Heimkinder

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Im 18. Jahrhundert wurden die im Spital einquartierten Kinder schulisch unterrichtet. Doch der Lehrer beklagte sich 1787, dass er in einem Raum arbeiten müsse, «wo verschienen theils sehr kranke, theils unleidige, massleidige, ja gar oft verükte und melancholische Leuthe sich befinden».61 Die Behörden hatten sich also durchgerungen, den im Spital lebenden Kindern, die wohl aus sozial einfacheren Schichten stammten als die Insassen des Waisenhauses, einen – sicherlich nur rudimentären – schulischen Unterricht zugutekommen zu lassen. Doch fand dieser – wohl aus Mangel an einer geeigneten Räumlichkeit – unter schwierigen Bedingungen statt; im betreffenden Raum waren alte und teilweise als geistesgestört klassifizierte Männer untergebracht. In dieser Querele treffen zwei verschiedene Betreuungskonzepte von elternlos aufwachsenden Kindern aufeinander. Zum einen die mittelalterliche Spitaltradition, die es nicht für nötig erachtete, Kinder von den Erwachsenen zu separieren – auch nicht von alten, kranken, irren Erwachsenen; und zum anderen die frühestens mit der Reformation aufkommende Ansicht, die internierten Kinder hätten eine besondere Behandlung nötig, die sie auf ihr Arbeitsleben als Erwachsene vorbereite.

Pädagogische Pläne in Bern

Offenbar erschien der Bau des Zürcher Waisenhauses den Regenten der mächtigen Stadtrepublik Bern, eines der grössten Staaten im damaligen Europa, als nachahmenswert. Um der in ihren Augen als störend empfundenen zahlreichen bettelnden Menschen Herr zu werden, eröffnete die Regierung 1657 – ähnlich wie in Zürich 20 Jahre zuvor – im ehemaligen Dominikanerkloster, das während der Reformation aufgehoben worden war, ein für rund 150 Kinder angelegtes Zucht- und Waisenhaus. Mit dieser Institution sollte, wie Hans Morgenthaler gezeigt hat, nicht nur das Betteln eingedämmt werden; die Berner Obrigkeit hoffte, dass so die Summen, die sie an Waisen aufziehende Familien überwies, besser investiert würden, denn laut Obrigkeit wurden diese Kinder weder zur Gottesfurcht noch zur Arbeitsamkeit angehalten. Die neue Institution sollte – nach den Plänen der Obrigkeit – für den Staat sogar einen wirtschaftlichen Nutzen abwerfen. Damit verband sie wie in Zürich ökonomische und disziplinarische Ziele.62

In der sogenannten Zuchtstube wurden hauptsächlich Jugendliche untergebracht, mit denen die Eltern nicht mehr zurande kamen. Freilich wurden in der Zuchtstube nur Kinder von Stadtbürgern inhaftiert, Angehörigen jener privilegierten Schicht also, die das Bürgerrecht besass. Daneben hielt man dort auch «Rechtsbrecher» wie etwa die Wiedertäufer fest, die man offenbar nicht in der eigentlichen Strafanstalt, dem «Schallenwerk», einkerkern wollte. Im Waisenhaus dagegen fanden Knaben und Mädchen Aufnahme, die ohne Eltern aufwuchsen – bisher waren sie in Familien untergebracht worden.63

Die wichtigste Bedingung für die Aufnahme in das neue Berner Zucht- und Waisenhaus war – neben der Zugehörigkeit zur Berner Burgerschaft – die Arbeitstauglichkeit. Die Anstalt war nämlich als «Tuchmanufaktur» eingerichtet, als Textilfabrik. Die Knaben wurden zu «nützlichen Handwerken» angeleitet, die Mädchen in «spezifisch weiblichen Arbeiten» beschäftigt. Die Jungen lebten und arbeiteten also entweder in der Abteilung der Wollweber, der Tuchscherer, der Hosenstricker, der Hutmacher oder der Leinenweber. Jede dieser «Stuben», in denen bis zu 30 Jungen tätig waren, stand unter der Kontrolle eines Meisters. Er führte die Lehrlinge in das betreffende Handwerk ein, mit dem sie später ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten sollten, sorgte aber auch dafür, dass die Anstalt ausreichend Waren produzierte und selbsttragend war. Auch die von den Jungen strikt gesondert untergebrachten Mädchen wurden in einen Arbeitsprozess eingespannt, einen weniger qualifizierten allerdings. Unter der Anleitung einer «Mutter» – der Hausmutter – und einer Näherin spannen sie Wolle, Flachs und Hanf für die Woll- und Leinenweberei, nähten oder wurden in den Haushalt der Anstalt eingespannt.64 Noch in den Anstalten des 20. Jahrhunderts wurde diese Arbeitsteilung praktiziert: Die Mädchen waren für die Infrastruktur der Anstalt zuständig, wuschen und flickten also beispielsweise auch die Kleider ihrer männlichen Mitinsassen.

