Heimkinder

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Neben den Klöstern und Spitälern gab es vereinzelt Institutionen, die sich exklusiv der organisierten Betreuung von elternlosen Kindern oder solchen, die ausserhalb der Verwandtschaft aufwuchsen, widmeten: Waisenhäuser und Findelhäuser. Im Jahr 787 wird in Mailand ein Findelhaus gegründet. Es nimmt nicht akzeptierte Kinder auf, die ansonsten oft ausgesetzt oder getötet werden. Ende des 12. Jahrhunderts eröffnet Papst Innozenz in Rom ein Heilig-Geist-Spital, das illegitime und unerwünschte Kinder aufnehmen sollte. Angeblich waren den Tiber hinuntertreibende Kinderleichen ein häufiger Anblick.26

Was für ein Geist herrschte im mittelalterlichen Spital, wie lebte es sich für die Kinder innerhalb von dessen Mauern? Das ist schwierig zu sagen, zumal hier die Gefahr des Anachronismus lauert. Weder kannte das Mittelalter den Begriff des «Kindes», wie wir ihn heute kennen, noch bildete es pädagogische Konzepte aus. Die Vorstellung, dass eine bestimmte elterliche Haltung gegenüber dem Kind zu bestimmten charakterlichen, kognitiven und psychischen Eigenschaften führt, ist eine moderne Erscheinung.

Im Spital dürfte ein klösterlicher Geist geherrscht haben. Ähnlich wie ihr Vorbild, das Kloster, gewährte diese Institution Zuflucht vor der Unbill des Lebens; freilich war das Spital primär ein Ort für Randgruppen. Absoluter Gehorsam gegenüber dem Spitalmeister oder der Spitalmeisterin war von den Kindern und Jugendlichen sicherlich gefordert; wer nicht parierte, musste mit harten körperlichen Züchtigungen rechnen. Die Kinder lebten zumeist nicht getrennt von den erwachsenen Armen und Kranken. Sie bekamen also deren Alltag, wohl auch deren Probleme und Konflikte ungefiltert mit. Und sie waren vermutlich deren Befehlen, Wünschen und auch eventuellen Misshandlungen ausgeliefert. Kinder besassen in der mittelalterlichen Gesellschaft keine Rechte.

Der Tagesablauf dürfte sich an der klösterlichen Ordnung orientiert haben. Gebete und Gottesdienste gehörten zum Spitalalltag. Die einfachen Mahlzeiten wurden an den nicht seltenen Fest- und Feiertagen durch fromme Gaben und Wohltaten von Stiftern aufgebessert.27 Da Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht negativ konnotiert war, dürfte sich der Aufenthalt im Spital kaum stigmatisierend auf die Insassinnen und Insassen ausgewirkt haben. Wer im Spital lebte, profitierte von der christlichen Barmherzigkeit und Gnade. Er musste sich – zumindest gemäss der religiösen Theorie – seinen Aufenthalt nicht eigens verdienen.

Die Reformation und ihre Moral

Das mittelalterliche Bild des Spitals, das verarmte und kranke verlassene Kinder sowie Erwachsene aus christlicher Barmherzigkeit in einem Gnadenakt bedingungslos aufnimmt – oft allerdings dürften in erster Linie Bürgerskinder von diesem karitativen Dienst profitiert haben –, evoziert eine in dieser Form nicht mehr bekannte Grosszügigkeit. Sie ist weder in den Arbeitshäusern des 18. Jahrhunderts anzutreffen, noch wird sie vom modernen Sozialmanagement vertreten. Im Mittelalter wurden Arme, Verlassene, Bettelnde nicht per se stigmatisiert. Ein Waisenkind, welches das Jugendalter erreicht hatte, verliess das Haus und machte sich, angehalten zu einem christlich guten Leben, als Bettler auf den Lebensweg. Eine Strafe hatte es dafür nicht zu gewärtigen. Freilich sollten die Verhältnisse im mittelalterlichen Spital nicht romantisiert werden: Der Umgang der Leitung mit den Insassen dürfte angesichts der verbreiteten Gewalttätigkeit in der spätmittelalterlichen Gesellschaft ruppig gewesen sein; in dem mit randständigen, alten und jungen Menschen gefüllten Haus kam es wohl zu gewalttätigen Übergriffen auf die Schwächeren nicht nur seitens der Spitalführung. Sehr wahrscheinlich war die Verpflegung – ebenfalls vor dem Hintergrund der damaligen krisenhaften Situation – eher karg.

