Das historische Dilemma der CVP

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Die Christlichdemokraten verloren Wähler nach rechts an nationalkonservative und rechtspopulistische Parteien, welche Fragen der nationalen Identität und der Migration ins Zentrum stellten und einen gegen Brüssel-Europa gerichteten Kurs steuerten. Als Zentrumsparteien reagierten die Christlichdemokraten auf die konservative Wende europaweit mit einem Rechtsrutsch und koalierten zum Beispiel in Österreich mit den Rechtspopulisten. Der belgische Historiker Emiel Lamberts situiert die christlichdemokratischen Parteien als linken Flügel des Konservativismus.

Dazu kam, dass die katholische Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil eine Gleichgewichtung der demokratischen Parteien vorgenommen und die frühere Privilegierung katholischer Parteien aufgegeben hatte. Das Konzil betonte die Autonomie und die Pluralität des Politischen, was zur Folge hatte, dass die lokalen Bischofskonferenzen in der Regel Äquidistanz zu den demokratischen Parteien predigten.

Mit dem Ausbau des sozialen Wohlfahrtstaats verloren katholische Annexorganisationen wie Vereine, Krankenkassen, Gewerkschaften und so weiter. ihre soziale Bedeutung für die unterprivilegierten Sozialschichten, gleichzeitig säkularisierten sich die christlichen Gewerkschaften und Krankenkassen selber und distanzierten sich von den christlich orientierten Parteien. Waren die christlichdemokratischen Parteien bis in die 60er-Jahre noch von der Vorstellung der «christlichen Politik» geprägt und strebten indirekt eine Verchristlichung der Gesellschaft an, verwandelten sie sich spätestens seit den 80er-Jahren zu bürgerlich-konservativen Volksparteien mit einer diffusen christlichen Orientierung. In ihrer nachkonfessionellen Epoche waren sie dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf den demokratischen und rechtstaatlichen Grundkonsens und länderspezifische Varianten der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten. Vom christlich-humanistischen Geist blieb oft nur noch die Betonung der Menschenwürde und Menschenrechte. Die fortschreitende Individualisierung und Säkularisierung sowie die Globalisierung mit ihren ökonomischen und sozialen Krisen schwächten die Fundamente, auf denen die C-Parteien aufgebaut waren.8

Ende des goldenen Zeitalters

Der amerikanische Historiker John S. Conway spricht vom Ende der grossen Zeit der Christlichdemokraten. Diesem Befund kann ich beistimmen. Die Christlichdemokraten gerieten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und nach dem Ende des Kalten Kriegs in eine Krise. Mit dem Untergang des Kommunismus verloren sie ihren Feind. Die Christlichdemokraten konnten sich in den Kernländern der Europäischen Union, das heisst in Deutschland, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden sowie in Österreich, als Regierungsparteien halten, sie verschwanden in Frankreich und Italien.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Christlichdemokraten in Spanien und Portugal, in Ländern also, die bis in die 70er-Jahre von Rechtsdiktaturen regiert worden waren, nicht Fuss fassen konnten. In diesen Ländern war die katholische Kirche zu sehr mit den autoritären Regimes verbunden gewesen, als dass Parteien mit christlichem Hintergrund glaubwürdig erschienen wären. Zusätzlich bereiteten parteiinterne Streitigkeiten in Spanien dem christlichdemokratischen Experiment ein unerwartetes Ende.

Auch in Mittel- und Osteuropa waren die demokratischen Strukturen durch die lange kommunistische Herrschaft derart zerstört, dass sich in der ersten Transformationsphase auf der einen Seite liberal-konservative und auf der anderen nationalistische und sozialistische und altkommunistische Parteien formierten. Obwohl die katholische Kirche in Polen über die Solidarność-Bewegung im Kampf für Religionsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie eine entscheidende Rolle spielte, entstand keine christlichdemokratische Partei westlichen Musters.

In Europa führt die neuste Entwicklung in Folge der Wirtschaftskrisen zu einer Polarisierung nach dem klassischen Schema von links und rechts. Konservative Parteien traten an die Stelle der Christlichdemokraten, die zwischen die Fronten gerieten oder wie die CDU/CSU den Weg einer bürgerlich-konservativen Sammlungspartei wählten.