Die Kinder mussten sommers um halb sechs, winters um sieben Uhr aufstehen und unter der Aufsicht des Schulmeisters das Morgengebet sprechen. Darauf wurden sie während zwei Stunden im Schreiben und Lesen, vor allem aber im Beten, in der Religion, im Psalmensingen und der christlichen Tugendlehre unterrichtet. Nach dem Morgenessen und einem erneuten Dankgebet rief die Arbeit – bis zum Abend. Während im Sommer nach dem erneuten Unterricht und dem Abendessen Nachtruhe verordnet war, stand im Winter nochmals bis 21 Uhr eine Arbeitseinheit an.65

Das Berner Zucht- und Waisenhaus wurde 1684 bereits wieder geschlossen. Zum einen rentierte die Anstalt nicht, das heisst, sie konnte ihre Waren nicht gewinnbringend absetzen, sodass man die Kinder nicht einmal – wie vorgesehen – anständig einkleiden konnte. Zum anderen opponierten die städtischen Handwerker gegen die unliebsame Konkurrenz, weil die Kinder, denen man keine Löhne zahlen musste, billiger produzierten. Der Betrieb unterwanderte die zünftisch reglementierte und kartellierte wirtschaftliche Ordnung. Schliesslich wurden entgegen den Absichten der Gründer auch als irr geltende Personen interniert. Die Fabrik kam nicht auf Touren. Zehn Jahre später tauchte der – freilich folgenlos bleibende – Plan einer Anstalt, in der arme und Waisenkinder «zur Hebung von Handel und Gewerbe» untergebracht werden könnten, wieder auf.

Erst im Jahre 1757 wurde das neue Berner Waisenhaus eröffnet, die «Pflanzschule» für «Burgers-Kinderen», wie es im Projektstadium genannt wurde. Das «Gutachten» von 1755 gibt einen Einblick in die Überlegungen und Motive der Initianten der «Pflanzschule». Zu diesen zählte in erster Linie der Berner Universalgelehrte Albrecht von Haller, der kurz zuvor aus Göttingen zurückgekehrt war, wo er an der Universität den Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Botanik innegehabt hatte. Der in der europäischen Gelehrtenrepublik hoch angesehene Berner Patrizier dürfte massgeblich an der Ausarbeitung des «Gutachtens» beteiligt gewesen sein, das wiederholt auf ähnliche Einrichtungen in der damals zum Berner Herrschaftsgebiet zählenden Westschweiz verweist, in Lausanne, Yverdon, Morges und Vevey, ferner auch der benachbarten Monarchien und insbesondere auf die Anstalt in Halle. Der Theologe August Hermann Francke, der als erster Schulpädagoge im deutschsprachigen Raum gilt, hatte dort bereits Ende des 17. Jahrhunderts sein legendäres Waisenhaus für arme Kinder gegründet.66 Das Berner Projekt fällt durch seine im Vergleich mit anderen Anstalten, etwa der zürcherischen, wenn auch nur rudimentäre pädagogische Ausrichtung auf. Diese dürfte primär auf die Figur Hallers zurückzuführen sein, der in der aufstrebenden Universitätsstadt Göttingen mit aufklärerischen Gedanken in Kontakt gekommen war und wahrscheinlich mit dem reformerischen Pietismus Franckes Bekanntschaft geschlossen hatte. Diese Glaubensrichtung, die das Gefühl und die Mission kultivierte, interessierte den tiefreligiösen Haller.

