Haarmanns Erbe

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ulrichs schien mit seiner Antwort mehr als zufrieden zu sein.

»Wieder was losgeworden. Dann rufen Sie mich einfach an, damit wir zusammen in den Keller gehen können.« Er stand auf und streckte Tabori die Hand hin. »Ich habe immer gedacht, dass es mein größter Fehler war, niemals wirklich aus diesem Kaff Hannover weggegangen zu sein. Umso mehr freue ich mich, dass es hier auch Menschen gibt, mit denen man sich vernünftig unterhalten kann. Wir sehen uns wegen des Stuhls.«

Ulrichs winkte dem Kellner und bezahlte im Stehen. Als er an die Seitenscheibe des Volvos klopfte, sah Tabori, wie Hoppe aus dem Schlaf hochschreckte. Kurz bevor er den Motor startete, hob er noch einmal die Hand zum Abschied. Tabori hatte den Eindruck, dass seine Bartstoppeln während der knappen Stunde, die er mit Ulrichs geredet hatte, noch dunkler und dichter geworden waren.

Der Espresso war so kalt, dass Tabori sich unwillkürlich schüttelte.

Sonntag, 27. September. 13.10 Uhr.

Tabori war noch nicht dazu gekommen, sich bei der Fahrzeugausgabe einen Dienstwagen zu besorgen, tatsächlich wusste er noch nicht mal, ob ihm überhaupt ein eigenes Fahrzeug zustand. Und seit Lisa sich Hals über Kopf an die Ostsee abgesetzt hatte, war er auch ohne Privatauto. Das metallic-silberne Saab-Coupé hatte er sich von einem befreundeten Psychologen geliehen, der gleich drei dieser schwedischen Fließheck-Bomber besaß.

Tabori mochte den Saab nicht sonderlich. Der ganze Wagen erschien ihm schwerfällig, auch wenn der Turbo eine gewaltige Kraft entwickelte, kaum dass er das Gaspedal durchtrat. Jeder noch so kleine Knopf oder Hebel schien ausnahmslos mit schwarzem, mittlerweile brüchig gewordenen Leder verkleidet. Soweit Tabori sich erinnerte, hatte Saab ursprünglich Kampfjets gebaut, vielleicht kam er sich deshalb vor wie in einem Flugzeug-Cockpit, in dem er bestenfalls die Hälfte der Bedienelemente irgendeiner Funktion zuordnen konnte.

Irgendwie hatte Tabori das unangenehme Gefühl, dass die Fahrer der anderen Wagen ihn spöttisch mustern würden. Wahrscheinlich halten sie mich für eine Art Möchtegern-Playboy, der es auf seine alten Tage noch mal wissen will, dachte er.

Um halb drei war er mit dem Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts in Göttingen verabredet. Bohnenkamp hatte den Kontakt hergestellt, die beiden hatten zusammen studiert, Tabori ging wie selbstverständlich davon aus, dass sie auch in derselben studentischen Verbindung gewesen waren. Das Treffen jetzt war eher inoffiziell, Tabori wollte vor allem wissen, wie es möglich gewesen sein konnte, dass Haarmanns Kopf bei der letzten Einäscherung von Leichenpräparaten zwar auf der Liste gestanden, aber ganz offensichtlich gar nicht dabei gewesen war. Die Frage, ob stattdessen ein anderer Kopf eingeäschert worden war, versuchte er im Moment noch zu verdrängen.

Aber jetzt steckte er ohnehin erst mal auf der A7 im Stau. Die Baustelle, die kurz hinter der Hildesheimer Börde begann, war mit einer Länge von neunzehn Kilometern angegeben. Im Schritttempo schob sich die Wagenkolonne über die Brücke bei Derneburg. Rechts unten im Tal sah Tabori die Silhouette des Schlosses, in dem Baselitz jahrelang seine grundsätzlich auf dem Kopf stehenden Figuren gemalt hatte. »Albern«, hatte Timm Ulrichs gerade gestern noch über den Kollegen gesagt. Tabori grinste. Ulrichs hatte ihm in seiner respektlosen Offenheit gut gefallen. Während er ihre Unterhaltung im Kopf noch mal rekapitulierte, kam er immer mehr zu dem Schluss, dass sich hinter Ulrichs manchmal verwirrenden Gedankengängen ein Mensch verbarg, der vollkommen strukturiert und alles andere als ein Spinner war. Dass er irgendetwas mit dem Fund des Kopfes zu tun haben könnte, hatte Tabori ohnehin längst ausgeschlossen.

