Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991

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Das Architekturstudium

Die weiteren Veröffentlichungen Frischs aus jenen Jahren sind Fingerübungen ohne großen Belang. Frischs Hauptbeschäftigung galt dem Studium der Architektur. »Wieso grad Architektur? Der Vater ist Architekt gewesen (ohne Diplom); das durchsichtige Pauspapier, die Reißschiene, die wippen kann, das Meterband als verbotenes Spielzeug. Ich zeichne exakter, als ich vorher geschrieben habe. Als Zeichner von Werkplänen komme ich mir übrigens männlicher vor.«152 So Frisch im Alter. Auffällig ist, daß er nun den Einstieg in die bürgerliche Welt als Weg in den Fußstapfen des Vaters sah, der ihm sonst kaum Vorbild gewesen war. In der Psychologie signalisiert diese Vaternachfolge Übereinstimmung mit der herrschenden Ordnung. Wie dem auch sei, in der Tat machte sich Frisch nun mit Konsequenz daran, wenn schon kein bedeutender Dichter des Bürgertums, so doch ein angesehenes Mitglied der gutbürgerlichen Gesellschaft zu werden.

Seine wichtigsten Lehrer waren William Dunkel und Otto Rudolf Salvisberg, beide Architekturprofessoren an der eth seit 1929. Salvisberg (1882–1940), der Sohn wohlhabender Berner Bauern, kam nach Ausbildungs- und Gesellenjahren in der Schweiz und in Deutschland 1908 nach Berlin, dem Mekka der modernen Architektur. Gropius, Wright, Behrens, Mies van der Rohe, Le Corbusier, Taut u.a. wirkten dort. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg einer der meistbeschäftigten Architekten und baute allein zwischen 1918 und 1923 an die 2500 (!) Häuser. Er kannte die Moderne – er baute z.B. das erste Geschäftshaus aus Sichtbeton in Berlin –, war jedoch kein Theoretiker und Entdecker neuer Wege. In der Inflationszeit errichtete er zahlreiche Berliner Villen, u.a. das Haus Flechtheim, das sich Göring 1933 aneignete. In Bern realisierte Salvisberg das Lory-Spital. Ab 1935 wurde er gewissermaßen Hausarchitekt von Hoffmann-La Roche und schuf neben deren Hauptsitz in Basel auch zahlreiche Niederlassungen im Ausland. Vom Bauhaus und von Le Corbusier hielt er wenig. Gropius seinerseits schrieb über Salvisberg: »Ich halte ihn keineswegs für einen ersten Mann, der aus eigener schöpferischer Quelle schafft, aber er hat ein sehr gediegenes Können.«153 Frisch beschrieb ihn als Mann, der von den Berliner Erfolgen getragen gewesen sei und der im Bewußtsein lebte, daß er seine Sache anderswo schon gemacht habe.154 Salvisbergs Vorlesungen waren im Wortsinn: Gebäudelehre. Geistige Höhenflüge boten sie nicht.