Die Vorzüge der zentralisierten

Erziehung elternloser Kinder

Das «Gutachten» widmet sich eingangs der Beantwortung zweier wohl vor allem aus taktischen Gründen gestellten Fragen: ob die geplante Anstalt «dem besten unserer Stadt und Burgerschaft angemessen sey» – und wie sie eingerichtet sein und wo sie gebaut werden müsse.67 Die nicht aus der privilegierten Schicht der Burgerschaft stammenden Kinder fanden – einmal mehr – keine Berücksichtigung. Die beiden Fragen sollten vorab die Bedenken der Obrigkeit zerstreuen. Natürlich wurde die erste Frage positiv beantwortet. Solche Häuser würden seit hundert Jahren «unter allen gesitteten Völkern, protestantischen und catholischen Glaubens», «bey freyen und bey monarchischen Regierungen», in grosser Zahl gebaut, und zwar nur zu deren Vorteil. Der Grund: Das Glück und der Wohlstand der Staaten beruhten auf der Menge der arbeitsamen und tugendhaften Einwohner. Dem steht freilich entgegen, dass die Menschen «ungefehr alle mit der gleichen Verderbnis und mit dem gleichen Hange zu allerley Lasteren, und zumal zum Müssiggange geboren» werden. «Sich selbst überlassen, übergeben sich alle der angebornen Lust zu einem unthätigen Leben, dessen Triebfedern keine andere als die Erfüllung der natürlich Begierden sind.» Die Aufgabe der Obrigkeit ist es mithin, die Menschen auf den Tugendpfad des arbeitsamen Lebens zu führen. Am einfachsten geht das mit Kindern: «Erwachsene, mit eingerissenen Lastern und einem schon angewöhnten Müssiggange zu ziehen, ist selten möglich; aber die Kinder lassen sich durch den Unterricht, das Exempel und den vernünftig angewandten Zwang fast zu allem biegen, was man von ihnen verlangt.»68

Die Erziehung armer und elternloser Kinder, argumentieren die Autoren des «Gutachtens» weiter, sei besser zentralisiert und gemeinschaftlich als in einzelnen Häusern durchzuführen. Nicht nur sei es schwierig, zahlreiche gute Erzieher zu finden, auch könne die Obrigkeit nicht auf so viele Kinder in so vielen Häusern ein wachsames Auge werfen. So habe man die Zeit, die Kinder «zur Religion, zum Gehorsam, zur Arbeitsamkeit, zur Bescheidenheit der Sitten» und «zur Ordnung anzuführen». Voraussetzung freilich für die erfolgreiche Erziehung ist die Tugendhaftigkeit des Aufsehers: «So bald als nur der vornehmste Aufseher der Waysen selbst wohl gesittet, selbst tugendhaft und ordentlich ist, so werden sich diese guten Eigenschaften auf alle Untergebene ausbreiten, er wird sie beständig unter seinen Augen haben, keine von ihren Unarten wird verborgen und ungestraft bleiben, seine Räthe, seine Ermahnungen werden nach und nach die noch reinen Gemüther mit dem heilsamen Samen künftiger Tugenden anfüllen.»69

 

Auch in der Frage des Orts und der Einrichtung wartet das «Gutachten» mit klaren Empfehlungen auf. Die Stätte müsse «etwas entlegen und einsam seyn», damit die Jungen nicht «von den ungearteten und ausgelassenen Stadtknaben entweder verderbt oder aufs wenigste beunruhiget werden. Ein solcher Ort muss angenehm gelegen, er muss gesund, luftig, einer Vergrösserung fähig und eingeschlossen seyn.»70 Allerdings dürfe er nicht ausserhalb der Stadt liegen, weil er dort der obrigkeitlichen Kontrolle entzogen wäre. Als im modernen Sinne pädagogisches Minimalprogramm wird postuliert, dass «die Kinder mehr durch Liebe und Emulation als mit Streichen und mit Schärfe zum Guten» erzogen werden sollten.71