Die Realisierungschancen der zumindest in der Botschaft des christlichen Evangeliums verheissenen Grossherzigkeit wurden im 15. Jahrhundert vermindert. In dieser Krisenzeit zeichnete sich eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber der Armut und dem Bettel ab. Das soziale Klima verhärtete sich. In vielen Städten kam es zu einer Wende sowohl in der Armenfürsorge als auch im Anstaltswesen. Eine ganz Westeuropa erfassende christliche Reformbewegung führte zu zwei normativen Neuerungen: Arme wurden im theologischen Diskurs in würdige und unwürdige geschieden sowie in eigene und fremde.28 Davon waren natürlich auch die ohne elterliche Obhut aufwachsenden Kinder betroffen.

Der im Prinzip alte Topos der gesunden und arbeitsfähigen «starken Bettler» (mendicantes validi), die den barmherzigen Mitmenschen ein Gebrechen oder eine Behinderung vortäuschten, wurde im Spätmittelalter aktualisiert. Ein Grund war ein wirtschaftlicher: Weil viele Menschen vom Land in die wachsenden Städte zogen, kam es dort zu einem Überschuss an Arbeitskräften. Da man viele Zugezogene aufgrund ihrer fehlenden Fähigkeiten nicht in den Gewerben einsetzen konnte, nahm die Zahl der Verarmten und im Prinzip arbeitsfähigen Bettler stark zu. Viele europäische Städte wurden ein erstes Mal vom Phänomen des Pauperismus getroffen.29 Der um 1800 in England als Reaktion auf eine neue Massenarmut entstandene Begriff bezeichnet den Umstand, dass der Arme, der «Pauper», sich durch Arbeit kein ausreichendes Einkommen mehr verschaffen konnte. Heute spricht man in Bezug auf dieses keineswegs verschwundene Phänomen von «working poor».

Sporadisch ausbrechende Unruhen verstärken im ausgehenden Mittelalter die Furcht vor Armen. In den städtischen Gesellschaften herrschte eine zunehmende Prekarität und Instabilität der Lebens- und Einkommensverhältnisse; Ursache der Armut waren neben ökonomischen Zyklen auch Seuchen und Krankheiten, betroffen waren besonders ältere und alleinstehende Menschen, schwangere Frauen und natürlich Kinder.30 In der Folge dieser wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen kam es zu heftigen Abwehrreaktionen gegen Randgruppen; Juden, Aussätzige, Prostituierte und Bettler mussten sich mit ihrer Kleidung als solche erkenntlich machen, Kriminelle wurden durch Verstümmelungen stigmatisiert. Kurzum: Abweichendes Verhalten wurde kriminalisiert. In dieser Zeit konzentrierten die städtischen Obrigkeiten Minderheiten auf bestimmte Orte; Leprosorien, Bordelle und die sogenannten Judengassen entstanden. Der Arme wurde von der Gesellschaft nicht länger als solcher akzeptiert, ja respektiert, weil er dem Reichen eine Möglichkeit zur Erlangung von Gnade bot. Die städtischen Obrigkeiten unterrichteten sich gegenseitig über die Machenschaften der betrügerischen Bettler. Es kursierten Verzeichnisse mit über 20 stereotypen Kennzeichen, anhand deren diese zu identifizieren waren.31 Fremde Bettler wurden konsequent vertrieben. Die Beichtväter sorgten dafür, dass die Verweigerung der Hilfe an die «starken Bettler» das gute Gewissen nicht beunruhigte. Sie vermittelten den Laien die Unterscheidung zwischen echten und arbeitsscheuen Bettlern und machten ihnen deren Beachtung gar zur Pflicht.32

Diese Verhärtung des sozialen Klimas wurde von der Reformation, die sich in den meisten grösseren Städten der heutigen Schweiz durchsetzen konnte, noch verstärkt. Die Armenfürsorge wurde erneuert und zentralisiert: Sie ging von der Kirche auf die Räte über. Unter dem Einfluss der reformatorischen Lehre rationalisierte, bürokratisierte und pädagogisierte die städtische Obrigkeit das Fürsorge- und Armenwesen. Unter dem Einfluss des neuen theologischen Diskurses über Arbeit und Armut wendeten die Räte die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Armen, zwischen berechtigten und unberechtigten Armen konsequent an und schränkten ihre karitativen Leistungen auf Ortsansässige ein. Die Obrigkeiten behafteten die Unterstützungsempfänger auf ihre Arbeitspflicht und kritisierten mehr denn je Müssiggang, Völlerei, Trunk und Spiel.33

