Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991

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Politisches Bewußtsein

Diese Beiträge werfen Schlaglichter auf Frischs damaliges politisches Bewußtsein. Die radikalen Umwälzungen nach Hitlers Machteinsetzung Anfang 1933 waren für ihn ebensowenig Thema wie die Schweizer Nationalsozialisten, die mit Bomben, Straßenschlachten und Großkundgebungen auf sich aufmerksam machten. Ihn beschäftigten Fragen wie Zuckmayers Meisterschaft, Eine Liebesgeschichte zu schreiben (NZZ vom 11. November 1934), oder er experimentierte mit der Figur des Rip van Winkle, auf die er 1932 zum ersten Mal gestoßen war,83 oder er entwickelte im Unbelesenen Bücherfreund, hinter dem sich Freund Coninx verbarg,84 Gedanken zu einer ganz und gar zeitenthobenen Poetologie. Wenn Zeitbezüge einflossen, dann in recht unkritischer Weise. Der Romanheld sei ein »deutscher Sucher seiner Selbstverwirklichung«85 , lesen wir zum Beispiel in einer Rezension von Max René Hesses Roman Morath verwirklicht einen Traum, eine »männlich ringende Seele«, die sich aus den »schlangenglatten Armen« eines verführerischen weiblichen »Mischbluts« freikämpft, um seinen »großen Erde- und Männertraum«, seine »zur Verantwortung rufenden Träume des Blutes in die Wirklichkeit zu gebären«.86

Wie viele Intellektuelle erkannte Frisch die Tragweite der faschistischen Wende nicht; man lebte im »Dunkel des gelebten Augenblicks« (Ernst Bloch). Dabei erlebte er den Ungeist der Zeit seit 1933 aus nächster Nähe. An der Zürcher Universität entstand 1933 der Kampfbund Neue und Nationale Front, dem auch Freund Emil Staiger zeitweilig angehörte. Der nazifreundliche Studentenclub unterhielt enge Beziehungen zum rechtsbürgerlichen Honoratiorenclub Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz. Der größte Erfolg der »Fronten«, so der Sammelname für die Faschisten in der Schweiz, war die Listenverbindung und der gemeinsame Wahlkampf mit dem Bürgerblock anläßlich der Gemeinde- und Stadtratswahlen von 1933. Auch die NZZ war mit im Bund. 1934 ergriff der Bundesrat, der zunehmend autoritär mit Dringlichkeitsbeschlüssen regierte, erste Zensurmaßnahmen gegen Zeitungen, die kritisch über Deutschland berichteten. Im gleichen Jahr versuchten die Frontisten unter der Führung des schwerreichen James Schwarzenbach – später berüchtigt für seine ausländerfeindlichen Initiativen –, die »jüdisch-bolschewistische Brut« in Erika Manns Pfeffermühle und am Schauspielhaus mit Gewalt aus der Stadt zu vertreiben. Und 1935 wurde ein faschistisch inspirierter Verfassungsputsch gerade noch rechtzeitig vereitelt.

Daß die meisten Schweizerinnen und Schweizer die faschistische Bedrohung damals noch nicht als gefährlich empfanden, hat verschiedene Gründe. Entscheidend dürfte gewesen sein, daß manche Ideen der neuen Bewegung nicht einfach als ausländisches »Zeugs«, sondern durchaus als gut vaterländisches und auf dem eigenen Mist gewachsenes Gedankengut empfunden wurden. Mitte der dreißiger Jahre erreichten nämlich einige Entwicklungen ihren Höhepunkt, deren Wurzeln fünfzehn und mehr Jahre in die Schweizer Geschichte zurückreichten. Ökonomische und soziale Umbrüche im Gefolge des Ersten Weltkrieges führten nach 1918 auch in der Schweiz zu schweren Spannungen. Im Generalstreik von 1918 und in den folgenden Landesstreiks – sie wurden durch Armee und militante Bürgerwehren niedergeschlagen – wehrten sich die unteren Schichten gegen ihre zunehmende Verarmung. Die Nachkriegskrise 1921/22 mit einem Rekord von über zehn Prozent Arbeitslosen verunsicherte die Bevölkerung tief. Durch den Übergang vom Majorz- zum Proporzwahlrecht im Jahr 1919 konnten die zentrifugalen Kräfte politisch zunächst aufgefangen werden. Der Freisinn, der seine absolute Mehrheit verloren hatte, schuf Bündnisse mit den Katholisch-Konservativen und den konservativen Kräften der neuen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (bgb, heute svp). Ideen des Ständestaats, des Nationalismus, völkisches und patriarchalisches Autoritätsdenken bis hin zur Führerideologie, Ausländerfeindlichkeit, vor allem ein militanter Antisozialismus und Antikommunismus hielten das Bündnis zusammen und schufen geistige Brücken zu den faschistischen Kräften im In- und Ausland.