Als Fazit kann man festhalten: Die fortschreitende Modernisierung der westlichen Gesellschaft führte zu einer Werte- und Kulturrevolution, die den traditionellen christlichdemokratischen Parteien die ideologische und soziale Basis zu entziehen droht. Da die meisten Parteien auf die Traditionen des politischen Katholizismus zurückblicken, brachte das Zweite Vatikanische Konzil ihr weltanschauliches Selbstverständnis ins Wanken. Die Renaissance konservativer und rechtspopulistischer Parteien seit den 80er-Jahren beschleunigte die Erosion der christlichen Demokratie. So war es folgerichtig, dass sich die christlichdemokratischen Parteien im Europäischen Parlament mit den konservativen Parteien zur «Europäischen Volkspartei» zusammenschlossen. Ohne auf die Debatten der Politologen einzugehen, schliesse ich mich für die CVP den Schlussfolgerungen von Andreas Ladner an, dass die Lipset/Rokkan-These von den «eingefrorenen Parteisystemen» modifiziert, vielleicht sogar aufgegeben und der Blick auf den Wandel geworfen werden sollte.9

Die CVP als Teil der europäischen Parteifamilie

Von der Schweiz war bisher nur am Rand die Rede, obwohl die CVP Schweiz im internationalen Vergleich ein interessantes Fallbeispiel darstellt.10 Mit Ausnahme von Belgien ist die CVP die älteste Regierungspartei der europäischen Christdemokratie und seit 1891 ohne Unterbruch an der Regierung beteiligt. Nach dem Zusammenbruch der absoluten Mehrheit der FDP infolge der ersten Proporzwahlen von 1919 stiegen die Christlichdemokraten zum verlässlichen Juniorpartner des vom Freisinn angeführten antisozialistischen «Bürgerblocks» auf.

Seit 1919 pendelten die Vorgängerparteien der CVP um 21–22 Prozent der Wählerstimmen, 1947 erzielten sie in den ersten Nachkriegswahlen 21,2 Prozent. Im Vergleich zu den Spitzenresultaten der christlichdemokratischen Parteien in Deutschland, Italien und anderen Ländern nahmen sich diese Wahlergebnisse bescheiden aus. Auch als sich die «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» in Anlehnung an ihre europäischen Schwesternparteien 1970 den Namen «Christlichdemokratische Volkspartei» gab, blieben die Wahlergebnisse im Bereich eines Fünftels, bevor die Partei zu erodieren begann. Welche Merkmale kennzeichnen die CVP und ihre Vorgängerparteien? Ich beantworte diese Frage in diesem Kapitel thesen-, ja schlaglichtartig und vertiefe sie in den folgenden ausführlich.

1. Kontinuität. Der Politikwissenschaftler und ehemalige Generalsekretär der CVP Timotheos Frey schreibt in seiner Dissertation von 2008, dass die Katholisch-Konservativen Anfang der 1970er-Jahre durch die Parteireformen und den Namenswechsel einen «endogen induzierten Wandel» zu einer christlichdemokratischen Partei vollzogen hätten.11 Diese Feststellung stimmt. Als Historiker betone ich im Unterschied zu Frey stärker das historische Kontinuum. Die Wurzeln der CVP reichen weit ins 19. Jahrhundert zurück und weisen eine klare programmatische, organisatorische und personelle Kontinuität auf. Faktisch besteht die Fraktion seit der Einführung der neuen Bundesverfassung von 1848, als Organisation mit einem ausformulierten Programm seit 1882/83. National bildeten die Katholisch-Konservativen schon 1874 einen lose organisierten Referendums- und Wahlverein unter der Leitung der Fraktion. Obwohl eine kontinuierliche Parteiorganisation mit jährlichem Parteitag erst seit 1912 existiert, bezeichne ich die Daten von 1874, 1878, 1881 und 1894 als Meilensteine auf dem Weg zur Landespartei. Vor allem vom Jahr 1894 ging der eigentliche Anstoss zur Gründung aus, da sich im gleichen Jahr auch die Freisinnigen zur FDP zusammenschlossen.