1523 verordnete die Stadt Zürich, 1527 die Stadt Bern die Kennzeichnung der eigenen Armen und Bettler durch Schilder, um sie sichtbar von fremden Vaganten abzugrenzen. Die Fürsorgeeinrichtungen nahmen nur solche Leute auf, die entweder einen finanziellen Beitrag leisten konnten oder wirklich gänzlich unfähig waren, sich irgendwie selber durchzubringen.34 1525 trat in Zürich die Almosenordnung in Kraft. Ihre wichtigsten Bestimmungen waren das Bettelverbot und die Scheidung der Armen in würdige und unwürdige.35 Sie unterschied nicht zwischen Erwachsenen und Kindern; für Letztere galt kein Ausnahmerecht. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mussten arme Kinder abends durch die Bettelvögte ins Spital geführt, fremde bettelnde Kinder aber sollten weggewiesen werden. Kinder, die beim Betteln erwischt wurden, sollten in den Turm gelegt, also inhaftiert werden; falls sie nochmals beim Betteln gesichtet wurden, waren sie erneut zu inhaftieren und auszupeitschen.36

Die Zentralisierung und Rationalisierung der Armenfürsorge und der Spitäler wirkten sich besonders deutlich in Genf aus. Vor der Reformation widmeten sich dort insgesamt sieben Spitäler der Fürsorge für Arme und Kranke. 1535 wurden diese Institutionen im Hôpital général straff zentralisiert, das auch Waisen, Findelkinder, uneheliche Kinder und solche aufnahm, bei denen die Obrigkeit der Ansicht war, sie würden bei den Eltern nicht gut versorgt, weil diese durch einen unziemlichen Lebenswandel auffielen. Die Zentralisierung lässt sich nicht nur in den reformierten Städten beobachten, sondern mit einigen Jahrzehnten Verzögerung im Rahmen der durch die Reformation ausgelösten Konfessionalisierung auch in katholischen Orten.37 So wurden in der Stadt Luzern in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Bettelmandate erlassen. Die Obrigkeit behauptete, Kinder würden durch den Bettel zu «armen ungerathenen Lüthen». Wenn sie sich nach sechs Uhr abends auf der Strasse herumtrieben, wurden sie inhaftiert und ihre Eltern bestraft. Verlassene Kinder wurden ins Spital verbracht und von dort aus verdingt.38

 

Was bedeutete diese Verschärfung des sozialen Klimas, die Kategorisierung der Bettler in gute und schlechte sowie die Zentralisierung der Armenfürsorge für elternlos aufwachsende Kinder? Zum einen dürfte sich der Druck auf bettelnde Jugendliche verstärkt haben, da ja kaum zwischen Kindern – zumindest sobald diese sich selbst durchschlagen konnten – und Erwachsenen unterschieden wurde. Auch ein arbeitsfähiges Kind oder ein arbeitsfähiger Jugendlicher, der bettelte, wurde zum öffentlichen Ärgernis. Zum anderen dürfte sich der Druck auch auf die in den Spitälern untergebrachten Kinder erhöht haben.39 Auch hier galt wahrscheinlich: Wer arbeitsfähig war, hatte das Haus zu verlassen. Und die Insassen dürften mit einem neuen Anstaltsgeist konfrontiert worden sein; Ermahnungen nicht nur zu Gottesfurcht und Gebet, sondern auch zu Arbeitsamkeit und Fleiss. Zugespitzt kann man sagen: Während man dem gesunden mittellosen Waisenkind während seines Aufenthalts im mittelalterlichen Spital oder beim Betteln eine heilbringende Qualität nachsagte oder ihm zumindest mit Gleichgültigkeit begegnete, wurde es im ausgehenden Mittelalter und im Zug der Reformation zum Nutzniesser und Parasiten degradiert. Sicherlich erblickte das reformierte, von der städtischen Obrigkeit verwaltete Spital im Waisenkind einen Problemfall. Potenziell konnte aus jedem Waisenkind ein «starker Bettler» werden. Wer zu lange müssigging, zeigte sich für weitere Sünden empfänglich, etwa für Völlerei und Trunksucht.