William Dunkel, geboren 1893 in New York, später Bürger von Bubendorf, Schweiz, wurde bekannt durch »originelle, eigenwillige schöpferische Leistungen in spontanem Kontakt mit den Gegenwartsproblemen«, so das Lexikon der Schweizer Künstler. Seine Dissertation galt dem modernen amerikanischen Städtebau. In seinen Düsseldorfer Jahren (1921–1929) entwickelte er sich zu einer Kapazität auf diesem Gebiet. Im Unterschied zu dem im Wohnungsbau noch immer üblichen Flachbau propagierte er den Stahlskelett-Hochhausbau als die Wohnform der Moderne. Sein Brückenkopf-Hochhaus in Düsseldorf (1924–1929) erregte Aufsehen. 1929 kam er mit sechsunddreißig Jahren als jüngster Architekturprofessor nach Zürich. Seine Wohnbauten in Zürich (Engepark) und Basel (Schützenmattstraße) erhielten Auszeichnungen für gutes Bauen, sein Entwurf eines riesigen, oktogonalen Stadions in Zürich wurde zwar mit dem ersten Preis ausgezeichnet, doch im Unterschied zum Letziparkstadion, das er ebenfalls entwarf, nicht gebaut. Auch sein Modell eines neuen Stadttheaters kam, obschon prämiert, nicht zur Ausführung, dafür das Lochergut, die ersten Hochhäuser Zürichs. Auch Frisch hat eine Weile dort gewohnt.155 Dunkel war primär Konstrukteur, nicht Theoretiker und Vordenker. Die Studenten hatten zu lernen, wie ein Gebäude oder eine urbane Situation technisch zu projektieren sei. Stilistische, künstlerische und planungspolitische Fragen blieben, so Frisch in der Retrospektive, ebenso ausgeklammert wie »das Unpapierene, Greifbare, Handwerkliche«, das er sich vom Architektenberuf erhofft hatte. Damit aber vermißte er genau jenen doppelten Praxisbezug, den er sich im Studium erarbeiten wollte: den Bezug zum Handwerk ebenso wie den Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Dimension der Architektur. Vor allem dieser zweite Bezug sollte den Architekten Frisch noch besonders beschäftigen. In der Stadtplanung, seinem Lieblingsthema, wird er die Besitz- und Eigentumsverhältnisse der eigenen Gesellschaft kritisch zu analysieren beginnen und die Architektur vom reinen Bauhandwerk weg hin zur Konstruktion einer idealen gesellschaftlichen Lebensform weiterdenken. Damit aber wird er den Rahmen der konventionellen Architekturlehre sprengen und kritischer Gesellschaftstheoretiker anhand der Bautätigkeit eben dieser Gesellschaft werden. Das Studium klammerte solche politische Dimension tunlichst aus, weshalb es Frisch zwar »mühelos und mit linker Hand« (K. Schnyder-Rubensohn), doch ohne besonderes Engagement absolvierte.

Von der geistigen zur militärischen Landesverteidigung

Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Zwei Tage später traten England und Frankreich in den Krieg. Der Schweizer Bundesrat ordnete die Generalmobilmachung an. Die Vereinigte Bundesversammlung hatte bereits am 30. August den Gutsherrn und Berufsmilitär Henri Guisan zum General, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee zu Kriegszeiten, gewählt.156 Max Frisch, der gerade mit seinem ersten Bauauftrag, einem Taubenhaus und einem Kinderplanschbecken, beschäftigt war, rückte als Kanonier ins Tessin ein. Hier wurde er beim Bunkerbau eingesetzt. Vom Frieden zum Krieg, vom Taubenhaus zum Bunker – der Übergang hätte symbolischer nicht sein können.

In der Armee begann Frisch wieder intensiv zu schreiben. Er verfaßte ein Tagebuch, die Blätter aus dem Brotsack: »Nach den ersten [schriftstellerischen, U.B.] Anfängen, die sehr ungenügend waren … gab ich mir das Versprechen, nie wieder zu schreiben, und dann brach der Krieg aus, und unter dieser Bedrohung, die ich damals sehr ernst nahm (ich hatte nicht gedacht, daß wir ausgelassen würden), hab ich sozusagen für die letzte Zeit, die noch blieb, nochmals für mich diese Notizen gemacht und ohne jede theoretische Überlegung, ohne jede Reflexion in dieser unpraktischen Situation des Soldatseins natürlich das Tagebuch gewählt, denn das war möglich, daß ich in einer halben Stunde Feierabend, oder zwischendurch Notizen machen konnte; und ich habe eigentlich dort ohne viel Bewußtsein eine Form für mich entdeckt, die offenbar eine der möglichen Formen für mich ist.«157

Die Todesahnung war nicht unberechtigt. Die Spitzen von Politik und Armee rechneten 1939/40 ernsthaft mit dem Einmarsch der Reichswehr, und sie wußten auch, daß die Schweizer Truppen diesen Angriff nicht hätten aufhalten können. In Jonas und sein Veteran erinnerte Frisch an die Dramatik des 14. Mai 1940, an den Tag, an dem der Einmarsch erwartet wurde.158 Man saß hilflos und wehrlos herum und wußte, in wenigen Stunden konnte alles vorüber sein; man dachte an Selbstmord, an die unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte, an den Tod. Der Kommandant der Einheit kommandierte »Bereitschaft zum Letzten, zum Sterben«.159 Wohl eher ins Reich der Legende gehört die Geschichte von der zufälligen Formfindung des Tagebuchs. Immerhin hatte sich Frisch bereits 1935 in Berlin für Hans Carossas Kriegstagebuch begeistert160 und im selben Jahr, in der NZZ vom 16. September 1935, ein eigenes Taschenbuch eines Soldaten in Form eines Tagebuchs publiziert. Vorbild und Erfahrung waren also vorhanden. Eine wirklich eigene Tagebuch-Form entwickelte Frisch erst im Tagebuch 1946–1949.

