Licht zwischen den Bäumen

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Marie blickte von ihrem Buch auf. »Geh nach oben, Ellen. Nimm zwei von den Baby-Aspirin aus dem Medizinschrank. Aus dem Fläschchen mit dem rosa Deckel.«

Ellen stand auf und schleppte sich langsam die Treppe hoch; sie nahm immer nur eine Stufe auf einmal und hielt sich am Geländer fest.

Ich blieb im Wohnzimmer bei Beatrice und Marie sitzen, die beide in ihre Bücher vertieft waren. Die Bäume draußen spiegelten sich in dem cremeweißen Kachelboden, sodass es aussah, als wäre er ständig in Bewegung, die schaukelnden Zweige sorgten für einen raschen Wechsel von Licht und Schatten. Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen.

»Ich geh schon«, sagte ich, obwohl sich sonst niemand gerührt hatte. Es war Sage.

»Charlotte fährt mich in ein paar Minuten zur Arbeit, aber vorher muss ich dir noch was erzählen.«

Ich ging mit dem Telefon in die Waschküche, damit die anderen mich nicht hören konnten. »Was denn?«

»Gestern Abend, oben am Turm, hat Abbey erzählt, Wilson wäre da gewesen, um ein paar Jungs zusammenzutrommeln – sie sollten ihm versprechen, irgendeinen Perversen mit ihm zu vermöbeln. Und dieser Typ, den sie sich vorknöpfen wollen, soll ein kleines Mädchen vom Berg angegriffen haben.«

Ich ließ mich auf den Stapel Schmutzwäsche sinken, der vor der Waschmaschine auf dem Boden lag.

»Großer Gott!«

»Du sagst es.«

»Hat er erzählt, dass wir es sind? Wusste Abbey, dass es um Ellen geht?«

»Ich glaube nicht. Das hätte sie mir gesagt.«

»Und haben sie’s gemacht?«

»Nein. Also, zumindest nicht gestern. Wilson meinte, er sei noch auf der Suche nach dem Typen. Aber er wollte schon mal wissen, ob sie ihm helfen. Dafür hat er ihnen ein paar Tütchen Gras gegeben und für danach einen Kasten Bier versprochen.«

»Warum macht er das?«

»Keine Ahnung. Aber er wird den Kerl sicher eh nicht finden.«

Mein Mund war so trocken, dass die Worte darin hängen blieben. »Wieso kann er uns nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Erzählt es eurer Mutter, Libby.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

Als ich mich hochrappelte, um den Hörer wieder aufzulegen, sah ich, dass ich auf Ellens schmutziger Schuluniform gesessen hatte, die voller Schlamm, Blut und Rollsplitt war. Sie hatte sie einfach dorthin geworfen. Die ganze Sache lief aus dem Ruder. Ich warf die Kleider in die Waschmaschine, stellte den Vollwaschgang ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lasen die anderen immer noch und ahnten nichts von dem Unheil, das uns drohte.

Ich nahm mir vor, Marie später davon zu erzählen, damit sie Wilson zurückpfiff und er uns endlich wieder in Ruhe ließ. Jetzt rollte ich mich neben Beatrice auf dem Sofa zusammen und zog die Knie an die Brust. Ich lag da, spürte den Drillichbezug an der Wange, betrachtete die Muster auf dem Fußboden. Versuchte, ruhiger zu atmen. Als Dad schon nicht mehr bei uns wohnte, hatte er einmal fast eine Woche auf diesem Sofa verbracht, weil er sehr krank war. Es ließ sich ausziehen, und wir hatten ihm mit Laken und Decken ein Bett zurechtgemacht. Mom hatte einen Arzt gerufen. In diesen Tagen fühlte sich alles plötzlich wieder richtig an, Mom, die auf dem Rand des Bettsofas saß, ihm das Fieberthermometer unter die Zunge schob und ihm kühle Kompressen auf die Stirn legte, wir alle, die wir uns um ihn kümmerten. Auch wenn ich wusste, dass es nur eine Illusion war.