Es war bereits halb zwei, als er endlich die Abfahrt nach Göttingen erreichte. Aber wenigstens hatten die Göttinger es geschafft, auf der langen Einfallstraße zur Stadt mit Hilfe von Geschwindigkeitsvorgaben eine grüne Welle zu gewährleisten, Tabori fragte sich nicht zum ersten Mal, aus welchen Gründen das in Hannover nicht möglich war.

Das Handy klingelte, als er in Höhe der Brücke über die Leine war. Er fuhr an den Fahrbahnrand und nahm das Gespräch an. Lepcke.

»Nur ganz kurz. Es wäre schön, wenn du den Leuten demnächst deine eigene Nummer gibst, damit nicht alle Anrufe hier bei mir auflaufen. Ich habe keine Lust, die Telefonvermittlung für dich zu spielen, nur dass das mal klar ist …«

»Tut mir leid, aber sag mir doch erst mal, worum es überhaupt geht.«

»Dein Termin in Göttingen ist auf sechzehn Uhr verschoben, vorher hat dieser Professor keine Zeit für dich. Er ist noch irgendwo im Harz, es ist ja auch Wochenende.«

»Okay. Danke. – Gibt es sonst irgendwas Neues?«

»Ich habe gerade mit Sommerfeld gesprochen. Der Mittelfinger ist jedenfalls deutlich frischer als Haarmanns Kopf! Erst ein paar Tage alt, schätzt Sommerfeld. Er hat den Abdruck auch schon durch den Computer gejagt, allerdings ohne Ergebnis. Mit anderen Worten: Wir wissen nichts!«

»Außer dass jemand den Kopf hat verschwinden lassen.«

»Und jemand anders ohne Mittelfinger rumrennt. Oder auch schon nicht mehr rennt …« Tabori holte tief Luft.

»Weißt du eigentlich, wie man diese Art von … Laborgläsern nennt, in denen der Kopf ist?«, fragte er. »Nur damit ich nachher nicht als völlig unwissend dastehe.«

Tabori hörte, wie Lepcke kurz lachte.

»Pharma-Primärpackmittel aus Glas«, kam die Antwort.

»Was?«

»Du hast richtig gehört. Aber Präparate- oder Laborglas tut’s wahrscheinlich auch. Übrigens nicht gerade billig die Dinger! Bis zu 3000 Euro zahlst du da, je nach Durchmesser und ob mit Sockel oder ohne. Aber du kannst ja mal fragen, vielleicht machen sie dir ein Sonderangebot, damit die Studenten auch mal einen Polizistenkopf in Formalin bewundern dürfen.«

»Was ist eigentlich los mit dir? Warum bist du so gereizt? Und … wieso bist du überhaupt heute im Büro?«, fiel es Tabori jetzt erst ein zu fragen.

»Weil ich mir den falschen Beruf ausgesucht habe und meine Sonntage nicht im Harz verbringe, sondern irgendwelche Berichte schreibe, die schon länger überfällig sind. Aber ich komme ja sowieso zu nichts. Und dass sie uns jetzt auch noch diese Vermisstenmeldungen aufs Auge gedrückt haben, macht die Sache nicht besser. Als ob wir nicht schon genug zu tun hätten.«

»Was für Vermisstenmeldungen? Worum geht es da?«

»Mann, es wäre wirklich schön, wenn du mir manchmal zuhörst! Ich hab dir auf deiner Party davon erzählt.«

»Hast du nicht.«

Einen Moment blieb es still in der Leitung.