Dieses Gedankengut fand auch seine Vertreter in der Bundesregierung. Der katholisch-konservative Giuseppe Motta, Bundesrat von 1911 bis 1940, eine politische Schlüsselfigur der dreißiger Jahre, hegte offene Sympathien für Mussolini und Franco. Sein Amtsnachfolger, der

Waadtländer Radikale (Rechtsliberale) Marcel Pilet-Golaz (Bundesrat von 1929 bis 1944), rief 1940, nach dem Fall Frankreichs, öffentlich zum Arrangement mit Hitlerdeutschland auf. Der katholisch-konservative Jean-Marie Musy betätigte sich nach seinem Rücktritt als Bundesrat (Ende 1934) offen in der faschistischen Bewegung.

Auf der Linken erstarkten die Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei. Obschon diese sich mehrheitlich von der kommunistischen Internationale abgrenzte und die Klassenkampftheorie ablehnte, verteufelte der Bürgerblock die Sozialdemokraten bis in die Mitte der dreißiger Jahre als staatsgefährdende Partei. Dennoch errang die sps 1924 und 1925 mit der Ablehnung der 54-Stunden-Woche und der Annahme des Alters-und-Hinterlassenen-Versicherungs-Artikels in die Bundesverfassung zwei wichtige politische Siege. Aber erst 1943, nach Stalingrad, zog erstmals ein Sozialdemokrat in die Bundesregierung ein.

Die Spannungen nach dem Ersten Weltkrieg begründeten nicht nur die linken wie die bürgerlichen Parteiungen, sie waren auch der Humus, woraus ein artenreiches schweizerisch-faschistisches Kraut schoß. Die Bürgerwehren gegen die streikenden Arbeiter, nicht selten von Militärs munitioniert, die Masse der sozial verunsicherten Bauern rechts von der bgb, elitär-antidemokratische, vor allem aber antisozialistische Intellektuelle und Studenten, sie bildeten heterogene Quellen, aus denen das braune Wasser sprang, das Anfang der dreißiger Jahre zur Frontenbewegung zusammenfloß. Die Bewegung war uneinheitlich, »die politisch-programmatischen Grundzüge sind meist kaum vergleichbar«.87 Gemeinsam war ihnen die Kritik am bestehenden Parlamentarismus und am liberalen Wirtschaftssystem, die Betonung korporativer Ideen, Blut-und-Boden-Vorstellungen in Teilen der Bauernschaft, die Sympathie für autoritäre Führerprinzipien und die Betonung nostalgischer, mythisch und völkisch verklärter Tugenden der alten Eidgenossen.

So stellt sich der Schweizer Faschismus nicht einfach als ein Auslandsimport dar, sondern auch in manchem als eine urschweizerische Ideologie. Nur so ist die gedankliche und sprachliche Nähe so vieler führender Schweizer Industrieller, Militärs, Intellektueller und Dichter zu dieser Bewegung verständlich. Sie waren nicht einfach Söldner des Reichs, sie empfanden sich selbst als in der Wolle gefärbte Schweizer88 .