Die erzieherische Vision

des Joan Luis Vives

Aus dieser Zeit des Umbruchs ragt das Werk des spanischen Humanisten Joan Luis Vives (1492–1540) hervor. In der flämischen Stadt Brügge lebend und mit Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus korrespondierend, beschäftigte er sich mit dem Armenwesen und dem Schicksal der Waisenkinder.40 Vives ist deutlich geprägt von den Anschauungen seiner Zeit, besonders der Reformation. Er ist der Ansicht, dass der Arme, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden soll und dass die Fürsorge schon bei den Kindern ansetzen müsse. Stärker als seine Zeitgenossen aber folgte Vives einem erzieherischen Ansatz: Er wollte die Findel- und Waisenkinder mit den Kindern der Armen gemeinsam in einem Spital von Frauen erziehen lassen, damit sie nicht mehr durch ihre alte Umgebung gefährdet würden. Nach dem sechsten Lebensjahr würden die Kinder in einer Art Internat untergebracht, wo sie im Schreiben und Lesen unterrichtet und zu christlicher Frömmigkeit und guten Sitten angeleitet werden sollten. Städtische kultivierte Lehrer sollten den Schülern und Schülerinnen ihre guten Sitten weitergeben. Vives’ sich auf die Armenerziehung beziehenden Pläne sind allesamt durchdrungen von der Notwendigkeit der Erziehung. Er ging sogar so weit, auch die Erziehung der reichen, aber faulen Kinder zu verlangen, damit diese kein schlechtes Beispiel abgäben. Nur so könne die Armut überwunden werden.41 Anders also als der vorherrschende reformatorische und obrigkeitliche Diskurs seiner Zeit sah Vives die Ursache und Schuld für die Armut nicht bei den Armen selbst.

Die Realität der Fürsorge für verwaiste und verlassene Kinder war eine andere. Nicht Pädagogik, sondern Disziplinierung stand im Vordergrund. Auch wenn Vives’ Vision ihre disziplinierende Seite hatte, macht sie das Konzept einer auf Kinder zugeschnittenen Pädagogik sichtbar, das erst am Ende des 18. Jahrhunderts breiter formuliert und rezipiert werden sollte. Die Durchsetzung dieser Pädagogik war eng an die Vorstellung der bürgerlichen Familie beziehungsweise die Leitung der Anstalt durch ein Ehepaar geknüpft: die Hauseltern, den Hausvater und die Hausmutter. Das mittelalterliche Spital wurde von einer Ordensgemeinschaft geführt, die Kinder und Jungendlichen wurden mithin von Erwachsenen betreut und überwacht, die dem familial-sexuellen Leben entsagt hatten. Was das für Kinder bedeutete, ist nicht einfach zu sagen. Vermutlich dürfte die Integration in die bürgerliche Welt und deren Ideale nicht zu den Hauptzielen der Ordensleute gezählt haben. Im mittelalterlichen Spital, im Waisen- und Findelhaus wurde das Waisenkind mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und, sofern es dazu in der Lage war, wieder auf Betteltour geschickt; dass es bettelte, dürfte weder ein Skandal noch ein besonderes Ärgernis gewesen sein. Das änderte sich mit der Reformation, wobei dieses Ereignis als unmittelbarer Einschnitt und Umschlag nicht überschätzt werden darf. Sowohl in sozialals auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht sind die Übergänge vom 15. ins 16. und 17. Jahrhundert fliessend.42 Die Reformation unterzog den internierten Jugendlichen nicht einer Pädagogik, aber einer Disziplinierung: Wer nicht arbeite, versündige sich, und wer bettle, sowieso. Der Arbeit kam ein neuer und hoher Stellenwert zu. Das von der Reformation zentralisierte und der städtischen Obrigkeit unterstellte Spital dürfte den Insassen diese neuen Grundsätze nachdrücklich eingebläut haben.


II. Das Regime des Waisenhauses 31

Mit der Reformation ändert sich die Einstellung zur Armut. Wer arbeitsfähig ist, soll arbeiten, damit er nicht dem Gemeinwesen zur Last fällt und sich sündig macht – auch Jugendliche. In der Frühneuzeit entsteht der neue Heimtypus des Waisenhauses. Es unterscheidet zwischen den bis anhin einheitlich behandelten Kindern und Erwachsenen, bleibt aber sowohl organisatorisch als auch räumlich an die Armen-, Zucht- und Arbeitshäuser gekoppelt. Diese Institutionen sollen die Menschen vom «Müssiggang» fernhalten und auf die richtige Bahn bringen.