»Was ist, Lepcke? Dann wiederhole es bitte noch mal, ich erinnere mich wirklich nicht.«

»Okay, vielleicht habe ich auch tatsächlich nichts gesagt. Es ist ja auch noch kein Fall, nur die übliche Info von der Vermisstenstelle. Also, wir reden mittlerweile von drei jungen Männern, die in der letzten Woche verschwunden sind, der Jüngste achtzehn, der Älteste vierundzwanzig. Keiner von ihnen kommt aus Hannover, aber der gemeinsame Nenner ist, dass sie alle nach Hannover wollten, und zwar mit der Bahn. Nur dass sie nicht angekommen sind! Oder sie sind angekommen, und dann sofort verschwunden. Nicht unsere Sache, schon klar, aber die Zeitung ist drüber gestolpert und stochert rum. Und deshalb will jetzt irgendjemand weiter oben, dass wir da nachforschen, weil sie bei der entsprechenden Abteilung wegen Krankenstand oder was weiß ich gerade keine Leute frei haben. Als ob wir hier sitzen würden und Däumchen drehen!«

»Junge Männer, hast du gesagt? Die alle drei mit der Bahn unterwegs waren?«

»Ja, wieso?«

»Das heißt, wenn sie nicht schon unterwegs verschwunden sind, dann gleich bei ihrer Ankunft. Also womöglich noch am Bahnhof!«

»Ja, natürlich, da kommen die Züge ja normalerweise an. Wenn auch meistens mit Verspätung …«

»Klingelt da nicht irgendwas bei dir? Stichwort Haarmann?«

Tabori hörte, wie Lepcke nach Luft schnappte. Und dann mit der Faust auf den Tisch schlug.

»Verdammt, Tabori, jetzt spinnst du aber wirklich! Das ist Quatsch, da gibt es keinen Zusammenhang.«

»Und wenn doch? Irgendjemand hat Haarmanns Kopf ganz gezielt in Hannover auftauchen lassen, wohl wissend, dass der Fund bei uns landen wird. Und gleichzeitig bekomme ich eine Pizza mit einem abgeschnittenen Mittelfinger zugestellt. Plus der Botschaft, dass alles erst anfängt …«

»Natürlich!« Lepckes Stimme troff vor Sarkasmus. »Alles fängt erst an. Haarmann ist wieder da. Schleicht am Bahnhof rum und schnappt sich ein, zwei, drei junge Männer, schneidet dem einen den Mittelfinger ab und …«

»Und du kümmerst dich jetzt darum, die DNA festzustellen und mit Proben der vermissten Personen zu vergleichen. Schnapp dir die Kollegen in den entsprechenden Orten, aus denen die jungen Männer kommen. Sie sollen … die Haarbürsten sicherstellen, oder irgendetwas anderes, was für eine DNA-Analyse ausreicht. Mach es einfach, Lepcke, lass uns nicht lange diskutieren.«

»Dein Bauchgefühl sagt dir, dass du eine Spur hast, schon klar. Alles wie gehabt. Gut, dass wir darüber gesprochen haben, sonst hätte ich vielleicht gar nicht gemerkt, dass du wieder da bist.«

»Mach es einfach«, wiederholte Tabori. »Ich rede hier noch mit dem Corps-Bruder von Bohnenkamp und rufe dich an, wenn ich wieder in Hannover bin. Lass uns heute Abend zusammen was trinken, dann gehen wir alles in Ruhe durch, was wir haben.«

»Passt«, kam die prompte Antwort. »Der Sonntag hat ja auch noch einen Abend, und der Herr Tabori ist ohnehin rund um die Uhr im Einsatz! Kein Problem für ihn, Privatleben kennt er nicht, Familie hat er keine, was eine Freundin ist, weiß er nicht …«

 

»Schön beschrieben«, sagte Tabori. »Aber damit sind wir ja immerhin schon zu zweit, was das angeht.«

Lepcke unterbrach die Verbindung, ohne noch eine Antwort zu geben.

Als Tabori sich wieder in den Verkehr einfädeln wollte, passierte ihn ein Streifenwagen und hielt dann kurz vor ihm an, mit den rechten Rädern auf dem Radweg. Bei der nächsten Lücke gab Tabori Gas und hob im Vorbeifahren grüßend die Hand.

Erst als er schon auf die Bürgerstraße abgebogen war, sah er bei einem Blick in den Rückspiegel, dass der Streifenwagen ihm folgte. Tabori achtete darauf, die Geschwindigkeit nicht zu überschreiten, auf Höhe des fast vollständig mit Graffiti bemalten Jugendzentrums fiel der Streifenwagen ein Stück zurück, doch bereits am Hiroshima-Platz klemmte er wieder dicht an Taboris Stoßstange.