Am Berner Projekt ist vieles neu und erstaunlich. Erstens lagen das mittelalterliche Spital und die in ehemaligen Klöstern untergebrachten Waisenhäuser innerhalb der Stadt. Die Insassen waren also im Bewusstsein der städtischen Gesellschaft präsent. Auch in Joan Luis Vesius’ reformerischer Vision vor der Mitte des 16. Jahrhunderts gehörten die zu betreuenden Waisenkinder der Gesellschaft an; er wollte sie von ihrer alten Umgebung trennen, nicht aber von der Gesellschaft, in der sie lebten. Der vom «Gutachten» skizzierte Ort hätte, um die Bedingungen zu erfüllen, am Rande der Stadt oder gar in einer Entfernung zu ihr liegen müssen. Zweitens sollten die Jungen «eingeschlossen» sein, also deutlich von der Umwelt separiert. Drittens versprachen sich die Autoren des «Gutachtens» von der Umgebung – der Luft, der angenehmen Lage, der Weite («der Vergrösserung fähig») – einen wenn auch nicht explizierten positiven Effekt auf die Insassen der geplanten Anstalt. Diese Vorstellung sollte unter den Pädagogen und Erziehern des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung finden. Viertens schliesslich trat das Berner Projekt nicht nur mit dem Anspruch der Obrigkeit auf, dass die Kinder zu arbeitsamen und frommen Bürgern zu erziehen seien. Das hatten schon die Reformatoren vertreten. Es verlangte, dass körperliche Gewalt nur zurückhaltend eingesetzt werde, und es stellte Ansprüche auch an die Aufseher der Anstalt, ähnlich wie das Vesius vor der Mitte des 16. Jahrhunderts vorgeschwebt hatte. Diese sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Stellt sich das Projekt deren Wirkung auf die Kinder auch etwas gar einfach vor, so wird doch deutlich, dass es in den Augen der Initianten – anders als etwa in der Amsterdamer Musteranstalt – mit strikter Disziplin und buchstabengetreuer Frömmigkeit nicht getan war. In vagen Umrissen skizziert das «Gutachten» pädagogische Ansprüche an die Erzieher der Kinder.

Der Berner Grosse Rat bewilligte die Realisierung der neuen Institution – allerdings nicht als «Pflanzschule» und auch nicht, wie im «Gutachten» vorgeschlagen, als «Seminarium», sondern schlicht als Waisenhaus für Burgerknaben zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Wahrscheinlich war dem politischen Gremium die pädagogische Stossrichtung der geplanten Einrichtung nicht weniger suspekt als die quasi gesellschaftspolitische Bedeutung, welche die Institution erhalten hätte; ein gewöhnliches Waisenhaus schien eher mit der traditionsreichen Einrichtung des Spitals zu vereinbaren sein. Dennoch erweckte die neue Institution das Interesse der benachbarten katholischen Städte Freiburg und Luzern, die im Einzelnen darüber unterrichtet sein wollten.72

Geleitet wurde das Waisenhaus vom Waisenvater, einem Geistlichen, und seiner Ehefrau. Die «Instruction» sieht vor, dass der Waisenvater die Kinder «unermüdet zum Guten, zur Gottesfurcht und zum Fleisse ermahnen, die Bessern durch allerley Vorzüg und kleine Belohnungen ermuntern, die Ungehorsamen und Nachlässigen zuerst liebreich ermahnen, bey erzeigter Nothwendigkeit aber auch mit Ernst, mit einiger Beschimpfung, mit öffentlicher Anzeigung ihrer Fehler und Absönderung der Fehlbaren, und endlich auch mit Schlägen, und die gar zu Unverbesserlichen der Direction zu ferneren ernsthaften Massregeln verleiden».73 Während es zu den Pflichten des Waisenvaters gehörte, die Knaben drei bis fünf Stunden pro Tag «in der Religion und anderen nutzlichen Wissenschaften zu unterrichten und sie zu tugendhaften Menschen zu bilden» sowie Buch über die Ausgaben und Einnahmen zu führen, musste seine Frau ihrem «Ehemann an die Hand gehen», sich um die Verköstigung der Jungen, ihre Bekleidung sowie die Reinigung des Hauses kümmern. Ihr unterstanden mehrere Mägde, dem Waisenvater ein Unteraufseher, ein Student der Theologie.74

Tagwacht war im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr. Nachdem sich die Jungen gewaschen hatten, betete der Waisenvater mit ihnen; die Kinder mussten ein Kapitel aus der Bibel vorlesen, das der Waisenvater auf die Lebensumstände der Kinder anwandte. Nach dem Frühstück erfolgte die Unterweisung in den einzelnen Fächern; zuerst Religion, dann Geografie, Schreiben, Geometrie, Französisch, Zeichnen, Musik, unterbrochen vom Mittagessen. Sowohl vor als auch nach dem Nachtessen hatte jeweils – der Reihe nach – ein Kind «das Gebeth mit lauter Stimme zu verrichten». Dann erörterte der Waisenvater eine biblische Geschichte, sprach das Nachtgebet und schickte die Knaben zu Bett. Am Sonntag durften sie ihre Verwandten besuchen, waren aber verpflichtet, zweimal am Gottesdienst teilzunehmen.75 Einmal im Monat fanden sich die acht Direktoren ein, um sich unter anderem über den Wissensstand der Knaben zu informieren. Diese wurden vom Waisenvater befragt und mussten ihre Hefte und Zeichnungen vorlegen. Die besten Knaben wurden prämiert, die schlechtesten ermahnt. Die Mahlzeiten wurden an drei getrennten Tischen eingenommen, doch so, dass der Waisenvater die Jungen stets im Blick hatte. Am ersten Tisch speisten die Familie des Waisenvaters sowie der Unteraufseher, am zweiten die Jungen, am dritten, in der Küche, die Mägde. Die Knaben wurden hauptsächlich mit Suppen, Hafermus, Erbensbrei, Brot, Fleisch und Kohl verköstigt. Zudem erhielten sie täglich ein Glas Wein.