Im Lauf der Woche, als es ihm wieder besser ging und er sich aufsetzen konnte, hatten wir uns alle um ihn herum gekuschelt, und er hatte uns vorgelesen. Selbst Thomas, der Dad gegenüber oft sehr befangen war, hatte sich an den Rand gelegt. Dad konnte ganze Passagen von Goldsmiths Gedicht »Das verödete Dorf« auswendig. Oft zitierte er diese Zeilen – »Wo Menschen sinken und wo Reichtum steigt!« –, wenn wir wieder einmal vom Reichsein redeten, vom großartigen Haus oder der großartigen Arbeitsstelle irgendeines anderen Vaters. In dieser Woche, als er krank war, las er uns »Das Lied des irrenden Aengus« vor, ein Gedicht von William Butler Yeats, das er liebte. Wir fünf lagen mit ihm auf dem Ausziehbett, als wäre es ein Boot, auf dem wir alle Schutz suchten, während das Meer um uns tobte. Bei der letzten Strophe klang seine Stimme ganz anders, als würden ihn die Verse immer wieder anrühren. Ich sah vor mir, was die Wörter beschrieben, das »hohe, gesprenkelte Gras«, das Silber und das Gold. Ich hatte mir die Strophe auf die erste Seite meines Baumbuchs geschrieben. Jedes Mal, wenn ich an die Zeilen dachte, sah ich Dad auf einer sonnengoldenen Wiese vor mir, wie er durch das hohe Gras ging, immer auf der Suche.

»Nicht mal eine Totenwache haben sie uns halten lassen«, hatte Tante Rosie geklagt, und der Schmerz darin zeigte mir, dass wir einen furchtbaren Fehler begangen hatten, einen, den wir nie wieder gutmachen konnten. Und wieder wünschte ich mir, wie schon so viele hundert Male vorher, ich hätte in dem Moment bei ihm sein können, als er starb, allein und weit weg von uns, und ihm etwas sagen können, um ihm klarzumachen, dass er geliebt wurde, auch wenn wir in unserer Familie nie über so etwas sprachen.

Eine Wolke wanderte über den Wohnzimmerboden, und der Raum verdunkelte sich. Ich sah auf. Marie las immer noch, Beatrice hatte sich mit dem Buch auf den Knien zurückgelehnt.

»Ist das gut?«, fragte ich sie.

Sie bewegte den Kopf langsam auf und ab, ohne die Augen von der Seite abzuwenden. Ich schaute zum Fenster. Der Wald sah nach Regen aus.

7

Am Freitagmorgen erwachte ich von einem Rasenmäher draußen, ein Geräusch, das nach Ordnung in der Welt klang, nach Erwachsenen, die sich um alles kümmern. Seit unserer abendlichen Autofahrt war eine ganze Woche vergangen. Mom hatte gearbeitet, und Marie und Ellen waren die meiste Zeit in unserem Zimmer geblieben; Ellen ruhte sich aus, Marie sortierte ihre Sachen und behielt Ellen im Auge. Das Knattern des Motors kam näher und entfernte sich wieder, und die Sonne stand jetzt so hoch, dass sie die Zimmerwand neben mir beschien. Ich konnte das frisch gemähte Gras förmlich riechen. Der Rasenmäherlärm schwoll an, dann hörte ich es rumpeln, als die Messer auf einen Stein stießen. Direkt unter unserem Zimmerfenster. Ich setzte mich auf. Jemand mähte unseren Rasen. Einen Moment lang freute ich mich. Ich kletterte über die schlafende Ellen auf dem Bett unter mir hinweg und schaute aus dem Fenster. Ich sah die Schneise, die der Rasenmäher von hier bis zum Ende der Auffahrt gezogen hatte, wo jetzt die Quarzsteine wieder richtig sichtbar waren. Ich dachte, unsere Mutter müsste wohl etwas organisiert haben.