Blätter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers

Vom 1. September 1939 bis zum 17. Mai 1945 leistete Frisch in mehreren Etappen rund 650 Diensttage, das heißt er verbrachte ein knappes Drittel jener Jahre im Aktivdienst. Die Blätter aus dem Brotsack schrieb er hauptsächlich vom 1. September bis zum 18. Oktober 1939, sie erschienen im selben Jahr.161 Der Anlaß zum Text war, so Frisch, der Auftrag seines Hauptmanns, ein »Tagebuch unseres Grenzschutzes« zu verfassen.162

Die Blätter, »ein buntes Mosaik« (Korrodi), halten ohne streng strukturierten Zusammenhang unterschiedliche Ereignisse und Themen aus der Aktivdienstzeit fest: Nicht singend und aufschneidend zieht die Armee in den Dienst, sondern ernst und männlich. Nur – wie könnte es anders sein – eine junge Frau »verliert die Nerven und schwatzt.«163 In der Herzenstiefe des Kanoniers rumort Heldenpathos: »Was war uns der Friede, solange wir ihn hatten? Ohne die Finsternisse der Nacht, wie knieten wir vor der Sonne? Ohne das Grauen vor dem Tode, was begriffen wir jemals vom Dasein? Alles Leben wächst aus der Gefährdung.« Der Tod erscheint als die Chance zur ersehnten »Wandlung des Lebens«.164 Der »Gewinn des Lebens aus der Gefährdung« war bereits das Leitmotiv in Antwort aus der Stille gewesen. In den Blättern übernimmt der Krieg die Funktion des Nordgrats. Auch er erscheint als schicksalhafte Naturgewalt, die zur »unumgänglichen letzten Prüfung« zwingt, nicht aber als ein politischer Willensakt, den man verändern könnte. Nach dem Künstler Reinhart und dem Bürger Leuthold erscheint nun der Soldat als ein neuer literarischer und lebenspraktischer Entwurf Frischs.

 

Soldatenleben wird beschrieben. Oft genau beobachtet, amüsant, zuweilen befremdlich. Da ist ein Korporal »untertänig wie ein Neger«,165 die »Freude an der Waffe überkommt auch den lauten Kriegsverächter«,166 der »Segen [!] einer großen bewußten Gefährdung« macht die »menschlichen Entscheidungen … klarer, gültiger, großzügiger, mutiger«.167 Und dergleichen mehr. Die tägliche Öde des Dienstes bietet Anlaß zu grundsätzlichen Betrachtungen. Der Herbst der Mobilmachung wird zur existentiellen Metapher: »So müßte man sein ganzes Dasein erleben können … als ein großes, ein einziges, ein dauerndes Abschiednehmen«, um »ganz und gar die Gegenwart zu empfinden«.168 Ein Schläfchen auf der »mittäglichen Wiese wird zum Versinken in tieferes Wachsein« und ruft »dumpfes Entsetzen« vor der »Weltnacht« hervor.169 Zuweilen auch falten sich die Hände wie von selbst, und es steigt ein Gefühl auf, »daß man geschlossen sei, ein Ring, ein Kreislauf … man spürt seine eigene Gegenwart, seine Seele, die in den Leib gekommen ist … wie man aufnimmt und sich wandelt … – ohne daß man im Grunde sich jemals verlieren kann«.170


1940, Soldatenweihnacht. Max Frisch vorne rechts. Foto Max-Frisch-Archiv.