Ein neues Waisenhaus für

die «Burgers-Töchterlein»

Offenbar bewährte sich die neue Einrichtung. 1756 eröffnete die Stadt für die «Burgers-Töchterlein» ein Mädchenwaisenhaus. Die überlieferte «Instruction» für die Waisenmutter lehnt sich eng an diejenige für die Knabenanstalt an. Der in erster Linie durch die Gebetsstunden strukturierte Tagesablauf sowie die Mahlzeiten waren in etwa identisch. Unterschiede zeigten sich im Schulischen; die Mädchen erhielten weniger fachlichen Unterricht, wurden dafür intensiv «im Nähen, Lismen, Brodieren, Blondes und Spitzen machen» instruiert sowie in den Angelegenheiten der Haushaltung und der Küche.76

Als die Direktion des Waisenhauses um 1780 auf die Anfangszeit des Waisenhauses zurückblickte, zeigte sie sich mit dem Geleisteten zufrieden. Sie kam aber nicht umhin, auf die offensichtlichen Misserfolge einzugehen, auf Zöglinge also, die trotz den religiös-pädagogischen Anstrengungen des Waisenhauses «unglücklich ausgefallen und übel geraten» waren. Zwei hauptsächliche Gründe gab die Direktion an: erstens «physische Ursachen», die «durchs Blut angeerbten und fortgepflanzten Laster und Unarten». Dagegen könne die beste Erziehung nichts ausrichten. Zweitens «moralische Ursachen»; zum einen sei keine Erziehung vollkommen, zum anderen auch der erzogene Mensch nicht; manchmal obsiegten halt die «Reizungen zum Bösen». Diese Misserfolge änderten freilich nichts daran, dass «eine öffentliche Erziehungs-Anstalt unter behöriger Aufsicht vor der Privat-Erziehung die grössten Vorzüge hat». Der Grosse Rat schloss sich der grundsätzlich positiven direktorialen Sicht der Dinge an, forderte aber, dass der Unterricht für die Knaben, von denen ein Teil als künftige Geistliche vorgesehen waren, intensiviert werde. Die rund 40 Knaben wurden nun vom Waisenvater, drei Hauslehrern, die im Hause nächtigten, sowie einem Schreibmeister, Zeichnungsmeister, Mathematiklehrer, Sprachmeister und Singmeister unterrichtet.77

Die Berner Institution ist im Vergleich sowohl mit der Zürcher Einrichtung als auch mit den anderen Waisen- und Arbeitshäusern eine singuläre Erscheinung. In diesen Anstalten wurde die Arbeit als korrektives Disziplinierungsinstrument für Deviante und Delinquente eingesetzt. Auch die dort untergebrachten Waisenkinder und zumal solche, die sich dem geforderten Gehorsam widersetzten, dürften den strengen Bestrafungsmethoden unterzogen worden sein. Arbeiten mussten sie ohnehin. Es war die Absicht dieser Institutionen, die Insassen zu moralisch besseren und wirtschaftlich nützlicheren Mitgliedern der Gesellschaft umzuerziehen. Die Hausordnungen legten die hausinterne Disziplin fest – Fleiss, Arbeitsleistung, Einhalten des Stundenplans, Sauberkeit – und drohten mit entsprechenden Sanktionen, allen voran Körperstrafen und Isolierung.78 Gerahmt wurden die Disziplinierungsanstrengungen der Arbeits- und Waisenhäuser durch die Religion. Beten und Gottesdienste gehörten zum Alltag jeder Institution.