Das Regime

des Waisenhauses

Ab Anfang des 17. Jahrhunderts setzte sich in der Schweiz und in anderen Ländern Europas ein neuer Typus von Anstalt durch. Während die mittelalterlichen Spitäler, Findel- und Waisenhäuser der notdürftigen Versorgung arbeitsunfähiger Menschen und verlassener Kinder gedient hatten, sollten in den neuen Institutionen die Armen vom «Müssiggang» ferngehalten und zur Arbeit diszipliniert werden. Die neuen Arbeits-, Waisen- und Zuchthäuser setzten sich definitiv von der mittelalterlichen Tradition der Barmherzigkeit ab. Sie differenzierten die vorher als mehr oder minder einheitlich betrachtete Klientel – Erwachsene und Kinder hatten in den gleichen Institutionen, ja sogar in den gleichen Räumen gelebt – in verschiedene Gruppen, die mit je spezifischen Massnahmen behandelt werden sollten.

Vier Traditionslinien flossen in den neuen Anstaltstyp ein: erstens die stationäre Armenpflege der mittelalterlichen Spitäler, Armen- und Waisenhäuser, zweitens die durch die Reformation forcierte Arbeitserziehung, drittens die allmähliche Ablösung von Todes- und Körperstrafen durch Freiheitsentzug und Zwangsarbeit sowie viertens das obrigkeitliche Interesse an der produktiven Nutzung möglichst aller Arbeitskräfte.43 Im neuen Anstaltstyp bündelten die städtischen Obrigkeiten ihre pädagogischen, sozialpolitischen und wirtschaftlichen Ziele. Er sollte das Bettelwesen eindämmen und disziplinierende sowie rentable Beschäftigungsangebote für Arbeitsfähige institutionalisieren.44 Ende des 18. Jahrhunderts zählte man in Deutschland bereits rund 60 dieser Waisen-, Zucht- und Arbeitshäuser, in denen Bettler, gerichtlich verurteilte Missetäter, Prostituierte, Wahnsinnige, gebrechliche Alte und Aufsässige interniert waren – und Waisenkinder.

Mit der Gründung von Waisenhäusern lösten die städtischen Obrigkeiten die stationäre Versorgung von Kindern aus der älteren Mehrzweckeinrichtung Spital heraus. Die neuen Institutionen blieben aber sowohl organisatorisch als auch räumlich an die Armen-, Zucht- und Arbeitshäuser gekoppelt; die Grenzen zwischen den einzelnen Institutionen waren fliessender, als die unterschiedlichen Bezeichnungen suggerieren. In den meisten Schweizer Städten wurden die bestehenden Spitäler und Waisenhäuser zu Zwangsarbeits- und Korrektionsanstalten erweitert. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kam es in mehreren Städten zu Neugründungen, so in Genf, wo im 1535 gegründeten Hôpital général 1631 ein Maison de Discipline eröffnet wurde, 1637 in Zürich, 1657 in Bern, 1661 in St. Gallen und 1667 in Basel. In Schaffhausen diente das Spital zugleich als Zucht- und Waisenhaus.

Die neuen Anstalten zeichneten sich durch einen Doppelcharakter aus: Einerseits blieben sie als Armenhäuser Institutionen der geschlossenen Armenfürsorge, wo sich Erwachsene wie Kinder aufhielten. Andererseits wurden sie durch Freiheitsentzug und Arbeitszwang zunehmend mit Zwecken des Strafvollzugs verknüpft.45 In die Korrektionsanstalten wiesen die Obrigkeiten nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche ein, die als arbeitsscheu und schwer oder nicht erziehbar qualifiziert wurden. Wenn es den Aufsehern angezeigt erschien, wurden sie den gleichen Behandlungsmethoden wie die Erwachsenen unterzogen: Einsperren, Entzug der Nahrung, körperliche Züchtigungen, geistliche Ermahnungen.46

Für die Schweiz und andere europäische Länder hatten die Ende des 16. Jahrhunderts in Amsterdam eröffneten Korrektionshäuser Vorbildcharakter.47 Unter dem Einfluss humanistisch gebildeter, protestantischer Kreise wollte die Obrigkeit die «zuchtlose Jugend» nicht mehr mit harten körperlichen Strafen traktieren, da diese letztlich wirkungslos seien, sondern durch strenge Zucht und schwere Arbeit bessern. Die Klientel setzte sich aus jugendlichen Missetätern, Bettlern und Landstreichern zusammen; bald aber wurden auch straffällig gewordene Erwachsene eingewiesen.48 Die Verpflegung sowie die hygienischen Verhältnisse des Amsterdamer Zuchthauses dürften weitaus besser gewesen sein als in anderen Anstalten jener Zeit. Neben der Arbeit standen vor allem religiöser Unterricht und gemeinsames Beten im Zentrum, damit die Jugend, so die Absicht der Betreiber, «in der Furcht Gottes nicht mehr vom rechten Weg der Tugend» abweiche.49 Die männlichen Jugendlichen des «Rasphuises» mussten mit einer Säge hauptsächlich Holzmehl herstellen (daher der Name der Institution), während die weiblichen Insassen des «Spinhuises» vor allem mit textilverarbeitenden Tätigkeiten beschäftigt waren. Geleitet wurden die Anstalten von einem Ehepaar, dem «Binnenvater» und der «Binnenmutter».50

