als Vater möchte ich verstehen, wie und warum diese als Spieluhr verkleidete Bombe in das Zimmer meines Sohnes gekommen ist.

— Fragen Sie, was Sie fragen wollen. Und ich antworte, so­weit ich kann. Aber ich befürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.

— Was wissen Sie über Leo?

Sie drückte ihre Zigarette in einer kleinen Keramikschale vor dem Buddha aus. Leo lachte durch die Kerzenflamme.

— Er war Mitglied des Organisationskomitees der Demo. Ich selbst kenne diese Leute nicht. Einmal habe ich einen Typen und ein Mädchen gesehen, das ist alles. Leo wollte mich da nicht mit reinziehen, mehr hat er mir nicht verraten.

— Haben Sie einen Namen, eine Adresse, eine E-Mail-Adresse, ein Facebook-Profil?

— Nein, nichts von alldem.

Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, stand auf und ging zum Fenster hinüber.

— Warten Sie, vielleicht habe ich doch etwas.

Ihre Tasche lag neben dem Bett am Boden. Sie holte ihr Handy heraus.

— Ein paar Tage vor der Demo hat Leo mein Telefon benützt, weil seines angeblich keinen Akku mehr hatte. Warten Sie.

Mit ihrem schmalen Daumen tippte sie flink auf die kleinen Tasten, dann streckte sie mir das Handy hin.

— Da, das ist die Nummer. Keine Ahnung, wer das ist. Aber ich bin sicher, dass Leo diese Nummer gewählt hat.

7

Mona stand in der Küche und schnitt Suppengemüse. Nadine kam später, Selma war draußen im Park. Wir waren allein, allein mit der Stille, mit den Tellern und Gläsern, mit unseren Gedanken, ich wich ihren Blicken aus. Wir waren diese Situation nicht mehr gewohnt, nach zwanzig Jahren Familienleben mit Lärm und Neckereien, unaufhörlichen Streitereien zwischen Bruder und Schwestern, blöden Witzen und ernsten Diskussionen über die Lehrer, die Freunde, über das Leben und die tausend Dinge, die gekauft werden sollten. Ich füllte die Stille mit Bildern und mit Dialog­fetzen, die mir in Erinnerung geblieben waren. Ich glaube, Mona tat ebenso, wir redeten nicht darüber. Und schließlich war sie es, die die Stille brach.

— Wir müssen etwas unternehmen, David!

— Was denn?

— Leo ist kein Einzelfall! Ich meine, was wir da erleben, ist keine Ausnahme. Es gibt viele andere Opfer.

— Und was hilft uns das?

— Diese Typen wissen, dass sie nichts riskieren. Sie stehen unter dem Schutz ihres Arbeitgebers, des Staats.

— Ja, genau, eine Klage gegen die Polizei führt niemals zu einer Verurteilung, das weiß jeder, der es einmal versucht hat.

— Wir haben von vornherein verloren, das ist klar. Aber das ist noch kein Grund, gar nichts zu unternehmen.

— Was willst du denn machen? Wir rennen gegen eine Wand, eine Administrationsmauer.

— Ich werde Leute suchen, die etwas Ähnliches erlebt haben wie wir. Leute, die den gleichen Albtraum durchmachen.

— Und dann?

— Treffen, Strategiepapiere entwickeln, Rechtsgrundlagen klären, handeln.

— Leo hatte eine Bombe in seinem Zimmer! Da müssen wir ansetzen.

— David, unser Sohn ist tot. Das ist alles, was wir wissen, und es reicht. Aber ich will das Gesicht des Mörders sehen, und ich will ihn vor Gericht bringen, ich will, dass ihm der Prozess gemacht wird.

— Uns fehlt ein Stück seiner Geschichte. Ein Teil von Leos Leben ist uns völlig entgangen. Wie kannst du damit leben?

— Wie kannst du leben, ohne den Mörder deines eigenen Sohnes zu kennen?

— Der Mörder ist mir völlig egal. Der soll weiter mit seinen Lügen leben oder sich selbst umbringen, ist mir egal. Ich will wissen, was passiert ist, wie es so weit hat kommen kön­nen.