Todesschrecken und existentielle Erlebnisse wurden bleibende Erinnerungen. Konfrontiert mit einem Krieg, der alles zerstörte, entdeckte der Soldat überall, wie dünn und zerbrechlich die Schicht des Lebens und wie allgegenwärtig und unendlich das Reich des Todes ist. Diese Grenzerfahrung zwang Frisch zu einer besser reflektierten Sicht der Dinge. Was ist, ist nicht fest und verläßlich, es ist nur ein kurzes Aufleuchten des Lebendigen im ewigen Vernichtungsprozeß. Die Lektüre der Ilias von Homer inspirierte ihn zu existentialistischen Kriegsphilosophien: »Das Nichts, der große Urgrund der Langeweile«,171 ist auch »der Urgrund alles Schöpferischen … So wie es der Urgrund der Kriege ist, der Laster, der großen Wagnisse«.172 Aber im Unterschied zu den unsterblichen Göttern, welche die Sinnlosigkeit alles Bestehenden lächelnd ertragen, weil für sie alles, auch Schmerz und Tod, ohnehin nur ein Spiel ist, braucht der Mensch einen Sinn, zumindest einen Vorwand für sein Handeln. So ergreift er denn dankbar »alles, was ihm einen Lebenszweck vor die Füße wirft«, und sei es der »niedliche Vorwand« einer entführten Helena, um sich in den Kampf zu stürzen. Nur der wirklich »schöpferische Mensch« steht über dem Krieg.173

Es mag verwundern, daß ein gebildeter Kopf angesichts der Greuel des Krieges Hunderte von Seiten mit Maximen und Reflexionen füllt, ohne über den Krieg und seine Gründe politisch nachzudenken. Dieses beredte Verschweigen ist nicht einfach die apolitische Haltung im Sinne des traditionellen Literaturverständnisses. Es zeugt auch nicht bloß von Naivität.174 Hier versucht ein junger Mann – wohl in Anlehnung an Carossas Kriegstagebuch –, angesichts des drohenden Todes bedeutsame Literatur, sozusagen einen Nachlaß an Tiefsinn zu verfassen und eine Bilanz seiner bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse zu ziehen. Und diese sind, zumindest in dieser ersten Folge der Blätter aus dem Brotsack, durch und durch konventionell und konservativ.175

Die sozialdemokratische Tat kritisierte denn auch, Frischs Blätter gäben letztlich nur das »Klima« wieder, »das an den Hängen des Zürichberges« – dem bürgerlichen Nobelviertel – herrsche.176 Dagegen jubelten die rechtsbürgerlichen

Schweizer Monatshefte: »Wenige Bücher reichen so in den Grund menschlichen Daseins hinab, wie dieses.«177

Frisch selber hat fünfzig Jahre später seine damalige unkritische Haltung selbstironisch kommentiert: »650 Tage ohne Arrest. Ich muss sehr gehorsam gewesen sein« – »Gehorsam aus Stumpfsinn, aber auch Gehorsam aus Glauben an eine Eidgenossenschaft … Ich wollte nicht wissen, sondern glauben«.178

Für die Blätter erhielt Frisch nicht nur die zweimal fünfhundert Franken aus dem »Eidgenössischen Fonds zur Unterstützung arbeitsloser Künstler«, bei dem Frisch 1938 um Förderung nachgesucht hatte. Auch die Schweizer Schillerstiftung, vertreten durch Robert Faesi, und die Literaturkommission der Stadt Zürich honorierten Frischs Tagebuch aus dem Aktivdienst 1940 mit je fünfhundert Franken. Das waren für damalige Zeiten beachtliche Preisgelder.179

Ebenfalls Jahrzehnte später beschrieb Frisch den Nutzen, den er als einfacher Soldat aus seinen Diensttagen gezogen habe: »Leute meiner Schulbildung (Gymnasium, Universität, Eidgenössische Technische Hochschule) werden sonst kaum genötigt, unsere Gesellschaft einmal nicht von oben nach unten zu sehen.«180 Der Blick von unten ist ein kritischer Blick. Die genaue Lektüre der Blätter zeigt denn auch erste Ansätze zu einem Perspektivwechsel in Frischs Weltanschauung. So machte er etwa die Erfahrung, daß Vertreter proletarischer Kreise uneigennütziger zu ihrem Land und den Widrigkeiten des Dienstes stehen als Vertreter des Bürgertums,181 und er lernte den exorbitanten Reichtum wie die Not mancher Schweizer kennen.182 Erstmals stellte er die Frage, die ihn nun nicht mehr losließ: »Wo gehöre ich hin?«183