2. Cleavages: Kulturkämpfe als Grundkonflikt. In seiner vergleichenden Studie zur europäischen Christdemokratie nach 1945 weist Timotheos Frey den Christlichdemokraten einen eigenen Parteityp zu, der sich von den religiösen und konservativen Parteien unterscheide. Mit einiger Plausibilität kann man für Europa den Begriff «Christdemokratie» exklusiv für die Zeit nach 1945 verwenden. Für das stabile Parteiensystem der Schweiz ist freilich eine andere Typologie hilfreich, die die «longue durée» stärker hervorhebt. Daher war ich stets der Meinung, dass die katholisch-konservativen Vorgängerinnen der CVP im 19. Jahrhundert aus «strukturellen Konflikten» religiöser und politischer Natur entstanden sind, die als «Kulturkämpfe» in die neuere Schweizer Geschichte eingingen.12

3. Katholisches Milieu: Seit dem 19. Jahrhundert machten die Christlichdemokraten Häutungen durch. Bis in die 1950er-Jahre waren die Vorgängerinnen der CVP katholische «Milieuparteien», die in einer katholischen «Sondergesellschaft» verankert waren. In der schweizerischen Partei besassen die Laien die Führung, der Klerus spielte eine untergeordnete Rolle, was mit den demokratischen Traditionen des Landes zu erklären ist. Insofern war die Schweizer Partei laikaler (nicht laizistischer) als ihre katholischen Schwesternparteien in Europa, in denen Prälatenpolitiker zur Regel gehörten. Da der Kulturkampf als Integrations- und Mobilisationsfaktor seit den 1880er-Jahren abflaute, fokussierte sich das konfessionelle Hauptpostulat auf die Abschaffung der kulturkämpferischen Ausnahmeartikel gegen Jesuiten und Klöster. Mit der fortschreitenden Integration der kirchentreuen Katholiken in den Bundesstaat verlor der konfessionspolitische Gründungsimpuls seine Schub- und Inklusionskraft. Zur Erinnerung sei erwähnt, dass die diskriminierenden Ausnahmeartikel erst 1973 abgeschafft wurden. Bis in die 1950er-Jahre war die Partei in das «katholische Milieu» eingebunden, dessen Zerfall nach 1970 ihr im Vorhof der Politik wichtige Hilfsorganisationen entzog.

 

4. Politische Programmatik. Wie schon der Name «katholisch-konservativ» belegt, bestand die Identität der CVP schon im 19. Jahrhundert aus politischen Programmpunkten. Bereits im 19. Jahrhundert verstand sich die Partei als politische Partei, die jenseits der Kirchenpolitik ein politisches Programm besass und das «Gemeinwohl» ins Zentrum stellte. Allerdings teilte die Partei mit den Gruppierungen konservativer Observanz die ständige Suche nach den Fundamenten des Konservativismus, was zu Flügelkämpfen führte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand der Kampf für den Föderalismus, in der Zwischenkriegszeit der Kampf gegen den Staatssozialismus und Kommunismus und nach 1945 der Weg zum sozialen Wohlfahrtsstaat im Vordergrund.

5. Solidarität, Subsidiarität und soziale Marktwirtschaft als Grundpfeiler. Im Zeichen des «christlichen Solidarismus» (so lautete das frühere Schlagwort) suchten die Vorgängerparteien einen dritten Weg zwischen dem «individualistischen Liberalismus» und dem «kollektivistischen Sozialismus», einen Weg, der die Gemeinschaft, wie zum Beispiel die Ehe und Familie, oder den solidarischen Ausgleich gegen den Klassenkampf betonte. Jahrzehntelang sprach die Partei ohne konkrete Vorstellungen von der «berufsständischen Ordnung», nach 1945 von der «sozialen Marktwirtschaft», sie meinte aber immer den sozialen Ausgleich der «Stände» und Schichten.13