Strenge Zucht in Zürich

Was wäre aus Zürich ohne seine Reformation geworden? Wohl kaum die aufstrebende, später auch wirtschaftlich dominante Stadtrepublik, die in der Eidgenossenschaft eine zunehmend dominante Stellung einnahm. Das 1637 in Zürich gegründete Zucht- und Waisenhaus am Oetenbach war in der deutschsprachigen Schweiz die erste Zwangsarbeitsanstalt, die mit einer Institution der öffentlichen Kinderfürsorge verbunden war.51 Im zentral, nahe der rechtsufrigen Zürcher Altstadt gelegenen Waisenhaus wurden primär aus ärmlichen Verhältnissen stammende Kinder gepflegt und erzogen, wie Maria Crespo in ihrer Geschichte dieser Institution zeigt. Die in einem ehemaligen, im Zuge der Reformation aufgehobenen Dominikanerinnenkloster untergebrachte Anstalt – auf die Klöster, die Orte des angeblichen Müssigganges, hatten es die Reformatoren bei ihren Säkularisierungsmassnahmen besonders abgesehen – war für ehelich gezeugte, verwaiste stadtbürgerliche Kinder vorgesehen. Die Anstalt nahm aber auch Kinder aus Familien auf, die deren Betreuung nicht nachkamen, Bauernkinder aus Nachbargemeinden, Flüchtlingswaisen, Findelkinder und solche, die als verwahrlost galten oder aus zerrütteten Familien stammten. In der ersten Zeit nach der Gründung lebten 140 Kinder im Waisenhaus, 22 Flüchtlingskinder – eine Folge des Dreissigjährigen Kriegs – sowie drei Findelkinder. Ausserdem wurden auch ältere Erwachsene aufgenommen. Das Waisenhaus sah keine strikte Trennung der Kinder von den Erwachsenen vor.52 Damit brach es nicht gänzlich mit der mittelalterlichen Tradition der Fürsorge. Uneheliche Kinder fanden jedoch keine Aufnahme, weil dies die Ehre des Hauses verletzt hätte und dem Aufkommen der Spenden abträglich gewesen wäre. Sie wurden kurzerhand verdingt.

Das mit dem Waisenhaus verbundene Zuchthaus war eine Institution der Armenpolizei und des Strafvollzugs, eine Besserungsanstalt für «liederliches Gesindel» sowie ein Gefängnis für Sträflinge. Eine verschärfte Form der Bestrafung wurde im angegliederten Schellenwerk ausgeübt, in welchem die Insassen Ketten trugen und schwerste öffentliche Arbeiten zu verrichten hatten. Mit Zuchthaus wurden Personen bestraft, die in den Augen der Obrigkeit sich renitent aufführten oder die strafrechtlich belangt worden waren; Bettler, Diebinnen, Prostituierte, Kleinkriminelle, Ehebrecher, Trinkerinnen und so weiter. Sie sollten hier auf eine ordentliche Bahn zurückgeführt werden, und zwar mittels Züchtigung, in der Regel Auspeitschung, geistlicher Unterweisung, Zwangsarbeit in den hauseigenen Textilwerkstätten sowie karger Ernährung, nämlich Brei und Brot. Zu den im Zuchthaus Inhaftierten gehörten auch Kinder und Jugendliche: nichtstädtische Bettelkinder, renitente Kinder aus stadtbürgerlichen Familien sowie erwachsene wie jugendliche Delinquenten.53

 

Eingewiesen wurden in der Regel Personen im straffähigen Alter, doch bezüglich der Strafmündigkeit waren die Bestimmungen nicht einheitlich. Kinder bis zum sechsten Altersjahr galten als unzurechnungsfähig und fielen nicht unter das Strafrecht; daher durften sie nicht ins Zuchthaus eingewiesen werden. Unmündige Kinder bis 16 Jahre galten zwar als straffähig, wurden aber nicht so streng beurteilt wie die Erwachsenen, weil sie als unvernünftig oder unwissend angesehen wurden. Bei der Erteilung des Strafmasses genoss der Richter einen grossen Ermessensspielraum; massgebend waren auch Kriterien wie Pubertät, Bosheit, Verwerflichkeit, Erkenntnisvermögen, religiöse Bildung, äussere Erscheinung und anderes. Jugendliche ab 16 Jahren wurden nach den gleichen Massstäben wie die Erwachsenen bestraft, freilich oft unter Anwendung mildernder Umstände.