Unten in der Küche hockte Thomas am Tisch vor seinem Müsli. Er hatte die breiten Schultern eines Schwimmers und sah älter als sechzehn aus. Seit einem Jahr rasierte er sich. Beim ersten Mal hatten wir alle um das Waschbecken herumgestanden und ihm zugeschaut, während Marie ihn anleitete.

»Scheiße noch mal, Libby. Warst du das?«

»Was denn?«

»GI Joe da draußen.« Thomas schob die Müslischüssel weg. »Das ist so ein fieser Typ. Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich mir den Rasenmäher von den Griffiths ausleihe und irgendwie herschaffe. Konntest du nicht einfach warten?«

Ich ging zur Haustür und schaute genau in dem Moment nach draußen, als Wilson McVay mit dem Rasenmäher vorbeikam. Er trug Jeans, das weiße T-Shirt hatte er ausgezogen und es sich um die Schultern gebunden. Er sah aus wie einer von den Männern aus der Levi’s-Werbung, kantig und schön. Nur, dass es eben Wilson war. Auf dem Rückweg winkte er mir zu, grinste, und mir wurde regelrecht übel. Ich ging in die Küche zurück.

»Ich habe damit nichts zu tun. Ist Mom schon bei der Arbeit? Weiß sie es?«

Aber Thomas knallte nur die Plastikschüssel und den Löffel in die Spüle und stürmte die Treppe hoch.

Ich rannte in Beatrices Zimmer, weil man aus ihrem Fenster die Auffahrt sehen konnte. Dort stand Mr McVays Buick mit offenem Kofferraum, daneben ein Benzinkanister. An der Beifahrertür lehnte ein Rechen.

Ich kehrte in unser Zimmer zurück.

»Marie, Marie, aufwachen!« Ich schüttelte sie.

»Was? Scheiße, wie spät ist es?« Marie rollte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und gähnte. »Was ist denn?«

»Hast du Wilson McVay gebeten, unseren Rasen zu mähen?«

»Nein. Wieso?«

Der Rasenmäherlärm kam wieder näher, und Marie rappelte sich richtig auf und lehnte sich an die Wand.

»Wow! Wilson mäht unseren Rasen?«

»Ja. Er ist hier, und der Buick von seinem Vater steht in der Auffahrt. Hat er gewartet, bis Mom arbeiten ist? Beobachtet er uns vielleicht oder was? Thomas ist stinksauer. Er wollte einen Rasenmäher leihen gehen.«

»Was ist denn dabei, wenn er den Rasen mäht?« Ellen hatte sich auf dem Ausziehbett aufgerichtet, ihr dünnes Haar war vom Schlafen ganz platt und zerzaust. »Ist doch nett von ihm. Thomas sollte dankbar sein. Jetzt muss er das nicht mehr machen.«

»Sorg dafür, dass er wieder geht, Marie. Bitte. Sorg dafür, dass er wieder geht.«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Rausgehen und sagen: ›Wie kannst du es wagen, für uns da zu sein, wenn wir mitten in der Nacht Hilfe brauchen, und dann auch noch netterweise unseren Rasen mähen?‹ Er denkt doch offensichtlich, dass er uns was Gutes tut.«

»Tut er ja auch«, sagte Ellen.

Ich hatte Marie immer noch nicht erzählt, was Wilson vorhatte. Vielleicht wusste sie es ja. »Marie, sag ihm einfach, er soll uns in Ruhe lassen. Jetzt gleich. Sag ihm, er soll einfach gehen. Thomas wollte den Rasen mähen.«

»Was machst du denn so ein Drama daraus?«, sagte Marie. »Thomas kann das nächste Mal mähen, dann ist die richtig schwere Arbeit schon getan.« Sie stand auf, trat ans Fenster und schaute nach draußen. »Außerdem sieht der Rasen sowieso beschissen aus. Alles ganz gelb.«

 

»Bitte, Marie. Ich will ihn nicht hier haben. Er macht mir Angst.«

Die Hintertür knallte zu.