Ende 1940 erschien eine zweite Folge der Blätter in sechs NZZ-Beiträgen.184 Sie enthielt kritische Gedanken zum Krieg, zur sozialen Ungleichheit, zum Mißbrauch der kommunistischen Ideologie als Schreckenspopanz. Und sie kritisierte erstmals offen das bornierte, enge und am Bestehenden ängstlich festklammernde Bewußtsein vieler Schweizer, die den »Ruhestand des Geistes … gelegentlich schon mit Gesinnung« verwechselten.185 Das waren auffällig dissonante Klänge in der bisherigen Heimatharmonik, die anzeigten, daß Frisch im ersten Jahr des Aktivdienstes sein Schweizbild einer Revision zu unterziehen begann.

»Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird«

Wenn auch Frisch jede Politik aus der Literatur fernhielt, so beschäftigten ihn doch die höchst dramatischen Zeitereignisse. Im Frühjahr 1940 überrannte die deutsche Wehrmacht Dänemark, Holland, Norwegen, im Juni kapitulierte Frankreich. Die Schweiz war nun ganz von faschistisch beherrschten Ländern umgeben, und Frisch rechnete, wie so viele andere auch, mit dem Sieg des Faschismus in ganz Europa. Am 17. Juni schrieb er unter dem Eindruck der französischen Kapitulation an Käte: »Europa kippt, ich glaube nicht, daß man es noch aufhalten wird. Das Denken an Frankreich, so unbekannt es mir ja ist, erfüllt mich mit Schmerz. England – England ist märchenhaft. Jetzt, wo man weiß, wie sie diesen Krieg in Sachen Mannschaft u. Ausrüstung begonnen haben, ist das deutsche Vorrücken kein Wunder; es ist, um sportlich zu reden, verdient. Warum hat man den Deutschen nicht geglaubt? Weil es unbequem war; weil es Geld gekostet hätte. England – England, das Reich des Geldes! Jetzt ist es zu spät, und es ist um ein solches Land nicht schade – im Gegensatz zu Frankreich – Wie aber wird das deutsche Europa aussehen? Ich verbrauche ganze Morgen, ganze Abende, um zu denken und nichts zu sehen. Wir, noch immer unheimlich verschont – von Italiens Gnade und Bedürfnis lebend – hängen nun überhaupt in der Luft. Wir werden, das ist das Bitterste, überhaupt nicht mehr zum Kampf kommen; unser Schicksal, so oder so, vollzieht sich über uns hinweg –«.186

Der deutsche Sieg ist »verdient«, um England ist es »nicht schade«, und »unser Schicksal vollzieht sich über uns hinweg«. Frisch war weder deutschfreundlich noch defätistisch; er sprach in diesem Brief bloß aus, was viele dachten: Der Einmarsch der Deutschen kommt bestimmt, und damit wird die Frage nach »Anpassung oder Widerstand« zur Existenzfrage. Die Landesregierung zwang die Presse zu höchster Zurückhaltung, um jeden Konflikt – und damit jeden Vorwand zum Einmarsch – zu vermeiden.187 Grenzübertritte und der Aufenthalt von Flüchtlingen in der Schweiz – ein Dauerstreit mit dem deutschen Reich – wurden weiter erschwert. Staatssekretär von Weizsäcker, Vater des nachmaligen deutschen Bundespräsidenten, forderte unverblümt, die Schweiz möge sich verhalten wie das Edelweiß am Felsen, »das in die Welt hinausstrahlt, ohne andere zu behelligen«.188

Anpasserisch bis zur Subordination reagierte auch die politische Führung. Drei Tage nach Frankreichs Kapitulation hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz seine berüchtigte Radioansprache, in der er sich zur faschistischen Neuordnung Europas bekannte. Für die bisherige Politik der Neutralität gegenüber allen kriegführenden Staaten gebe es jetzt keinen Grund mehr. »Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen.«189 Im September empfing er eine Delegation wichtiger Schweizer Faschisten, im November erfolgte die berüchtigte »Eingabe der Zweihundert«: Zweihundert führende Schweizer aus Wirtschaft, Bildung und Politik verlangten offen eine Angleichung an die Achsenmächte. Die Armeeführung war bis in die Spitze gespalten. Deutschfreundliche Generalstabsoffiziere versuchten den antideutsch eingestellten General Guisan zu entmachten und die Schweizer Armee zu demobilisieren. Guisan konterte mit einer neuen Verteidigungsstrategie, dem Réduit190 , und dem legendären Rütlirapport. Gleichzeitig verstärkte man die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Achsenmächten. De facto war die Schweiz ab Ende 1940 ein Teil des deutschen Wirtschaftsraums. Sie wurde der wichtigste Umschlagplatz des Reichs für Devisen und Gold – auch von Raubgold.191 »Sechs Tage in der Woche arbeiten die Schweizer für Hitler, und am Sonntag beten sie für seinen Untergang«, hieß der Witz der Zeit.