Dennoch: Blind war nur, wer blind sein wollte. Minister Carl Jacob Burckhardts Bericht aus den deutschen Konzentrationslagern sprach eine deutliche Sprache. Der autobiographische Bericht aus dem Konzentrationslager, Die Moorsoldaten, verfaßt vom berühmten Schauspielhaus-Schauspieler Wolfgang Langhoff, erschien 1935 und löste heftige Debatten in der Öffentlichkeit aus. Die zahlreichen Emigranten in der Schweiz legten beredtes Zeugnis ab, die Zeitungen litten noch kaum unter dem Zensurdruck. Wer um 1935 in der Schweiz über das Geschehen in Deutschland im Bild sein wollte, hatte ausreichend Informationen zur Hand.

Frisch war nicht unwissend, doch in jenen Jahren an Politik schlicht nicht interessiert. Er sei mit sich und seiner Schriftstellerei so beschäftigt gewesen, erzählte seine damalige Freundin, daß er die Weltgeschichte um sich herum kaum wahrgenommen habe. »Er schrieb damals (1934) an einem Roman, einer Doppelgängergeschichte von einem, der sich in der Limmat scheinbar ertränkt hat – weil man seine Kleider fand –, der aber doch weiterlebte als sein Doppelgänger, also eine Stiller-Geschichte. Das hat ihn damals interessiert.« Politik sei ihm erst ein Thema geworden, als er 1939 in den Militärdienst mußte. »Sein Interesse damals galt den rein menschlichen Problemen und der Natur. Einmal hat er mich gefragt, warum ich denn in Zürich studiere, wo ich doch in Berlin gewohnt habe. Ich sei als Jüdin emigriert. Darauf hat er gar nichts geantwortet. Später war er sehr überrascht und es hat ihn beschäftigt, daß er mir damals nichts geantwortet hatte.«89 Politik, das waren ihm allenfalls »die aufgeregten Streiche benachbarter Führer«, Poesie aber »jenes Beruhigendere, daß Sommer glühen und Herbste glimmen …«.90

Der junge Dichter

Käte Rubensohn, so der Name jener Freundin, wurde 1914 in Hildesheim geboren. Sie entstammte einer bürgerlich-intellektuellen Familie jüdischer Abstammung, die bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, daß man sie eines Tages nicht mehr als Deutsche akzeptieren würde. Der Vater war Altphilologe und Archäologe, grub in Paros und auf Elephantine und leitete bis 1915 das Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Danach unterrichtete er als Gymnasialprofessor in Berlin. Geheimrat war er nicht, wie Frisch in Montauk schrieb, das war Onkel Ludwig Borchardt, der in Tell el Amarna die berühmte Nofretete-Büste ausgegraben hatte. Käte, der als Jüdin die deutschen Universitäten versperrt blieben, konnte dank diesem Onkel in Zürich Germanistik studieren. Sie war während vier Jahren Frischs Lebensgefährtin. Da sie oft in Berlin weilte – die Eltern emigrierten erst 1939 –, entstand ein umfangreicher Briefwechsel, der, abgesehen von Frischs eigenen Texten, die wichtigste Quelle für die Kenntnis des jungen Max Frisch darstellt.91

 

Käte Rubensohns Erinnerungen vermitteln darüber hinaus ein anschauliches Bild des jungen Dichter-Journalisten. Die erste Begegnung fand auf der Universität statt. »Es war im Proseminar von Professor Faesi. Ich war frisch von der Schule mit dem Abitur im Sack nach Zürich gekommen, denn in Deutschland konnte ich ja nicht mehr studieren. Das war 1934, da bin ich zum ersten Mal hingegangen, und Professor Faesi legte uns, ohne den Autor zu nennen, ein Gedicht vor, genannt Der Blumenelf. Faesi guckte sich um, hat mich als Neuling entdeckt und gefragt, scherzeshalber, ob das Gedicht wohl von einer eben aus der Schule Entlassenen sei. Er schaute mich an, worauf ich heftig mit dem Kopf schüttelte. Da begann ein junger Mann neben mir, ohne aufgerufen zu sein, zu sprechen: ›Um das Gespräch auf eine ernstere Basis zurückzuführen …‹ Ich riß die Augen auf ob soviel Dreistigkeit, jener aber fuhr fort: ›Einem bereits poetischen Gegenstand, der Blume, wird ein weiterer, der Elf, aufgepfropft. Das ist in meinen Augen Kitsch.‹ Das leuchtete mir ganz enorm ein und Professor Faesi auch, der sich ohne weiteres die kleine Dreistigkeit gefallen ließ. Es stellte sich zum Schluß heraus, daß das Gedicht von Gottfried Keller war … Der kecke junge Mann hatte einen runden dicken Kopf, ein gleichfalls rundliches Gesicht, die Augenlider konnte er nicht ganz gut öffnen, er trug einen hellgrauen Flanellanzug, keine Krawatte, weiße Schuhe und hieß Max Frisch.«92