6. Ausgleich und Mediation als Funktionen. Mit Recht betonen die beiden Politikwissenschaftler Timotheos Frey und Ludwig Zurbriggen die «Mediations»-Funktion der Christlichdemokraten in der Politik und bezeichnen diese als Grundelement ihrer Politik. Zu beachten ist, dass das, was in politologischer Sprache als «Mediation» bezeichnet wird, früher Ausgleich, Kompromiss oder Konkordanz hiess. Schon am Fraktionsjubiläum von 1983 sprach ich in meiner Ansprache vom langen Weg von der Opposition zum «Scharnier» in der Zauberformel-Regierung und meinte diese Mediationspolitik. Insofern war es eine logische Strategie, dass die CVP als Regierungspartei eine Brückenfunktion zwischen linker Sozialdemokratie und rechtem Wirtschaftsfreisinn einnehmen konnte und zum Architekt und Amalgam der Zauberformel-Regierung wurde.

7. Heterogene Sozialstruktur mit Parteiflügeln: Da die Partei von Anfang an eine sozial heterogene Volkspartei darstellte, gehörten Richtungs- und Flügelkämpfe zur Wirklichkeit der CVP. Es änderten sich im Verlauf der Jahrzehnte nur die Konstellationen. Bis zum Ersten Weltkrieg beherrschte der Gegensatz zwischen den Stammlanden und der Diaspora die Partei,14 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschwerte der Konflikt zwischen Konservativen und Christlichsozialen die Geschlossenheit, und im letzten Drittel des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominiert der Konflikt zwischen den Anhängern in den urbanen Agglomerationen und jenen in der Landschaft der alpinen und voralpinen Regionen die CVP. Die Partei versucht, diese Flügelkämpfe durch Mechanismen der Konfliktregelung zu dämpfen und zu kanalisieren.

8. Das konfessionelle Dilemma mit dem C. Seit dem 19. Jahrhundert versuchte die Partei in der konfessionell fragmentierten Schweiz den konfessionellen Graben zu überschreiten und Protestanten als Wähler zu gewinnen. Obwohl sie im 20. Jahrhundert Schritt für Schritt die institutionellen und ideologischen Verbindungen mit der Kirche und dem Katholizismus als Sozialform lockerte und 1970 endgültig aufgab, blieb sie bislang im katholischen «Ghetto» stecken.

9. Zwei Pole. In ihrer langen Geschichte wiesen die CVP und ihre Vorgängerparteien zwei mit sich streitende Pole in wechselnder Konstellation und mit wechselnden Schwerpunkten auf. Erstens war die Partei eine katholisch-konfessionelle Partei, solange sie den Kulturkampf und seine Relikte wie die Ausnahmeartikel bekämpfte und die soziale Minderheitenstellung der Katholiken durch die Gleichberechtigungspostulate aufheben wollte. Zweitens war die Partei eine politische, denn sie vertrat stets staats- und gesellschaftspolitische Themen wie Föderalismus, Familie, soziale Marktwirtschaft und so weiter. Bis zur leichten Linksöffnung in den 1950er-Jahren steuerte sie einen stramm antisozialistischen, später bis 1989 einen antikommunistischen Kurs. Im Verlauf der 80er-Jahre machte sie eine Rechtswende hin zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsvorstellungen, kombiniert mit einem Wertekonservativismus, durch.15

10. Christlich-demokratisch. Schon im 19. Jahrhundert war die CVP «christlichdemokratisch» avant la lettre, da sie die Demokratie als Staatsform grundsätzlich nie in Frage stellte und eine Partei von Staatsbürgern war, die zwar den weltanschaulichen Orientierungsanspruch der katholischen Kirche anerkannte, in der Praxis aber oft einen autonomen Kurs einschlug. Priesterpolitiker wie in Österreich oder Deutschland gab es in der Schweiz nicht, denn sie hatten eher die Rolle von Intellektuellen inne. Als christlichdemokratische Partei wollte sie schon um 1900 die konfessionellen Schranken überwinden, was ihr wegen der unterschiedlichen Konfessionskulturen in der Schweiz bisher nur ansatzweise gelang.