Der Anpassungsdruck erzeugte allerdings auch Gegendruck. Humanitäre Organisationen und Gewerkschaften mobilisierten zum Widerstand und gründeten antifaschistische Bewegungen. Zahlreiche Flüchtlingsorganisationen traten in Erscheinung. »Der große Teil der Bevölkerung, auch der Politiker, war in jener Zeit eindeutig antifaschistisch eingestellt. Zweifelhaft war die Haltung verschiedener Herren in den Chefetagen der Industrie, der Banken, der Politik und auch der Armeeführung«, so Hans Mayer, der in jener Zeit als Flüchtling in der Schweiz lebte.192

»Ich habe versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«

Im Sommer 1940 erwarb Frisch während eines Diensturlaubs sein Diplom als Architekt. Das erste Ziel, der bürgerliche Beruf, war erreicht. In einem Architekturbüro in Baden, später bei seinem Lehrer William Dunkel, fand er erste Anstellungen. Mit dreißig Jahren verließ er 1941 erstmals den mütterlichen Herd und bezog eine eigene Wohnung. »Ich bin dreißig und habe endlich einen Brotberuf, ein Diplom, ich bin dankbar, daß ich eine Stelle habe: acht bis zwölf und eins bis fünf. Ich kann heiraten … Ich bin nicht mehr Student und nicht mehr Schriftsteller, ich gehöre zur Mehrheit.«193

 

Die Frau, die Frisch 1942 heiratete, war »eine junge Architektin, die mir am Reißbrett half und das Mittagessen richtete«,194 so Frischs recht nüchterne Beschreibung seiner Frau sechs Jahre nach der Hochzeit. Sie hieß Gertrude Anna Constance von Meyenburg, genannt Trudy, und war eine erstklassige Partie für den sozialen Aufsteiger. Die von Meyenburgs, ein reiches und adliges Schaffhauser Geschlecht mit weitverzweigten verwandtschaftlichen Verbindungen zum Berner und Zürcher Patriziat, seit 1706 Reichsritter des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, besaßen außer Fabrikbeteiligungen, Immobilien und Bauland unter anderem das Gut »Schipfe« in Herrliberg mit eigenem Clevner Weinbau. Goethe hatte im September 1797 dort ebenso zu Gast geweilt wie Winston Churchill nach seiner berühmten Zürcher Universitätsrede im Jahr 1946. Während des Krieges dirigierten, musizierten und sangen internationale Berühmtheiten im großen Festsaal.195 Man hatte Geld und Kultur. Constances Großvater, Victor von Meyenburg, war als Bildhauer selber künstlerisch tätig gewesen. Sein Minnesänger Hadlaub ziert noch heute den Zürcher Platzspitz. Das jüngste seiner elf Kinder, Hanns von Meyenburg, der Vater der Braut, hatte als Pathologe Karriere gemacht, wurde Professor und Institutsdirektor an der Universität Zürich und amtete dort zwei Jahre lang als Rektor. Das neue pathologische Institutsgebäude ist im wesentlichen sein Werk. Seine Zugehörigkeit zum Corps Tigurinia und zur Münchner Franconia trug ihm die Standeszierde eines backenbreiten Schmisses ein. Er hatte eine Frau aus der Textilindustriellenfamilie Weber geheiratet und während des Kriegs billiges Gutsland erworben, welches, in Bauland umgewandelt, ihm beim Verkauf ein Vermögen abwarf. Die Legende, er habe sich von seinen Kindern siezen lassen, ist, so Trudy von Meyenburg, erfunden.196