Parsenn-Hütte bei Davos, 29. Februar 1936, mit Käte Rubensohn. Foto Käte Schnyder-Rubensohn.

»Wie ich ihn 1934 kennengelernt habe«, so erinnerte sie sich weiter, »war er ein armer Schlucker und hat Mühe gehabt, das Nötigste zusammenzukriegen … Einmal hatte er nur noch sieben Franken, sonst nichts.« 1936 sprach die städtische Kulturkommission dem »in großer Notlage« befindlichen, jungen Dichter eine »Aufmunterungsgabe« in der Höhe von 1000 Franken zu. Der chronische Geldmangel habe ihn gezwungen, immer wieder Teile aus dem dichterischen Werk herauszubrechen und journalistisch zu verwerten.93 Ansonsten habe ihn die Armut kaum bedrückt. Frisch sei kein Bücherwurm gewesen, sondern ein lebenslustiger, junger Mann voll sprühenden Humors. Tage- und nächtelang habe man Mensch-ärgere-dich-nicht, Halma oder Schach gespielt, letzteres sogar brieflich. Auch Sport habe er oft und gern getrieben. Er lief Schlittschuh, Ski, fuhr Rad, spielte Tennis und – mit Ehrgeiz bis ins hohe Alter – Tischtennis. Mit vierundzwanzig Jahren habe er noch schwimmen gelernt.94 Diese Lebenslust habe allerdings ihre Kehrseiten gehabt: Max sei aus Unsicherheit oft aggressiv und auftrumpfend gewesen und dauernd auf Selbstverteidigung aus. Er habe rigoros und unnachsichtig über Menschen geurteilt und sei häufig von Depressionen, von Lebensekel und schweren Selbstzweifeln heimgesucht worden, die sich bis zur psychischen Selbstzerfleischung steigern konnten, wenn ihm gerade wieder einmal die Schreibeinfälle ausgingen. Gegen Depressionen hätten vor allem Wanderungen geholfen. »Es wird immer zweifelloser, daß ich ein glückliches Aufrichten nicht aus mir beziehen kann«, schrieb er an Käte, »auch selten aus andern Menschen, eher schon aus großer Kunst, aus einer Musik etwa, am meisten aber aus solchen Anblicken der Landschaft, der äußern Welt, wenn sie uns wie ein Wunder begegnet und wenn es vollauf genug ist, zu leben, damit man sie anschauen darf.« Aus diesem Grund sei man sehr viel gewandert.95

In inspirierten Zeiten dagegen habe Frisch Tag und Nacht am Schreibtisch verbracht. »Ich bin nun ein wenig abgespannt«, schrieb er an seine Freundin, »da ich einen wunderlichen Lebenswandel führte; es kam vor, daß ich ohne Frühstück anfing und dann gegen drei Uhr eine Suppe machte, manchmal eine Bummelstunde im Freien, und dann ging es weiter in die Nacht hinein. Die Zeit war zu knapp; es war eine wilde Hetzerei, zumal schon das Schreiben immer viel Mühe macht, wenn man nochmals eine Stelle ändern mußte. Das Verrückteste aber war, daß ich gerade in diesen letzten acht Tagen, wo ich noch den letzten Akt entwerfen und die andern ergänzen mußte, eine neue Idee hatte, die mich nicht in Ruhe ließ; nachts um zwei Uhr zog ich die Hosen an und setzte mich ins Wohnzimmer und schrieb bis vier Uhr. Es ist ein Lustspiel märchenhafter Art, manche lustige und reizvolle Scene ist mir gelungen, immer nebenbei, während ich kochte oder aß oder ausging, um über meine andere Arbeit nachzudenken. Es machte mir ungeheuren Spaß, allerdings immer mit dem schlechten Gewissen, daß ich ja eigentlich arbeiten sollte. Nun ist ein Drittel dieser Komödie da, dazu allerlei Splitter, aber ich habe keine Ahnung, wie das Ganze weitergeht, und vorallem, ob dieses leichte und geradezu unwillkürliche Hinschreiben weiteranhält. Ich glaube es nicht … Aber Freude hat es mir gemacht.«96