1.2 VON DER HINTERBANK IM PARLAMENT ZUM SCHARNIER IN DER ZAUBERFORMEL-REGIERUNG

Der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 ging eine rund 50-jährige Periode von Revolutionen und Gegenrevolutionen voraus.1 Verfassungsänderungen und Regierungsstürze, Putschs und Staatsstreiche, Volksaufstände und Befreiungsbewegungen, kurz politische Gewalt beherrschten vorab in den 1840er-Jahren die eidgenössische Politik. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. 1839 erregte die Wahl eines liberalen Theologieprofessors an die Zürcher Universität das fromme reformiertkonservative Landvolk so sehr, dass daraus eine Volksbewegung entstand, die zum Sturz der freisinnigen Zürcher Regierung führte. 1845 fiel im Kanton Luzern der konservative Bauernführer Josef Leu von Ebersoll einem politischen Attentat zum Opfer.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Radikal-Liberalen und den Katholisch-Konservativen (so lauteten die zeitgenössischen Parteibezeichnungen) erreichten Mitte der 1840er-Jahre einen ersten Höhepunkt. Als Gegenaktion auf die Berufung der Jesuiten nach Luzern organisierten die Radikalen zwei interkantonale Befreiungsbewegungen zum Sturz des ultramontan-katholischen Luzerner Regimes. Zum Schutz gegen die Freischarenzüge bildete sich 1845 der «Sonderbund» der sieben katholisch-konservativen Kantone Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Schwyz, Zug, Ob- und Nidwalden. Die Schweiz spaltete sich faktisch in zwei Teile auf. Im Spätherbst des Jahres 1847 löste die radikal-liberale Bundesmehrheit in einem Bürgerkrieg den Sonderbund mit Waffengewalt auf. Der Weg zur Gründung des modernen Bundesstaats war frei.

1848–1874: «Bürger zweiter Klasse» im neuen Bundesstaat

Die freisinnige Siegerpartei errichtete aus Furcht vor einer konservativen Restauration ein Ausschliesslichkeitsregime, in dem für die Verlierer des Bürgerkriegs kein Platz war. Als Vaterlandsfeinde und Sonderbündler verfemt und als ultramontane und jesuitische Reaktionäre verachtet, wurden die Katholisch-Konservativen aus der freisinnig-eidgenössischen Gemeinschaft des neuen Bundesstaats ausgeschlossen.

Die Lage der katholisch-konservativen Partei war in den Kantonen nicht besser als im Bund. Mit Hilfe des eidgenössischen Militärs und der kantonalen Marionetten der Sieger von 1847 hatten sich in den Sonderbundskantonen freisinnige Willkürherrschaften installiert. Nur gerade die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden liessen sich nicht völlig gleichschalten.

Vor diesem Hintergrund versteht man, dass die katholisch-konservative Opposition in der Anfangszeit im Parlament des Bundesstaats ein Hinterbänkler- und Aschenbrödeldasein fristete. Auf Bundesebene war sie eine diskriminierte und exkommunizierte Minderheit, eine machtlose und vielfach rechtlose Opposition, die froh sein durfte, dass sie von der freisinnigen Staatspartei nicht noch mehr schikaniert wurde. Die katholisch-konservative Opposition marschierte im Bundesstaat neben der Entwicklung her, die sie kaum beeinflussen konnte. Vom Luzerner National- und Regierungsrat Philipp Anton von Segesser stammt das Wort: «Für mich hat die Schweiz nur Interesse, weil der Canton Luzern – dieser ist mein Vaterland – in ihr liegt. Existirt der Canton Luzern nicht mehr als freies, souveränes Glied in der Eidgenossenschaft, so ist mir dieselbe so gleichgültig als die grosse oder kleine Tartarey.»2

Notgedrungen zogen sich die Katholisch-Konservativen vor dem Zugriff der radikalen Alleinherrschaft in jene Bereiche der Gesellschaft zurück, wo der Freisinn an seine Grenzen stiess: in die Kantone und in die Kirche. So machten sich die Katholisch-Konservativen unmittelbar nach 1848 an die Rückeroberung ihrer «Stammland»-Kantone. Bereits 1850 kam es in Zug zu einem Regierungswechsel, 1856 folgte Freiburg und 1857 das Wallis. Zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten die Katholisch-Konservativen mit Ausnahme von Luzern alle Sonderbundskantone wieder fest in der Hand. Der Umschwung in Luzern erfolgte 1871 im Zeichen des aufkommenden Kulturkampfes.