»Tja, Abgang Thomas«, sagte Marie. Wir standen jetzt zu dritt am Fenster und sahen zu, wie Thomas die Auffahrt entlangstapfte. Er trat fest auf, straffte dabei die Schultern und blickte stur geradeaus, als er an Wilson vorbeiging. Wilson winkte ihm zu, aber Thomas beachtete ihn gar nicht und ging einfach weiter. Wilson störte das nicht. Es sah fast aus, als würde er singen.

Marie und Ellen machten Eistee und gingen mit ein paar Gläsern auf die Auffahrt hinaus, als Wilson fertig war. Als wir noch mit Dad Rasenmähen gingen, hatten manche Hausbesitzer uns auch kalte Getränke nach draußen gebracht.

Durch Beatrices Zimmerfenster beobachtete ich die drei. Ellen schmachtete ihn an, als wäre er ihr Held, und Marie brachte ihn zum Lachen. Am liebsten hätte ich aus dem Fenster gerufen, er solle doch gefälligst sein T-Shirt wieder anziehen, das sei vulgär, und alle Nachbarn könnten ihn sehen. Ich wollte hinausschreien: »Verschwinde und misch dich nicht ständig ein!«

Später, als er schon lange weg war, ging ich nach draußen, setzte mich auf die Veranda und musterte den Rasen. Wilson hatte gut gearbeitet: Die Ränder waren akkurat geschnitten, und er hatte sogar zwei Mal gemäht, so dass ein Muster aus diagonalen Bahnen entstanden war. Das Gras war immer noch gelb, aber hier und da war jetzt ein schmaler Streifen Grün zu sehen. In den Duft nach frisch gemähtem Gras mischte sich etwas Benzingeruch.

Thomas und ich hatten Dad am häufigsten geholfen. Marie war eher eine Zimmerlinde, und Ellen war noch zu klein gewesen. Ich überlegte, ob unsere Geräte wohl noch in der Bronx lagerten oder ob Dads Cousin sie vielleicht verkauft hatte. Es waren unsere. Ich wusste noch genau, wo jedes einzelne gekauft worden war, welchen Rasen wir mit welchem Mäher geschnitten hatten. Ich wusste, wie man sie reinigte, wie man sie am besten auf den Pickup lud und wieder herunter bekam. Ein Kloß saß mir im Hals. Ich atmete noch einmal tief ein – Benzin, gemähtes Gras, Sommerhitze. Die Vergangenheit. Thomas war noch nicht wieder zurück. Letzten Sommer war er von Tür zu Tür gegangen, um irgendwo einen Rasenmäher zu leihen. Wilson hatte einfach nur den Autoschlüssel seines Vaters genommen und das Gerät in den Kofferraum geladen. Was sollten wir Mom erzählen? Ich blieb draußen sitzen, bis ich den ersten Leuchtkäfer sah.

Am Abend bei den Bouchers machte Peter mir auf. »Libby!«, rief er, griff nach meiner Hand und zog mich über die Schwelle.

»Na, Sir Peter Hase, wie läuft das Hasen-Gangster-Leben? Futtern Sie viele geklaute Kohlköpfe und Karotten?«

Peter lachte und rannte in der Küche herum. »Peng-peng! Das ist ein Überfall! Gebt mir euren ganzen Salat!«

»Hallo, Libby.« Mrs Boucher kam in die Küche, während sie noch einen Ohrring befestigte. Sie duftete nach Zitrone.

»Hallo, Mrs Boucher« – und noch während ich es sagte, sah ich auf der Küchenablage gefaltet die braunen Handtücher, die wir letzte Woche benutzt hatten. Nachdem Wilson mit Ellen weggefahren war, hatte ich sie in Mrs Bouchers Waschmaschine gestopft, aber vergessen, sie hinterher wieder herauszunehmen. Mit heißem Gesicht schaute ich zu den Handtüchern und dann zu Mrs Boucher, die mich musterte.