Erste Deutschlandreise

Im März 1935, inmitten der heftigsten politischen Unruhen, reiste Frisch zum ersten Mal ins nationalsozialistische Deutschland. Er berichtete der Freundin: »korrodi hat mir die versprochnen 120 franken gegeben, voraussichtlich liefere ich ein tagebuch meiner reise, friedliche impressionen … natürlich nichts scharfes. jedenfalls schreibe ich es erst nach meiner rückkehr, wenn ich den ganzen überblick über den stoff habe.«97 »Friedliche Impressionen« und »nichts Scharfes«; der an Politik nicht interessierte Schriftsteller wußte sehr wohl, was sein Blatt von ihm erwartete.

Frisch deklarierte seine Reise als »Probe für unsere eigene geistige Haltung … denn kein Deutschschweizer … wird leichten Herzens das nachbarliche Deutschland aufgeben dürfen … und unsere kulturelle Zusammengehörigkeit kündigen können«.98 Frischs Frage im Reisegepäck hieß: Ist »Deutschland, dessen klassische Sprache uns künstlerisches Vorbild ist« noch das Deutschland der »Dichter« und der »Stillen«, »etwa eines Carossa«, oder nur noch eines der »brüllenden Massen« und der »Volksredner«?99


Zürich, im Café Studio, 30. August 1937, mit Käte Rubensohn. Foto Käte Schnyder-Rubensohn.

Dieser Frage lag eine Einschätzung zugrunde, die damals unter Schweizer Intellektuellen weit verbreitet war. Sie lautete: Das wahre Deutschland ist das der Dichter und Denker: Als eine Art Störung hat sich der Nationalsozialismus der brüllenden Massen, eine geistlose, proletische Bewegung, vorübergehend darin breit gemacht. Säuberlich getrennt handelte Frisch denn auch seine Reisebeobachtungen ab, die er in vier Folgen in der NZZ ausbreitete.100

In Stuttgart begeistert sich der künftige Architekt für den Bahnhof: »das Schönste und Höchste, was unsere Zeit schafft«. Paul Bonatz hatte ihn zwischen 1911 und 1926 als kühne Kombination von modernster Stahlkonstruktion und urtümlichem Quaderbau aus Muschelkalkblöcken errichtet. Der Bau erregte internationales Aufsehen. In seinem Turm »hauste«, so weiß der Journalist zu berichten, während der Revolution im zweiten Reich die Stadtregierung.101 Drei blanke Dolche in der Parteibuchhandlung offenbaren dem Chronisten die eine, das Gespräch mit einem Verlagsleiter die andere Seite Deutschlands: Hier erfuhr er, daß die »Blut- und Schollen«-Literatur mit dem »Mistgeruch« in Deutschland »kaum mehr gekauft« würde, auch in der Schweiz »stoße man auf ein zähes Mißtrauen, fast auf einen Boykott«. Zwar fände die nsdap-Literatur schon großen Absatz, doch das seien Pflicht-, nicht Neigungskäufe.