— Die Vergangenheit ist die falsche Fährte, David. Die Erinnerung frisst deine Seele auf. Lass das sein, schau nach vorn, komm mit mir!

Ich ließ den Teller auf dem Tisch stehen und ging in Leos Zimmer hoch. Ich wollte in seinen Sachen wühlen, im Abfalleimer seines Schreibtisches, ich wollte die Briefe aus der Kiste der zu verbrennenden Objekte hervorholen, ich wollte die Bücher durchblättern, die er gelesen hatte, seine Pläne erraten. Aber als ich die Tür aufmachte, stand ich vor gähnender Leere.

— Mona!, schrie ich die Treppe hinunter.

Sogar die Bretter des auseinandergeschraubten Tisches wa­ren weggeräumt.

— Ich habe alles hinuntergebracht, schnippte sie.

— Es gibt Dinge, die wir in einem familiären Ritual verbrennen wollten! Unser Trauerritual!

— Heute ist Mittwoch, Sperrgut. So ist das schon mal weg.

Ich warf mich auf das nackte, harte Bett. Von Leo keine Spur mehr. Ein Hotelzimmer in unserer eigenen Wohnung. Alles, was von unserem Sohn noch übriggeblieben war, befand sich in der Tasche, die ich unten neben die Schuhe gestellt hatte: eine alte Spieluhr mit mehreren Drähten, einigen elektronischen Teilen und zwei an den Enden aufgeschnittenen Metallrohren.

 

Ich wählte die Nummer, die Francine auf ihrem Telefon ­gefunden hatte. Meine Schritte hallten. Ich wechselte das Handy in die andere Hand. Während einer langen Zeit passierte nichts, außer dem sich wiederholenden Signal in meinem Ohr. Doch dann erschreckte mich die plötzliche, etwas zu hohe Stimme.

— Hallo?

— Ja? Wer ist am Apparat?

— Das frage ich Sie.

— Ich möchte Sie gerne treffen.

— Wer sind Sie?

— Ich bin Leos Vater.

Darauf folgte Stille. Ich hörte ein leises Rauschen, das ich der Welt der drahtlosen Satellitenverbindung zuordnete, ein Stück Weltraum in meinem Ohr. Dann meldete sich die Stimme zurück.

— Es tut mir leid ... ich meine, für Ihren Sohn.

— Wie kann ich Sie treffen?

— Ich weiß nicht, ob das möglich ist.

— Es ist sehr wichtig für mich.

— Ihr Sohn ist tot, das tut mir sehr leid. Aber daran lässt sich nichts ändern. Und ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.

Dann wurde die Verbindung gekappt. Wieder meine ei­genen Schritte im hallenden Zimmer.

Plötzlich stürzte Selma herein und wollte, dass ich ihr eine Musik auf den Computer herunterlade. Nadine erschien an der Tür und rief mir etwas zu. Sie schrie noch einmal. Ich antwortete irgendetwas, aber es war nicht das, was sie hören wollte. Sie schlug die Tür hinter sich zu.

— Wir sind nicht da, damit ihr uns ignoriert! Ihr habt uns gewollt!

Dann öffnete sie noch einmal die Zimmertür.

— Seit Leo nicht mehr ist, kümmert ihr euch nur noch um ihn, eure Köpfe sind verseucht von ihm, ihr denkt und redet nur noch mit ihm! Ein toter Bruder ist schlimmer als ein lebender. Aber ich lebe! Mein Leben geht weiter. Man kann nicht mit einem Toten leben.

— Das tut mir leid, Nadine. Aber dein Bruder war nicht der, für den wir ihn gehalten haben.

— Was ist denn bloß mit euch beiden los? Beschert ihr Leo eine zweite Geburt oder was? Ihr seid völlig durchgeknallt!

Sie schlug die Tür hinter sich zu, schloss ab.

Selma hatte sich mit einem Buch in ihr Zimmer verzogen.

Ich wählte noch einmal die Nummer, und diesmal gelang es mir, ein Treffen zu vereinbaren.

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