Das Berner Waisenhaus weicht von diesem Typus ab, vor allem in den Plänen der Initianten. Das wird besonders am «Gutachten» ersichtlich; zwar wurde dieses nicht umgesetzt, doch die Intention der Promotoren der «Pflanzschule» floss dennoch in die neue Einrichtung ein. Zum einen ist die Berner Einrichtung eine privilegierte und privilegierende Institution; sie nimmt nur Sprösslinge der Berner Burgerschaft auf. Aus dieser sowohl rechtlich als auch sozial von der übrigen Stadtbevölkerung abgegrenzten Schicht, die ihrerseits wiederum stark stratifiziert war, rekrutierten sich die Regenten und Räte der Berner Republik. Dass die Obrigkeit ihren Abkömmlingen, selbst wenn diese nicht zur tonangebenden Schicht gehörten und als «Waise» stigmatisiert waren, nicht schlecht behandeln liess, liegt auf der Hand. Zum anderen zeichnet sich das Berner Waisenhaus durch eine pädagogische Ausrichtung aus, die über die religiös motivierte Einforderung von Disziplin und Arbeitsleistung hinausgeht. Der Unterricht der Zöglinge nimmt einen hohen Stellenwert ein, die Bestrafung soll nicht auf körperlicher Gewaltanwendung beruhen, die Aufseher sollen sich vorbildlich verhalten. Auch hier spielt die Religion eine zentrale Rolle – aber nicht vorrangig als Disziplinierungsmittel. In der Berner Einrichtung paart sich der protestantische Glaube an die Erbsünde, die ursprüngliche Verdorbenheit des Menschen, mit einem aufklärerischen Glauben an die Möglichkeit der Erziehung.79 Die Kinder werden denn auch konsequent von den erwachsenen Insassen getrennt.

Waisenhäuser im Umbruch

Städtische Obrigkeiten, reformorientierte und aufklärerisch-pädagogisch gesinnte Bürger nahmen das Zusammenleben von verwaisten Kindern mit Sträflingen und Bettlern, das seit dem Mittelalter, nach der Reformation und noch im 17. Jahrhundert in vielen Arbeitshäusern und Waisenhäusern an der Tagesordnung gewesen war, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusehends als Problem wahr – als Problem freilich nicht nur für das Befinden der Kinder, sondern auch für die Kasse des Gemeinwesens. Die Lösung sahen sie in der Gründung von neuen Waisenhäusern. So sollten arme und elternlose Kinder fern von schädlichen Einflüssen versorgt, erzogen und ökonomisch produktiv werden.80 In der Deutschschweiz entstanden nach den Berner Anstalten (1757 für Knaben, 1765 für Mädchen der Burgerschaft) folgende Waisenhäuser, sowohl in protestantischen als auch in katholischen Orten: 1766 Burgdorf, 1767 Zofingen, 1768 Herisau, 1770 Rheineck, 1771 Zürich, 1771 Thun, 1782 Solothurn. In Basel erfolgte die Trennung von Zucht- und Waisenhaus 1806, in St. Gallen 1811.81

Dass die Kinder von den Erwachsenen separiert wurden, bedeutete freilich nicht, dass sie deshalb beispielsweise hätten weniger arbeiten müssen oder in den Genuss eines gründlichen schulischen Unterrichts gekommen wären. So zeichnete sich das 1766 eröffnete Luzerner Waisenhaus durch seine industrielle Ausrichtung aus. Die Kinder sollten primär arbeiten und so mithelfen, die Kosten der Anstalt zu decken, also ihren Unterhalt zu bestreiten. Der Unterricht kam an zweiter Stelle. Anfänglich lebten fünfzehn Knaben und fünf Mädchen im Luzerner Waisenhaus. Wenn die Anstaltsleitung der Auffassung war, dass die Kinder ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten konnten, entliess sie diese und schickte sie, falls nötig mit neuen Kleidern und «mit einem Zehrpfennig» ausgestattet, auf Wanderschaft. Die Kinderabteilung des St. Galler Spitals gab den in der Regel im Alter von 15 Jahren sich verabschiedenden Jugendlichen, die eine Dienststelle antraten oder eine Lehre begannen, ein schwarzes Kirchenkleid, etwas farbige Wäsche und die «notwendigsten Bücher» mit, nämlich das Neue Testament, den Katechismus, Psalmen und Nachtmahlbücher.82

 

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegründet, zählt das von einem «Waisenvater» und einer «Waisenmutter» geführte Luzerner Waisenhaus zu den traditionellen Disziplinierungsanstalten der Frühneuzeit, in denen die Arbeit im Vordergrund stand. Die Waiseneltern waren für die Verpflegung, Sauberkeit, den Unterricht und natürlich die Arbeit der – nach den Geschlechtern getrennt gehaltenen – Insassen verantwortlich. Diese mussten sich erst die grundlegenden Kenntnisse «der Wollenarbeit, Spinnen, Weben und Lissmen» aneignen, um dann von früh bis spät zu arbeiten, von sechs Uhr morgens – im Winter sieben Uhr – bis abends um acht Uhr. Eröffnet und beschlossen wurde der Tag von zwei Gebeten.