Über das Gebiet des früheren Sonderbundes kam die katholisch-konservative Rückeroberung nicht hinaus. Kein reformierter Kanton wechselte das Lager. Das konservative Regime in Bern von 1850 bis 1854 blieb Episode. Auf die Dauer gesehen bedeutete der Ausfall Berns den Verlust der protestantischen Variante im politischen Konservativismus.

Die starre Ausschliesslichkeitspolitik der freisinnigen Gründungsväter milderte sich erst, als sich der Bundesstaat über die kritischen Anfangsjahre hinweg konsolidiert hatte. Der Aufbau des modernen Industriestaats mit Eisenbahnen und Fabriken zwang die ehemaligen Bürgerkriegsgegner zur Zusammenarbeit auf politischer und wirtschaftlicher Ebene.

Die weltanschaulichen Konflikte traten hinter die praktischen Fragen des politischen Alltags zurück. Noch waren die Katholisch-Konservativen strikt von den eidgenössischen Regierungspfründen ausgeschlossen, doch die Alltagspolitik begann sie in den bestehenden Bundesstaat zu integrieren. Sie verstanden sich mehr und mehr als loyale Opposition und wollten auch als solche vom Freisinn behandelt werden. Die Wunden des Bürgerkriegs schienen in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre allmählich zu vernarben. Da brachen die alten Gegensätze Anfang der 1870er-Jahre mit der unheilvollen Verquickung von Bundesrevision und Kulturkampf neu auf.

1874–1891: Fundamentalopposition gegen das freisinnige «System»

Das Jahr 1874 bildete mit der Totalrevision der Bundesverfassung eine wichtige Zäsur in der eidgenössischen Politik. Unter Ausnützung der Kulturkampfstimmung gelang es der freisinnigen Regierungspartei, die Katholisch-Konservativen zu isolieren und damit das Revisionsprojekt im zweiten Anlauf durchzubringen.

In der Rückschau gesehen erwies sich der kulturkämpferische Antikatholizismus des Freisinns als Bumerang. Der Kampf des antiklerikalen Freisinns mobilisierte die Massen des kirchentreuen katholischen Volksteils. Wie nie zuvor wurden die katholische Kirche und ihre Vereine zu einem Rückzugsgebiet und Aufmarschfeld gegen den freisinnigen Zeitgeist und seine Partei. Der politische Konservativismus nahm nun endgültig konfessionelle Züge an. Die konservativen Katholiken zogen sich in eine katholische Sondergesellschaft zurück, in der sie sich heimisch einrichteten und zum Kampf gegen den Radikalismus antraten. Um Zeitungen, Vereine und Parteien begannen sie die katholisch-konservative Volksbewegung auf breiter Front aufzubauen. Im Jahr 1871 begannen in Luzern das «Vaterland» und in Freiburg «La Liberté» als Zentralorgane der katholischen Schweiz zu erscheinen.

Der Kulturkampf hatte zur Folge, dass sich der politische Katholizismus konsolidieren konnte. Er vermochte seine Positionen in den Stammlandkantonen zu soliden Bastionen auszubauen und in den Kantonen ausserhalb des alten Sonderbundes Fuss zu fassen. So erzwangen sich die Katholisch-Konservativen zunächst in St. Gallen und im Tessin den Eintritt in die Kantonsregierung. In den 1880er- und 90er-Jahren folgten die Kantone Aargau, Glarus, Solothurn, Graubünden und Thurgau nach.

Ein weiterer Aspekt kam hinzu. Hatte die katholisch-konservative Opposition in den Eidgenössischen Räten von 1848 bis 1874 eine unbedeutende und von der freisinnigen Staatspartei mehr oder weniger ignorierte Minderheit dargestellt, so wuchs sie nach 1874 dank des direktdemokratischen Referendums zu einem ernstzunehmenden Faktor in der eidgenössischen Politik heran. In zahlreichen Referendumsabstimmungen machte sie gegen das freisinnige Bundesregime erfolgreich Opposition und kompensierte damit ihre Aussenseiterrolle in Parlament und Regierung.