Am 30. Juli 1942 heirateten Max und Gertrude Anna Constance. Die Hochzeit war aristokratisch mit Frack, Schleppe und weißen Handschuhen. Die Zürcher Gesellschaft gab sich die Ehre. Werner Coninx und Rolf Hässig, ein Architekturkollege, waren die Trauzeugen. Das junge Paar bezog an der Zollikerstraße 265, in einem guten Quartier am unteren Zürichberg, eine bescheidene, doch standesgemäße Wohnung. »Ich habe damals versucht, an die Bürgerlichkeit zu glauben und eifrig zu sein als Bürger«, erinnerte sich Frisch Jahrzehnte später.197


Hochzeit mit Gertrude Anna Constance von Meyenburg am 30. Juli 1942.

Frisch hat sich vehement gegen den Vorwurf gewehrt, er habe seine Frau aus Berechnung, nicht aus Liebe geheiratet.198 Aber er gestand auch einem Freund und Kollegen: »Beim ersten Kuß wußte ich, daß das nicht die richtige Frau für mich war. Aber ich habe sie geheiratet. Drei Kinder haben wir gemacht und zwanzig Jahre zusammengelebt.«199 Liebe und Berechnung sind zwar unterschiedliche, nicht aber notwendigerweise gegensätzliche Empfindungen. Hannes Trösch, Frischs engster Mitarbeiter von 1947 bis 1955, und auch Käte Rubensohn beurteilten die Ehe übereinstimmend als eine große Liebe von seiten der Frau, weniger von seiten des Mannes.200 Frisch hatte während der Ehe zahlreiche Freundinnen. »Er hat es in der Ehe und der Bürgerlichkeit anders gar nicht ausgehalten«, so Hannes Trösch. An diesem Verhalten sei schließlich die Ehe gescheitert.201 Trudy Frisch-von Meyenburg hingegen vermutete eine Charakterprägung: Die prickelnde Lust, unbelastet von Vergangenheit und Folgen neue Frauen kennenzulernen, habe ihn immer wieder zu neuen Liebschaften getrieben, eine Lust, die ja auch in Santa Cruz und in Bin beschrieben sei. Er habe es genossen und gebraucht, daß ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil wurde, sie als Mutter habe sich um die Kinder kümmern müssen und daher nicht unbeschränkt für ihn da sein können.202 Entgegen seinen Selbstaussagen sei Frisch nicht wirklich bemüht gewesen, als Bürger »eifrig« zu sein, sondern habe – innerlich voll Skepsis und Fluchtbereitschaft – mit der gutbürgerlichen Hochzeit eine Lebensform übernommen, die nie wirklich die seine geworden sei. Dazu gehörte auch, daß er sich weder in der Kleidung noch im Auftreten um einen bürgerlichen Habitus bemühte, sondern sich weiterhin primär als Künstler verstand, der einen Großteil seiner Zeit mit Schreiben verbrachte. Trösch berichtete, Frisch habe in seiner Architektenzeit mehr mit Schreiben als mit Bauen verdient; was nicht bedeute, daß die Schriftstellerei ihm viel eingebracht habe, eher: die Architektur sehr wenig. »Wir hatten damals alle kein Geld, auch Frisch nicht.«203 Die literarische Produktion der Jahre 1941 und 1942 ist nicht umfangreich: Frisch leistete Aktivdienst und baute zusammen mit Trudy ein Einfamilienhaus für seinen Bruder Franz Bruno in Arlesheim (siehe S.214). Nebenbei verfaßte er weiterhin Zeitungsbeiträge und schrieb an einem neuen Roman.

Zwei Rezensionen sind besonders interessant, denn sie zeigen den Beginn einer poetischen Umorientierung. Im ersten Text begreift Frisch Dichtung noch ganz traditionell als Selbstevokation der Dinge durch Sprache: »Echt dichterisch« sei es, die Dinge nicht zu schildern, sondern selber zum Sprechen zu bringen: »Worte wölken sich auf, schwebende Gebirge«, man spüre die »Wäßrigkeit des Wassers« usw. Im zweiten Text hingegen wurde der Ansatz differenziert und leicht verschoben. Dichtung, so hieß es nun, sei das »Schaubarwerden des Unsäglichen«,204 das Unsägliche aber könne nur durch Gestaltung schaubar gemacht werden.205 Hier erschien in nuce erstmals der Gedanke, daß die Wahrheit der Dinge unsagbar sei und also durch Sprache nicht direkt evoziert werden könne. Einige Jahre später dachte Frisch diesen Gedanken zu Ende und faßte ihn in die bekannte Formel: »Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.«206 Sprache bringt das Wesen der Dinge nicht mehr zum Klingen, sondern umstellt es, bis es als Aussparung spürbar wird.207