Tabori bog zweimal nach rechts ab und fuhr auf den Parkplatz der KFZ-Zulassungsstelle. Er war noch kaum aus der Tür, als die beiden uniformierten Beamten vor ihm standen.

»Können wir helfen?«

»Komisch, die gleiche Frage wollte ich Ihnen auch gerade stellen«, konnte Tabori es nicht lassen zu erwidern.

Seine Antwort kam nicht gut an.

»Fahrzeugpapiere und Ausweis, bitte!«

»Warum? Wo ist das Problem?«

»Das Problem ist, dass Sie nicht den Eindruck machen, als wären Sie fit genug, um ein Kraftfahrzeug zu steuern.«

Unwillkürlich fuhr sich Tabori mit dem Handrücken über die Bartstoppeln auf Kinn und Wangen. Für einen kurzen Moment überlegte er irritiert, ob man ihm den Schlafmangel wirklich so deutlich ansehen würde, den Rotwein, die Zigaretten … Oder ob es einfach nur sein Alter war, das ihn auf die jüngeren Kollegen wie einen Zombie wirken ließ. Aber das war noch lange kein Grund für eine Kontrolle! Er merkte, dass er Mühe hatte, seine plötzlich aufsteigende Wut zurückzuhalten. Genau das war es, was ihm die Polizeiarbeit immer wieder verleidet hatte! Diese Arroganz der Macht, die sich bei viel zu vielen Kollegen darin zeigte, dass sie alles für verdächtig hielten, was ihrer Meinung nach nicht den üblichen Normen entsprach. Und dafür schien es jetzt schon zu reichen, sich unrasiert und mit Augenringen und grauer Gesichtsfarbe im Straßenverkehr zu bewegen – ohne eine einzige Vorschrift zu missachten. Während andere, die einen Anzug und eine Krawatte trugen und die Haare ordentlich gekämmt hatten, unbehelligt Jagd auf Radfahrer und Fußgänger machen konnten, mit dem Handy am Ohr und dem Fuß auf dem Gaspedal.

»Passt Ihnen vielleicht auch meine Nase nicht?«, blaffte er los. »Oder gibt es sonst noch irgendetwas an mir, was Ihren Horizont sprengt?«

Er wusste selbst, dass er übertrieb und dass seine Reaktion vollkommen unverhältnismäßig war, aber allein der Gedanke, wie sich in einer solchen Situation wohl jemand fühlen musste, der fremd in diesem Land und der Willkür hilflos ausgeliefert war, ließ ihn innerlich frösteln. Er wollte es nicht dabei belassen, dass die Kollegen auch nur ihren Job machten, dass sie aufgrund von permanenter Arbeitsüberlastung und nicht zuletzt unzureichender Ausbildung ganz einfach überfordert waren – er suchte Streit!

Umso mehr war er überrascht, als sie ihm den Gefallen nicht taten, sondern ohne eine Reaktion auf seinen Ausbruch nur durchaus korrekt erneut um seine Papiere baten. Er zückte kommentarlos seinen Dienstausweis.

Die Beamten musterten erst den Ausweis, dann nochmals Tabori. Die Ratlosigkeit stand ihnen jetzt deutlich ins Gesicht geschrieben.

»So kann man sich irren«, sagte Tabori schulterzuckend. »Dumm gelaufen.«

»Wir machen auch nur unseren Job.«

Tabori nickte und holte tief Luft. Er hatte plötzlich keine Lust mehr, sich weiter aufzuspielen. Damit würde sich nichts ändern, gar nichts. Er bezweifelte im Übrigen, dass sie irgendetwas von dem verstehen würden, was er ihnen eigentlich zu sagen hätte. Es war nicht seine Sache, die festgefügten Strukturen von Vorurteilen und Machtmissbrauch zu verändern.

Er hatte sich darauf eingelassen, wieder in diesem Apparat zu arbeiten, und er hatte vorher gewusst, was ihn erwartete. Aber er war nun mal Polizist, das war es, was er gelernt hatte. Er wusste nicht, ob er überhaupt etwas anderes konnte. Seine Aufgabe war es, dazu beizutragen, die abstrakte Idee eines Gemeinwesens zu verteidigen, in dem unschuldige Menschen gefahrlos leben durften.