Die Hausordnung nennt im ersten Paragrafen den christlichen Glauben: Die Waiseneltern hätten den Auftrag, «auf die Ihnen von einer hochweisen Waysen-Commission anvertraute und untergebne Waysslinge eine genaue Obacht zu haben und an ihrer Eltern statt dieselbe gottsförchtig und christlich, ehrbarlich und tugendhaft aufzuerziehen, und ihnen absonderlich eine schuldige gehorsamme, treue und dankbarliche Liebe gegen Ihre gnädige Herren und mildtätige Väter einzuflössen, wobei das meiste wird beitragen können, wann der Jugend durch ein fromes Beispiel in allwegen vorgeläuchtet und andurch das landsväterliche Ziel erreichet wurd, fromme Christen zur grössern Ehre Gottes und dem Staat nuzliche Bürger und Inwohner einzupflanzen und zu bilden».83 Diese Programmatik lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Das primäre Ziel ist die Erziehung der Insassen zu gehorsamen und dankbaren Menschen – gehorsam und dankbar gegenüber den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten. Das schliesst die Nützlichkeit mit ein: Die Insassen sollen den Obrigkeiten keine Probleme bereiten und ihnen, so ist zu vermuten, so wenig wie möglich zur Last fallen.

Ein Paragraf der Hausordnung widmete sich der Bestrafung: «Auch die fehlbaren, als die ungehorsamen, unverträglichen, zankhaften, lugenhaften, unreinlichen, trägen, unachtsamen und unfleissigen [Zöglinge] mit Mortificationsstrafen, als da sind, auf dem Boden essen, arbeiten zur Recreationszeit, zur Vacanzzeit eingespeert seyn, an den Muos und Brodtisch gesezt und mit anderen dergleichen Strafen gezüchtigt werden mögen.» Führten diese Behandlungen nicht zum gewünschten Ziel, wurden die Fehlbaren dem Herrn «Instructori» angezeigt, damit dieser nach eigenem Gutdünken eine noch härtere Strafe festlegen oder den Fall gar dem Direktor melden konnte.84 Welcher Geist herrschte in der Luzerner Institution? Eine Antwort ist nicht einfach, weil die Hausordnung eine normative Quelle ist. Weder lässt sich aus ihr herauslesen, wie der Alltag in der Anstalt tatsächlich ablief noch wie die Hauseltern gegenüber den Kindern eingestellt waren noch was diese über die Behandlung dachten, die ihnen widerfuhr, noch wie sie darauf reagierten – und wie wiederum die Waiseneltern auf die Kinder reagierten. Normative Quellen geben die Sicht der Obrigkeit oder einer höheren Verwaltungsstufe wieder – mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Die Luzerner Regenten und andere Obrigkeiten sahen in der Institution des Waisenhauses ein Mittel, elternlos aufwachsende Kinder zu frommen Christen und guten Bürgern zu erziehen. Die Waiseneltern dienten dabei als Elternersatz, das heisst, sie hatten deren erzieherische Funktionen zu übernehmen. Im Vordergrund des Luzerner Waisenhauses standen die Arbeit und die religiöse Erziehung, zu der auch drastische Strafen bis hin zum Einsperren zählten. Die Anstaltsleitung betrachtete die zu erziehenden Kinder der Tendenz nach als defizitäre Wesen, die auf den rechten Weg gebracht werden mussten. Elternlos aufwachsende Kinder wurden von den Obrigkeiten vermutlich auch als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung angesehen, weil sie nicht in die göttlich legitimierte Ordnung der Familie integriert waren. Diesem idealen, von Gott vorgegebenen Sozialmodell standen der Vater und – in der zweiten Reihe – die Mutter vor.