Geleitet wurden die beiden Anstalten – also das Waisen- und das Zuchthaus – vom Hausvater, welcher von der ihrerseits dem Rat unterstellten Almosenpflege eingesetzt wurde. Seine wichtigste Aufgabe war die administrative Leitung des Waisenhauses, Zuchthauses, Schellenwerks und des internen Produktionsbetriebs, der «Fabric»; ihm oblag also die Verwaltung des Vermögens und das Führen der Buchhaltung. Zudem hatte er auch die Leitung der Haushaltung und des Personals inne. In der Praxis freilich übernahm wohl die Hausmutter die Leitung der Hauswirtschaft.54 Der Hausvater und die Hausmutter standen dem gesamten Institutionenkomplex vor. Allen Insassinnen und Insassen sollten sie als Vorbild und Eltern dienen. Die Hausordnung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts mahnte, «dass das ganze Volck disen gegenwirtigen Husvatter für den Meister und Vatter und syn Husfrauw für die Mutter des Huses erkennind und […] ihnen alle gebührende Liebe, Ehr und Ghorsame bewysind».55 Im Alltag wurden die Waisenkinder hauptsächlich von den «Meistern» und Vorgesetzten in den «Stuben» beaufsichtigt. Diese führten sie in die Textilverarbeitung des Produktionsbetriebs ein. In diesem wurden Wolle zu Garn verarbeitet sowie Textilien hergestellt. Die Fabrikate dienten einerseits der Bekleidung der Kinder und wurden andererseits verkauft, um die Institution zu finanzieren.56

Die Waisenkinder waren hauptsächlich mit der hausindustriellen Arbeit beschäftigt; die grösseren mussten täglich sechs, die kleineren täglich vier Stunden arbeiten. Während die Knaben in der Wollenfabrik und den Werkstätten beschäftigt waren, wo auch die Zuchthausinsassen arbeiteten, waren die Mädchen vorwiegend in die Hauswirtschaft eingebunden. Knaben wie Mädchen wurden mit diesen Arbeiten auf ihr späteres berufliches Leben vorbereitet – Letzere als Mägde, Erstere meist als Weber. Die Schulbildung spielte eine geringe Rolle; Lesen und Schreiben sollten primär dem Verständnis der religiösen Schriften dienen. Der Religionsunterricht und gottesdienstliche Übungen nahmen einen wichtigen Platz im Alltag der Waisenkinder ein, also die Lektüre von Katechismus und Bibel, Gebete, sonntägliche Predigten und die Kinderlehre. Zweimal täglich, morgens und abends, kamen alle Insassen in der «Conventstube» zusammen, um gemeinsam zu beten. Gebetet wurde auch vor und nach den Mahlzeiten.

Die Waisen fanden im Oetenbach ein Dach über dem Kopf, sie erhielten die notwendigen Kleider, wurden ernährt und mussten in einem ökonomisch zählbaren Sinn produktiv sein. Die rudimentäre Schulbildung stand im Schatten der strengen Arbeitserziehung, die mit einer permanenten Kontrolle der Insassen und der pausenlosen Ermahnung zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben einherging. Das Leben im Waisenhaus barg kaum Freuden, im Gegenteil: Die Überbeanspruchung ihrer Arbeitskraft und die unausgewogene Ernährung machten den Jugendlichen und Kindern zu schaffen.57 Der Speisezettel von 1657 vermittelt einen Eindruck von der täglichen Kost: Die ganze Woche über wurden morgens, mittags und abends Suppen gereicht; Fleischsuppen (am Sonntag- und Donnerstagmittag), Gersten-, Mehl-, Erbs- und Zwiebelsuppen. Die Insassen des Zürcher Waisenhauses ernährten sich offenbar fast ausschliesslich von Suppen.58

«Unschuld und Laster

unter einem Dache»