Dass die Grenzen zwischen Gut und Böse dabei häufig genug verschwammen und er kaum mehr tat, als an der Oberfläche zu kratzen und die allzu offensichtlichen Risse zu kitten, war ein Problem, mit dem er auch weiterhin konfrontiert sein würde, ohne eine Lösung zu wissen …

»Belassen wir es dabei«, sagte er laut. Und setzte mit schiefem Grinsen hinzu: »Habt ihr irgendeinen Tipp für mich, wo ich hier in der Nähe eine Kleinigkeit essen kann? Und keine Pizza bitte«, setzte er noch schnell hinzu. Fast rechnete er damit, dass sein Wechsel zum »Du« erneut für Irritationen sorgen würde, aber die Antwort kam prompt.

»Es gibt einen guten Inder in der Fußgängerzone, ist das okay?«

»Klingt gut. Wie komme ich dahin?«

Während der eine der Beamten ihm den Ausweis zurückgab, erklärte sein Kollege den Weg: »Bei der Hecke da hinten nach rechts und durch die Fußgänger-Unterführung. Auf der anderen Seite einfach geradeaus Richtung Innenstadt. Und am Alten Rathaus am besten noch mal fragen. Ist aber nicht weit, höchstens zehn Minuten von hier.«

»Danke.«

»Das Naan Brot ist klasse, kann ich als Beilage nur empfehlen. Und die Currys …«

Tabori nickte und dachte: Sieh mal einer an, so einfach ist das. Fremde sind hier wie überall willkommen, solange sie nur ein Restaurant betreiben, haben wir gar nichts gegen sie, da weiß auch der brave Bürger den Hauch von Exotik durchaus zu schätzen.

Du bist arrogant, sagte er gleich darauf zu sich selbst, sei vorsichtig, Tabori, dein Schwarz-Weiß-Denken wird immer schlimmer, je älter du wirst!

Als er den Parkplatz verließ, sah er aus den Augenwinkeln, wie die Polizisten per Funk das Kennzeichen des Saab durchgaben. Er fragte sich, ob sie ihn bei seiner Rückkehr wohl erwarten würden. Oder ihn schon vorher aus dem indischen Restaurant holen …

Die Wegbeschreibung war nicht sonderlich präzise gewesen, oder vielleicht hatte er auch nicht richtig hingehört. Unversehens fand er sich vor dem Jungen Theater wieder. Vor einer gefühlten Ewigkeit war er mal hier gewesen, um ein Stück von Dario Fo zu sehen, sogar an den Titel konnte er sich noch erinnern: »Zufälliger Tod eines Anarchisten«. Die Inszenierung hatte ihn damals sehr beeindruckt, jetzt allerdings schien sich der Spielplan kaum noch von einem beliebigen Stadttheater zu unterscheiden, einschließlich des unvermeidlichen Poetry-Slam-Abends.

Auf gut Glück folgte er der Straße, bis er eher zufällig eine Studentenkneipe mit Tischen vor der Tür entdeckte – und spontan beschloss, gleich hier etwas zu essen. Er wusste nicht, was ihm besser gefiel – die über und über mit Plakaten und Aufklebern zugepflasterte Eingangstür oder das Schild mit der Aufschrift Burschis verboten – auf jeden Fall schien ihm die Kneipe plötzlich verlockender als der Inder.

Das Publikum war bunt gemischt und bestand nicht ausschließlich aus Studenten, auch ein paar ältere Leute aus dem Viertel schienen zu den Stammgästen zu gehören. Tabori suchte sich einen freien Tisch an der Wand und bestellte die hausgemachten Kartoffelspalten mit Aioli. Während er auf sein Essen wartete, beobachtete er eine Gruppe von jungen Leuten, die im Nebenraum einen langen Tisch belagerten. Schon nach den ersten Blicken speicherte er sie als zur linken Szene zugehörig ab, ihre durchweg schwarzen Kapuzenpullis mit dem Antifa-Symbol oder Aufdrucken wie Refugees welcome waren eindeutig genug. Auf dem Stoffbeutel, der hinter einem Mädchen an der Stuhllehne hing, stand groß zu lesen: Still not loving police.