»War letzte Woche alles in Ordnung, Libby? Das wollte ich dich noch fragen.«

Ich wollte schon eine Ausrede erfinden, irgendwas von einer umgekippten Kaffeetasse und dass ich die braunen Handtücher genommen hätte, um das Geschirrtuch nicht schmutzig zu machen, aber ich wusste, das würde nicht ehrlich klingen.

»Hände hoch, Libby!«, rief Peter. Ich hob die Hände, als würde ich mich ergeben. Und beschloss, es ihr zu sagen.

»Ellen hatte letzten Freitag einen Unfall und ist danach hierhergekommen. Es tut mir wirklich leid, ich hätte Ihnen das sagen sollen. Sonst habe ich nie jemanden ins Haus gelassen, wenn Sie nicht da waren.« Ich hörte das Zittern in meiner Stimme.

Wir setzten uns an Mrs Bouchers langen Esstisch. Ich erzählte ihr fast alles. Vom Kunstcamp, dem Rauswurf aus dem Auto, dem Trampen. Von dem Mann mit dem Camaro und den weißen Barbie-Haaren, dass Ellen aus dem Auto gesprungen und dann hierher zu Mrs Bouchers Haus gekommen war. Ich erzählte ihr nicht, dass der Mann Ellen ans Bein gefasst hatte, bis ganz nach oben. Ich drehte es so hin, als hätte sie einfach Angst bekommen und wäre aus dem Wagen gesprungen, als er gerade sehr langsam fuhr. Und ich sagte ihr auch nicht, dass Wilson gerade Leute zusammentrommelte, um den Kerl zu suchen und es ihm heimzuzahlen. Dafür erzählte ich ihr, dass Wilson McVay einfach aus dem Dunkeln aufgetaucht war, um Ellen abzuholen, dass ich nicht wusste, woher Marie ihn eigentlich kannte, und dass er sich seither viel bei uns herumtrieb. »Heute hat er sogar unseren Rasen gemäht.«

»Weiß eure Mutter, was mit Ellen passiert ist?«

»Nein, Mrs Boucher.« Ich schüttelte den Kopf. »Und Sie dürfen es ihr auch bitte nicht erzählen. Bitte.«

Sie drückte mir kurz den Arm. »Eure Mutter muss das wissen, Libby. Und Ellen sollte zum Arzt gehen.«

»Es geht ihr gut, ehrlich. Sie kommandiert schon wieder Beatrice herum und kabbelt sich mit Thomas. Sie ist ganz die Alte. Unsere Mutter würde sie nur bestrafen. Sie wissen doch, wie sie ist. Bitte.«

Mrs Boucher fuhr sich mit den Händen durchs Haar und sah mich an. »Ein Kind einfach allein am Straßenrand zurücklassen. Das ist entsetzlich.«

Ich betrachtete die Maserung des Tisches. Was immer ich tat, es machte alles nur noch schlimmer. »Bitte erzählen Sie niemandem davon. Ich schwöre Ihnen, es ist alles wieder gut.«

Ich hätte es ihr gar nicht erzählen dürfen. Anfang des Jahres, nachdem ich Sister Benedict erzählt hatte, dass unsere Mutter manchmal tagelang verschwand und nicht für uns kochte, hatten die Nonnen sie zum Gespräch gebeten. Hinterher war Mom fuchsteufelswild. Sister Benedict hatte von »Vernachlässigung« gesprochen. Sie hatte gesagt, sie habe ja Verständnis für das, was wir durchgemacht hätten, und sei voller Mitgefühl, aber sie sei auch in Sorge um unser Wohlergehen.

»Ist dir klar, was du getan hast, Libby?«, brüllte Mom mich an. Und die anderen, selbst Marie, hatten mich angeschaut, als wollte ich uns alle ruinieren. Ich hatte das Schweigegelübde gebrochen, an das wir uns in allen Dingen hielten, und das jetzt war ein weiterer Beleg dafür, dass uns allen Schlimmes drohte, wenn ich Geheimnisse an Fremde ausplauderte.