Es wäre falsch, dem jungen Frisch besondere Realitätsblindheit vorzuhalten. Beinahe alle deutschen Intellektuellen hielten noch Mitte der dreißiger Jahre die Naziliteratur für zu dumm, um ernsthaft Schaden anrichten zu können. Auch in Berlin war es ein Buchhändler, der über Deutschlands Geisteszustand Beruhigendes zu berichten wußte. Das »stille Buch« sei wieder gefragt, man suche wieder »die Gedanken eines umfassenderen, höheren und ewigeren Geistes«.102 (Der Komparativ ›ewiger‹ ist wohl eine unbeabsichtigte Ironie.) Als leuchtendes Beispiel für dieses »stille« Buch pries Frisch Hans Carossas Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg, das Rumänische Tagebuch: »Da ist diese menschliche Größe, die sich in einer flammenden und blutigen Welt, wo alles aus den Fugen fällt, zum Glauben an den Sinn durchringt; da ist diese weite Kraft, daß einer neben dem Einschlag der Geschosse noch die blühende Blume sieht; da ist die erlösende Geduld, die nicht ins Fuchteln und ins Verzweifeln stürzt, sondern das gottgesetzte Schicksal still und männlich-demütig erfüllt; da ist ein dichterischer Kristall, wie er nur werden konnte unter dem ungeheuren Druck eines Weltschicksals.«103 Gottgesetztes Schicksal und männlich-demütige Erfüllung, Geschoß und Blume, Weltenschicksal und dichterischer Kristall – Frisch geriet hier sprachlich in gefährliches Fahrwasser.

Aufschlußreich für sein Verständnis des Nationalsozialismus ist der Bericht, den er von der Berliner Ausstellung »Wunder des Lebens«, die »unleugbar eine Prachtleistung ist«, erstattete.104 Entzückt vom »glücklichen Mittelweg … zwischen allzu populärer Vereinfachung und allzu ausschweifender Gründlichkeit«,105 mit welcher hier ein »Hauptpfeiler nationalsozialistischer Ideen«, »nämlich die Naturwissenschaft«, veranschaulicht wird, bemerkte er nicht, wie sehr er mit diesem Entzücken den Nazis bereits auf den Leim gekrochen war. Indem er die ideologische Verzerrung von Naturwissenschaft, wie sie den Nazis eignete, umstandslos für Naturwissenschaft an sich hielt. Nur einen Punkt gab es, wo diese Verzerrung auch Frisch über die Hutschnur ging; immerhin liebte er zu dieser Zeit eine Jüdin. »Empörend ist dieser Selbstruhm, der seine eigene Rasse erhöht, indem er alles andere in den Schmutz stößt. Was die Ausstellung über die Juden bringt … läßt es uns äußerst schwer werden, über diesem dritten Reich das ewige Deutschland nicht zu vergessen.«106 Doch als sei diese Formulierung schon des Scharfen zuviel, nahm er sie im Nebensatz wieder ein Stück zurück. Er gestand den Nazis zwar ein »notwendiges Zurückdämmen« der Juden zu, bat sie aber auch, »die Rassenfrage nicht länger auf die Spitze« zu treiben.107

Man darf solche peinlichen Äußerungen nicht überbewerten. Frischs Ablehnung des Nazismus ist unbestritten. Doch sie war schmal begründet. Zum einen im Geschmack: Der bürgerliche Individualist und Traditionalist scheute die laute Massenbewegung der Gleichgeschalteten. Denn der »Weg zur wahren Gemeinschaft« verlaufe nicht über den Massenmenschen, sondern »über das erfüllte und selbstreife Individuum«.108 Zum anderen moralisch: Die Rassendiskriminierung ging ihm – über das »notwendige Zurückdämmen« hinaus – zu weit. Zum dritten verachtete er die politische Vereinnahmung der Kunst durch die Nazipolitik. Sie widersprach diametral seinem eigenen, unpolitischen Verständnis von Kunst. Und schließlich imprägnierte er sich mit einer schweizerischen Nationalideologie, der sogenannten »Geistigen Landesverteidigung«, gegen die Anfechtungen von außen. Diese Ideologie – im nächsten Kapitel wird davon ausführlich die Rede sein – war ein recht eigenartiges geistig-politisches Konglomerat, welches nicht nur die unterschiedlichsten Richtungen im Lande auf eine ideologische Linie brachte, sondern zugleich einen Riegel gegen die Versuchungen von jenseits der Grenzen schob, indem es zahlreiche Gedanken der dortigen Staatsideologie in abgewandelter Form integrierte. Frisch wurde ein glühender Vertreter dieses nationalschweizerischen Denkgebäudes.