Neben Institutionen wie dem Berner Waisenhaus, das die Kinder von den Erwachsenen trennte und ihnen eine aufklärerisch inspirierte Pädagogik angedeihen liess, und Anstalten wie dem Luzerner Waisenhaus, das die Kinder ebenfalls separierte, jedoch um sie desto konsequenter in einen profitablen Arbeitsprozess einspannen zu können, entstand ein weiterer Typus Arbeits- und Armenhäuser, die – quasi in der Tradition der Amsterdamer Anstalt – die Arbeit konsequent in den Mittelpunkt stellten. Die Trennung von den Erwachsenen stand hier nicht im Vordergrund. Zu Beginn der 1780er-Jahre bemühte sich der zuständige Berner Landvogt um die Errichtung eines solchen Armen- und Arbeitshauses in Langnau im Emmental. Er wollte damit «den Landbau, die Manufakturen, Fabriken fördern; allem Müssiggang und Bettel gänzlich Einhalt tun. Ferner mit allem Fleiss darauf bedacht sein, dass die arme Jugend eine gute Erziehung erhalte und in der Religion wohl unterwiesen werde. Sodann frühzeitig demjenigen Berufe zugeführt werde, darin sie nach ihrer Veranlagung sich selbst und dem Publico am nützlichsten werden kann.» Denn, so der Eindruck des besorgten Landvogts: «Viele müssige und bettelnde Leute arbeiten nichts oder wenig und junge, alte und gebrechliche Personen werden nicht dazu gebraucht, wozu sie noch nützlich sein könnten.»85 Hier kommt der geplanten Einrichtung geradezu die Funktion eines gesellschaftlichen Allheilmittels zu: Ob jung oder alt – alle Leute, welche untätig herumsitzen, sollen über die Anstalt nützlich und produktiv werden. Die für die Waisen vorgesehene «Erziehung» ist in erster Linie eine religiöse Unterweisung, also eine Anleitung zu Gottesfurcht und Gehorsam.

Die Neugründungen von Waisenhäusern und Arbeitsanstalten, die explizit auf Kinder ausgerichtet waren, bedeuten freilich nicht, dass in den grösseren Orten keine anderen Institutionen existiert hätten, in denen Kinder untergebracht worden wären. Im späten 18. Jahrhundert wies beispielsweise die Stadt St. Gallen insgesamt fünf Anstalten auf, die rund 240 bedürftige und kriminelle Personen beherbergten oder einschlossen: zwei sogenannte Presthäuser, deren Insassen und Insassinnen zu 90 Prozent an körperlichen und geistigen Gebrechen litten, das Fremdenspital, das 1228 gegründete Heiliggeist-Spital sowie das 1661 gegründete Zucht- und Waisenhaus. Die beiden letzten Anstalten nahmen auch Kinder und Jugendliche auf. Das Heiliggeist-Spital war im Prinzip Stadtbürgern vorbehalten. Seine Insassen waren entweder alt und schwach oder Opfer einer schweren Krankheit oder eines Unfalls. Ein Viertel davon waren Kinder, Waisen und Halbwaisen. Oft waren deren Eltern nicht gestorben, sondern hatten sich aus wirtschaftlichen Gründen aus der krisengeschüttelten Region abgesetzt. Im Zucht- und Waisenhaus hielten sich – meist arbeitend – Personen auf, die sich eines Delikts schuldig gemacht hatten, aber auch verwaiste Kinder – und zudem solche, welche die Obrigkeit dem schädlichen Einfluss der Eltern entziehen wollte.86

Sehr blass, aufgedunsen,

von der Krätze befallen

In Chur wurde 1786 aufgrund der Initiative aufklärerisch gesinnter Bürger im bestehenden Hospital eine städtische Armenanstalt eingerichtet. Das Ziel war, wie die Initianten schrieben, «die frechen Müssiggänger mit Gewalt vom Betteln abzuhalten, denen Arbeitslosen Arbeit und Verdienst zu verschaffen, die dürftige Jugend zur Arbeit und zur Lehre anzuhalten, und diejenigen wahrhaft Armen, zu deren Versorgung sich das hiesige Publicum verbunden haltet, hinreichend und milde zu erhalten».87 Tatsächlich hielten sich in der neuen Institution, welche die Armen in Klassen einteilte und demzufolge die Versorgungsberechtigung definierte, sowohl Erwachsene als auch Jugendliche und Kinder auf oder besuchten zumindest den angebotenen Unterricht: Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Singen. Nur kurz bestand eine Industrieschule, in der die Armenkinder sich in einen disziplinierenden Arbeitsprozess einzugliedern hatten. Die Churer Armenanstalt war nicht nur für die Stadtbürger, sondern auch für Einwohner ohne Bürgerrecht gedacht. Diesen drohte freilich für den Fall, dass sie das Bettelverbot übertreten würden, die Ausschaffung. Interniert wurden auch einheimische Kinder, die jünger als zehn Jahre alt waren und beim Betteln erwischt wurden.88

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