Im Oktober 1941 wanderten Frisch und Constance über den Pfannenstiel. Sie sollte die Landschaft Zollingers kennenlernen. In einem Wirtshaus kam es beim Sauser zufällig zu einer ersten Begegnung mit dem verehrten Dichter. »Ich zögerte lange, ihn anzusprechen, in der Angst, man hätte sich nichts zu sagen. Die Herzlichkeit seiner Begrüßung, auch seinerseits ein Gefühl von der Liebenswürdigkeit des Zufalles, daß man sich gerade hier zum ersten Mal begegnet, ergibt alles weitere.«208 Die beiden verabredeten sich auf bald, doch kurz darauf starb Zollinger, erst 46 Jahre alt. Frisch schrieb ihm in der Neuen Schweizer Rundschau vom November 1941 einen Nachruf, worin er vor allem Zollingers poetische Fähigkeiten herausstrich. Interessanter als dieser Nekrolog war der Text Albin Zollinger als Erzähler, den Frisch zum ersten Todestag Zollingers für die Neue Schweizer Rundschau verfaßte.209 Noch einmal versammelte er alle Kernsätze früherer Zollinger-Rezensionen, dann aber schlug er neue, politisch radikale Töne an: »Albin Zollinger ist … Sohn eines Volkes, das er gefährdet sieht, in der Überschätzung seines äußeren Friedens geistig zu vergrasen«, und Zollinger sei eines der wenigen Ereignisse, die »unseren Frieden einmal im Geistigen aufzuwiegen haben, während das Abendland sich in Schlachten verblutet«.210

In größter Verkürzung wird hier ein Gedanke angesprochen, der zum Propagandainventar der Aggressoren gehörte: Wer das Leben im Frieden zu hoch bewertet, läuft Gefahr, geistig zu verkümmern (wie das grasende Vieh). Solche Sätze mögen als politische Geschmacklosigkeiten passieren. Wenn aber Frisch kurz vor der Stalingradwende – die deutschen Truppen sind noch im Vormarsch – die national-sozialistische Aggression als »Durchbruch in die Befreiung des lebendigen Triebes und der Tat«211 beschrieb, so legt das zumindest den Verdacht der politischen Desorientiertheit eines Intellektuellen nahe, der seit der Kapitulation Frankreichs mit dem faschistischen Endsieg rechnete.

Dazu passen Desorientierungen auch auf anderen Gebieten: »Ein großer Wurf«, urteilte Frisch über A.J. Weltis Roman Wenn Puritaner jung sind und erzählte die Geschichte: Sie handelt von Erna, einer »Lehrerin und Suffragette, die aus Verklemmung und Dünkel ihre Jugend verpaßte, um schließlich und endlich einem Jazzsänger, einem Nigger, anheimzufallen«.212 Im Klartext: Eine intellektuelle Frau ist verklemmt, das heißt sie klemmt die Beine zusammen, wenn ein Mann sie ›entklemmen‹ will, bis sie schließlich verblüht ist und zur Strafe von einem Night-Club-Nigger aufs Kreuz gelegt wird. Ein »einfallsreiches Buch«, befand Frisch.213

Frischs Erinnerung an Zollinger erschien, wie erwähnt, in der Neuen Schweizer Rundschau. In der NZZ wäre der Text mit dieser offen prodeutschen Äußerung in dieser Zeit kaum mehr angenommen worden. Korrodi legte Wert auf Dezenz, und Bretscher wie Müller, der Chefredaktor wie der Leiter »Ausland« hatten ein genaues Auge auf die politische Tendenz der Texte. Alfred Cattani berichtete, Albert Müller habe ab und zu Sätze aus Frisch-Beiträgen gestrichen, weil sie ihm zu deutschfreundlich waren.214