Mrs Boucher blieb einen Moment schweigend sitzen. Dann fragte sie: »Hat Ellen das Nummernschild des Wagens gesehen?«

»Nein.«

»Libby, du musst mir versprechen, dass du mich anrufst, wenn du den Eindruck hast, dass Ellen doch zum Arzt sollte oder wenn du sonstwie Hilfe brauchst. Du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Das weiß ich. Vielen Dank.«

»Und noch etwas. Du hast völlig recht damit, bei Wilson McVay vorsichtig zu sein. Er hat nichts bei euch im Haus verloren, wenn eure Mutter nicht da ist. Wie auch sonst niemand Fremdes.«

Mrs Boucher arbeitete beim Gericht, wahrscheinlich wusste sie also sehr viel mehr über Wilson als wir alle zusammen. »Ich muss jetzt los. Schließt du hinter mir ab?«

»So was kommt ganz bestimmt nicht noch mal vor, Mrs Boucher, versprochen.«

Ich sah den Rücklichtern des Volvo nach, wie sie zwischen den dunklen Bäumen aufblitzten, zur Straße hinauf, und dann verschwanden. Von hinten hörte ich die Titelmusik von Der unglaubliche Hulk.

»Libby, der Hulk, der Hulk!« Peter war schon ganz aufgeregt. Er stellte sich vor den Fernseher, während die Titelmusik lief, zog die Schultern hoch und breitete weit die Arme aus. »Ich bin der Hulk!«, rief er.

Es war die Folge »Aufruhr im Zoo«. Ich wusste, dass er Albträume davon bekommen würde. Er hatte den Hulk schon mal gesehen, als er bei seinen Großeltern übernachtet hatte; danach musste ich einen ganzen Monat lang jeden Freitag so lange bei ihm im Zimmer bleiben, bis er eingeschlafen war.

»Sie sind so unvernünftig«, schimpfte Mrs Boucher, als das mit den Albträumen anfing. »Genau deswegen will ich nicht, dass die Kinder bei ihnen schlafen, das habe ich auch ihrem Vater gesagt. Sie würden auch noch den Exorzisten mit den Jungs schauen. Ich bewundere deine Mutter dafür, dass sie keinen Fernseher hat.«

»Los, Peter. Wer schneller unten im Bad ist und sich die Zähne geputzt hat!«

Mrs Boucher hatte mir nie erzählt, wohin sie freitagabends ging. Ich hatte bis dahin nicht für allzu viele Familien als Babysitterin gearbeitet, aber die anderen hatten mir immer gesagt, wo sie hin wollten, und mir die Telefonnummer des Restaurants oder ihrer Freunde dagelassen. Mrs Boucher hatte mir nur eine Nummer für den Notfall gegeben, und das war die von Mr Boucher. Er lebte mit seiner zukünftigen Frau zusammen. Meine Mutter sagte immer, Mrs Boucher sei eine Intellektuelle und außerdem eine von diesen Feministinnen, und aus ihrem Mund hörte sich das an wie Schimpfwörter. Ich fragte mich, was in der Ehe der Bouchers wohl vorgefallen war. Sie waren geschieden, so wie meine Eltern auch, aber ansonsten waren sie in jeder Hinsicht ganz anders. Ich war Mr Boucher schon mehrmals begegnet. Einmal hatten Marie und ich ihn mit seiner Verlobten im Supermarkt in Philadelphia gesehen. Wir wollten uns ein paar Donuts holen und sahen zufällig, wie sie sich vor der Fischabteilung küssten, wo komplette Fische mit Kopf und allem Drum und Dran auf Eis lagen.