 

Unter der Fahne des Föderalismus scharte sie von Abstimmung zu Abstimmung eine wechselnde Koalition von unzufriedenen Kampfgenossen zusammen, deren Loyalität zum freisinnigen Bundesstaat bröckelte. Im Jahr 1884 schickte die konservative Protestbewegung ein ganzes Paket von vier verhältnismässig unbedeutenden Gesetzesvorlagen unter dem zügigen Slogan «vierhöckriges Kamel» bachab. «Weniger Staat» lautete die konservative Parole.

Die konservativen Referendumsstürme, die zwischen 1875 und 1884 obstruktionistische Züge angenommen hatten, brachten die freisinnige Regierung ins Wanken, die die bisherige personelle Ausschliesslichkeitspolitik aufgeben musste. 1873/74 präsidierte erstmals ein Katholisch-Konservativer den Ständerat, 1879 nahm zum ersten Mal ein Vertreter katholisch-konservativer Couleur Einsitz ins Bundesgericht. Im Jahr 1887 stieg ein katholisch-konservativer Politiker zum Präsidenten des Nationalrats und damit der Vereinigten Bundesversammlung auf.

Damit begann der lange Marsch der katholisch-konservativen Opposition zur Beteiligung an der Macht im Bundesstaat. Mitte der 1880er-Jahre verlor die Opposition ihren fundamentalisitischen Charakter. Im Programm von 1883 stellte sich die Fraktion auf den Boden der bestehenden Bundesordnung und signalisierte klar ihre Bereitschaft zu konstruktiver Mitarbeit. Die Mehrheit der Katholisch-Konservativen gab ihre Fundamentalopposition gegen den bestehenden Staat auf.

Damit war ein wichtiger Wendepunkt erreicht. Zwischen der freisinnigen Regierungspartei und der katholisch-konservativen Opposition begann sich auf der sachpolitischen Ebene ein Basiskonsens einzuspielen. Dieser Konsens entzog der radikalen Ausschliesslichkeitspolitik ihre Daseinsberechtigung. Der historische Kompromiss stand vor der Tür.

Doch wie im Drehbuch eines Dramas spitzte sich der Gegensatz vor der endgültigen Aussöhnung nochmals explosiv zu. Im September 1890 stürzte ein radikaler Putsch die konservative Regierung im Tessin. Damals wurde zum letzten Mal in der Geschichte des Bundesstaats ein amtierender Regierungsrat das Opfer eines politischen Attentats. Eidgenössische Truppen marschierten im Südkanton ein, stellten Ruhe und Ordnung her und liessen über eine Volksabstimmung den Regierungsproporz in der Verfassung verankern. Damit kehrte im Tessin nach jahrzehntelangen blutigen Parteikämpfen endlich Ruhe ein.

Man spürte es allenthalben: Die langsame Agonie der freisinnigen Hegemonie hatte eingesetzt. In einem letzten trotzigen Aufbäumen verwehrte die regierende Staatspartei im Jahr 1890 aus kulturkämpferischen Ressentiments heraus den Katholisch-Konservativen nochmals den Eintritt in die Landesregierung. Hartnäckig verteidigte sie ihre Monopolstellung. Der freisinnige Affront löste bei der oppositionellen Minderheit Verbitterung aus. Das deutschschweizerische Zentralorgan «Vaterland» schrieb: «Alle Minoritäten werden vergewaltigt.»3

1891–1943: Juniorpartner in der «Bürgerblock»-Regierung

Anfang der 1890er-Jahre wurde die Krise des freisinnigen Regierungssystems offenkundig. Wenn man verhindern wollte, dass das politische System der Schweiz völlig unregierbar wurde, musste die katholisch-konservative Opposition über kurz oder lang in die Landesregierung integriert werden.

1891 war es endlich so weit. Den Anstoss gab eine eidgenössische Staatskrise kleineren Ausmasses. Als eine Vorlage für die Verstaatlichung von Eisenbahnen vom Schweizer Volk verworfen wurde, trat der Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartementes 1891 gegen alle bisherigen Bräuche zurück. Damit offenbarte sich die Krise des bisherigen freisinnigen Ausschliesslichkeitsregimes vor aller Öffentlichkeit. Der Freisinn fing die Regierungskrise dadurch auf, dass er der katholisch-konservativen Opposition einen Platz in der Landesregierung anbot.