Was war neu an den Zürcher Anstalten am Oetenbach? Zum einen etablierten sie innerhalb der Institution eine – wenn auch nicht konsequent durchgezogene – räumliche Trennung von Kindern und Erwachsenen, die bisher in dieser Systematik nirgends umgesetzt war. Zum anderen unterzogen sie die aufgenommenen Kinder, obschon diese gegenüber den unehelichen Kindern, die verdingt wurden, privilegiert waren, einer Behandlung, von der man sich eine Rendite erhoffte. Die Kinder sollten die Anstalt finanzieren und disziplinarisch auf das spätere Leben vorbereitet werden. Das wird augenfällig an der Verbindung mit dem Zuchthaus, das Teil des Anstaltskomplexes war. Drittens wurde das «Angebot» an betreuenden Institutionen im Vergleich mit dem mittelalterlichen Spital ausgebaut; verschiedene Kinder, so die Absicht, brauchen verschiedene Behandlungen.

Freilich wurde die bestehende Anstaltspraxis in Zürich nicht unwidersprochen hingenommen. 1659 wurde das Zusammenleben der Waisen mit Insassen des Zuchthauses missbilligt, weil, so die Argumentation, «Unschuld und Laster unter einem Dache wohnten». Die Kritiker waren der Ansicht, dass der Kontakt der als unschuldig und unverdorben betrachteten Waisenkinder mit den im Gegensatz dazu als schuldig und sittlich verdorben geltenden Insassen des Zuchthauses Ersteren schade. Am Ende des 17. Jahrhunderts wurden dem Rat Klagen über die ungesunden Lebensverhältnisse der Waisenabteilung im Oetenbach vorgetragen; man solle Zucht- und Waisenhaus trennen. Beanstandet wurden die «schwarzen unheimlichen Gemächer, in die wegen der hohen Klostermauern nur sparsam Luft und Licht hereinkomme». Die vom Rat eingesetzte Kommission kam jedoch zum Schluss, dass die gesundheitlichen Probleme der Kinder auf die zu kurzen Arbeitszeiten zurückzuführen seien.59

Neben dem Waisenhaus am Oetenbach bestand das ältere Spital als Institution für Kinder weiter. Allerdings schränkte es nun seine Klientel ein: Es nahm vorwiegend als krank und auffällig geltende Kinder auf, wenn möglich gegen Entrichtung einer Summe seitens der Eltern oder Verwandten. An welchen Gebrechen die vom Spital aufgenommenen Kinder litten, ist schwierig einzuschätzen; die Quellen nennen die Kinder meist «thoracht», also geistesschwach, oder «arbeitselig», arbeitsunfähig. So ersuchte Bürgermeister Müller 1563 um die Verwahrung seines Sohnes in das Spital, damit «er nieman in iren hüsern überlouffen als jemandem einichen schaden zufügen möge». Gott habe ihm einen Sohn gegeben, der «leider weder zu handtwerchen noch sonst andern geschäften als handtierungen geschickt sunder ettwellicher massen kindisch und ouch so eigensinnig […]». Alle bisher getroffenen Massnahmen und Bemühungen seien «ungverfencklich und ime selbs mehr zu schaden dann zu nutz reichen und dienen wurde».60 Woran des Bürgermeisters Sohn litt, lässt sich nicht rekonstruieren; war er mit einer geistigen Behinderung geboren worden, die ihn von Anfang an von seiner Umwelt separierte beziehungsweise welche die Umwelt dazu führte, ihn auszuschliessen? Oder war sein auffälliges Verhalten Folge der unangemessenen oder gar brutalen Erziehung seitens der Eltern? Vielleicht wäre der Knabe hundert Jahre später ins Waisenhaus eingeliefert worden, wenn die Behörden zum Schluss gekommen wären, er sei verwahrlost – was freilich bei seiner Herkunft eher unwahrscheinlich gewesen sein dürfte. Ab dem 17. Jahrhundert brachte die Obrigkeit auch als epileptisch geltende Kinder im Spital unter. 1620 wurde ein arbeitsunfähiges Mädchen abgewiesen, weil es sich übel aufführte. Sofern es nicht unehelich zur Welt gekommen war, wäre dieses Mädchen vielleicht 20 Jahre später ebenfalls ins Waisenhaus oder ins Zuchthaus im Oetenbach eingewiesen worden – falls Aussicht darauf bestand, dass es sich doch noch als nützlich erweisen konnte. Doch was mag mit ihm geschehen sein, nachdem es abgewiesen worden war? Verdingen konnte man es nicht, solange es arbeitsunfähig war.