»Ach du meine Güte«, hatte Marie gesagt, »Barbie und Ken.« Er erinnerte tatsächlich an Ken. »Der sieht so was von künstlich aus. Am liebsten würde ich rüberlaufen und ihm die Haare verwuscheln.« Seine Verlobte, Angela, war genauso groß wie er. Ihr blondes Haar war so frisiert und gesträhnt wie das von Farrah Fawcett. Außerdem war sie auffallend braun und trug ein leuchtend oranges Kleid. Sie sah jung und dümmlich aus, vor allem im Vergleich zu Mrs Boucher, die klein und dunkelhaarig war, dabei aber viel geerdeter und eleganter wirkte als diese beiden zusammen.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Mrs Boucher sich mit einem Mann traf. Die letzten paar Monate hatte sie sich vor dem Ausgehen immer besonders sorgfältig zurechtgemacht. Wenn sie zurückkam, wirkte sie abwesend, und ein paar Mal hatte ich, wenn ich ins Auto stieg, um mich von ihr nach Hause fahren zu lassen, darin noch etwas anderes gerochen als Mrs Bouchers Zitronenduft – irgendein Rasierwasser. Es gab aber auch gewisse Hinweise, von denen ich Marie und Sage nichts erzählt hatte. In letzter Zeit leuchteten die Scheinwerfer des Volvo immer nur kurz in den Glaswänden auf, wenn er von der Straße einbog, und wurden dann ausgeschaltet. Der Wagen blieb stehen, manchmal eine ganze Stunde lang, dann gingen die Scheinwerfer wieder an, und der Wagen kroch die Einfahrt entlang bis zum Haus hinunter. Beim ersten Mal, als das passierte, war ich sehr erschrocken, fragte mich, wer da wohl im Auto saß und mich in dem hell erleuchteten, gläsernen Zimmer beobachtete. Ich blieb ganz still auf dem Sofa sitzen und wartete, bis sich der Wagen endlich wieder in Bewegung setzte. Und dann war es nur Mrs Boucher.

Wenn im Haus Licht brannte, konnte Mrs Boucher mich sehen, aber ich konnte draußen nichts erkennen. Ich überlegte, ob es wohl ein Test sein sollte, um herauszufinden, wie ich als Babysitterin war. Als es das nächste Mal passierte, stand ich auf, räumte ein bisschen herum, sah nach, ob die Spülmaschine fertig war, und betrachtete mich dabei von außen, als spielte ich vor einem Publikum oder in einem Film. Aber als der Volvo zum vierten Mal in die Zufahrt einbog und das Licht ausging, war ich mir einigermaßen sicher, dass Mrs Boucher nicht so viel Zeit damit verschwenden würde, mich zu beobachten. Ob sie wohl traurig war, ob es ihr schwerfiel, ins Haus zurückzukommen, so wie auch meine Mutter manchmal im Wagen sitzen blieb, wenn der schon in der Garage stand, als müsste sie sich dafür wappnen, uns allen wieder gegenüberzutreten?

Die letzten paar Wochen hatte ich den Fernseher immer stumm gestellt und gelauscht, und mir schien, als würde ich, kurz bevor die Scheinwerfer wieder angingen, eine Autotür schlagen hören. Saß da jemand mit Mrs Boucher im Auto? Einmal hatte sie mir erzählt, es mache ihr keine Angst, so tief im Wald in ihrem Baumhaus zu wohnen, es sei der intimste Ort der Welt. Ich wollte ihr nicht nachspionieren und hatte deshalb auch niemandem erzählt, was ich gesehen und gehört hatte.

 

Spät an dem Abend, als ich Mrs Boucher von Ellen erzählt hatte, stand ich gerade an der Spüle und drückte einen Teebeutel aus, als die Scheinwerfer wieder durch den Wald und über die Scheiben zuckten. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde mir flau im Magen, weil ich glaubte, es wäre Wilson. Aber dann erloschen die Scheinwerfer, und ich wusste, es war nur Mrs Boucher, die wieder zurück nach Hause kam.

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