Mit dem Einzug des Luzerners Josef Zemp in den Bundesrat erlangten die Katholisch-Konservativen 1891 den Status einer regimentsfähigen Regierungspartei. Allerdings verstanden sie sich gleichzeitig weiterhin fallweise auch als Oppositionspartei, ein Begriff, der für sie «Kampf dem System» bedeutete, denn mit einem einzigen Bundesrat waren sie in der Landesregierung weit untervertreten. Als Volkspartei sahen sie sich als Gegensatz zur «Beamten- und Herrenpartei», lies: zur «classe politique».

Um die Jahrhundertwende von 1900 liess der Druck des aufkommenden Sozialismus die bisherigen Protagonisten zu einer bürgerlich-konservativen Sammlungsbewegung zusammenrücken. Dabei behielt der Freisinn nach wie vor das Zepter der Macht fest in der Hand – dank der absoluten Mehrheit im Parlament und im Bundesrat. Die konservativen Katholiken blieben auch fortan das, was sie bisher waren, Eidgenossen zweiter Klasse, die von den Gnadenerweisen der freisinnigen Mehrheitspartei abhängig waren. Im Gegensatz zu den ersten Jahrzehnten des Bundesstaats hatten sie nun aber das Stigma von Sonderbündlern verloren und konnten sich als gute Patrioten präsentieren.

Damit das Parteivolk beieinander blieb, liess man die weltanschaulichen Gegensätze weiter bestehen. So behielt der Konfessionalismus beiderseits seine Funktion, denn er hielt die Massen zusammen und ermöglichte es, diese bei Bedarf zu mobilisieren.

Der Landesstreik, den die sozialistische Linke 1918 ausrief, schuf eine bürgerkriegsähnliche Lage. Nun formte sich der «Bürgerblock» endgültig heraus. In der kritischen Stunde von 1918 legten die konservativen Katholiken den Beweis ihrer Staatstreue ab und stellten sich auf die Seite des von ihnen jahrelang bekämpften freisinnigen Staats. Damit stärkten sie ihre Stellung in der antisozialistischen Bürgerblock-Regierung.

Für das reale politische Gewicht war ausserdem wichtig, dass die 1919 erstmals durchgeführten Proporzwahlen der bisherigen freisinnigen Vorherrschaft in den eidgenössischen Räten ein Ende setzten. Der Freisinn verlor die absolute Mehrheit und war nunmehr auf bürgerliche Koalitionspartner angewiesen. Aus diesem Grund baute er die Zusammenarbeit mit den Katholiken aus und gestand ihnen 1919 einen zweiten Sitz im Bundesrat zu. Die Katholisch-Konservativen stiegen zum Juniorpartner in der freisinnig dominierten Landesregierung auf.

1929 nahm auch die agrarische Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) Einsitz in den Bundesrat. Damit hatte sich der antisozialistische Bürgerblock zwischen Freisinn, politischem Katholizismus und reformiertem Bauerntum formiert. Ein Bürgerblock, der die Schweiz der Zwischenkriegszeit im Zeichen eines mehr oder weniger militanten Antisozialismus regierte.

Den Ton in der Bundespolitik gab weiterhin der Freisinn an. Er besass im Bundesrat immer noch die absolute Mehrheit. Die grössere Regierungsverantwortung integrierte die Katholiken unter der Führung des legendären Fraktionspräsidenten Heinrich Walther stärker denn je in den bestehenden Bundesstaat. Aus Angst, die schwer erkämpfte Stellung im helvetischen Machtkartell wieder zu verlieren, benahmen sie sich oft antisozialistischer als der bürgerliche Freisinn, nationaler als die freisinnige Staatspartei.

Auch auf kantonaler Ebene konnten die Katholiken ihre Stellungen ausbauen. Nach dem Ersten Weltkrieg stiessen sie in die Regierungen von Diasporakantonen vor, so in Genf und in Basel-Stadt, etwas später, in der Mitte der 30er-Jahre, auch in Basel-Landschaft.