Tabori konnte ein Grinsen nur schwer unterdrücken, als er sich vorstellte, was Carlos und Ulrike sagen würden, wenn sie wüssten, wo er sich gerade aufhielt. Gleichzeitig registrierte er, dass er sich nicht unwohl fühlte – vielleicht ist es genau das, was in Hannover fehlt, dachte er, ein buntes studentisches Leben mit Leuten, die immer noch die Welt verändern wollen. Ein »Literarischer Salon« reicht da nicht als Gegenpol zu einer zunehmend technisch und naturwissenschaftlich orientierten Studentenschaft.

Sein Blick streifte über ein Plakat hinter dem Tresen, auf dem drei dickliche biertrinkende Burschenschaftler abgebildet waren. Darunter stand die unmissverständliche Aufforderung: Die Elite von morgen heute schon anpöbeln!

Und auch die Feindbilder sind klar, dachte er. Aber besser so, als irgendeine dummdreiste Pegida-Botschaft …

Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Lepcke hatte eine SMS geschickt.

Wir haben den Pizzaboten, las Tabori vom Display ab. Er wollte gerade mit dem Handy vor die Tür gehen, um zurückzurufen, als die Bedienung mit dem Essen kam. Er nickte ihr kurz zu und bat sie, ihm auch noch ein alkoholfreies Bier zu bringen. Die Kartoffelspalten waren so heiß, dass er sich schon mit dem ersten Bissen den Mund verbrannte.

Er blickte sich kurz um, niemand schien ihn zu beachten, am Nachbartisch saß ein Rettungssanitäter, der ebenfalls telefonierte. Und der Lärmpegel war so hoch, dass ohnehin niemand von den Gästen mitkriegen würde, was er sagte. Er rief Lepcke an.

»Ich habe deine Nachricht bekommen. Was sagt er? Gib mir mal kurz eine Zusammenfassung.«

»Er ist mit einer Pizza zu dem Parkplatz am Laher Friedhof bestellt worden, gleich bei dir um die Ecke. Du weißt, der Parkplatz ist abends immer leer, wenn überhaupt irgendwas los ist, dann vorne an der Tankstelle oder an dem Hotel da. Nach Aussage des Pizzaboten hat dann bei der Friedhofsgärtnerei ein Mann auf ihn gewartet, ein Typ mit einer Clownsmaske, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Er soll das auch gleich erklärt haben, dass er auf dem Weg zu einer Motto-Party wäre oder so was, Thema Zirkus, deshalb die Verkleidung. Der Pizzabote fand das zwar komisch, weil der Typ nur diese Maske aufhatte und sonst ganz normale Klamotten trug, also Parka, dunkle Hose, dunkle Schuhe. Aber der Mann hat ihm fünfzig Euro in die Hand gedrückt. Und jetzt kommt’s! Angeblich sollte die Pizza ein Geschenk sein und er wollte sie noch ein bisschen dekorieren, als besondere Überraschung, aber der Pizzabote sollte sich solange umdrehen. Hat er auch tatsächlich gemacht, behauptet er zumindest. Ich glaube, er hatte ganz einfach Schiss, da alleine mit dem Typen auf dem dunklen Parkplatz. Und dann hat er den Pizzakarton zurückbekommen, und deine Adresse dazu. Mit der Drohung, dass er gewaltigen Ärger kriegen würde, wenn er den Karton aufmacht. Und das war’s. Den Rest kennst du.«

»Du glaubst ihm?«

»Es klingt verworren, aber ja, ich glaube, dass die Geschichte stimmt.«

»Kann er sich sonst noch an irgendwas erinnern? Ein Auto oder …«

»Er glaubt, dass ein Fahrrad an der Mauer gelehnt hat, ist sich aber nicht sicher. Er erinnert sich nur an die Maske. Und dass der Typ weiße Handschuhe anhatte, was er einleuchtend fand, wegen dem Zirkusmotto.«

»Also keine Fingerabdrücke.«

»Du sagst es.«

»Für wie alt hat er den Typen gehalten, kann er das wenigstens sagen? Und wie groß? Dick? Dünn?«

»Mann, Tabori, es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden befragt habe! Aber wie gesagt, der Bengel hatte ordentlich Schiss, der hat nicht viel mitgekriegt. Normal groß, behauptet er, und weder auffällig dick noch dünn, und die Stimme war verzerrt durch die Maske. Es war kein Jugendlicher, das ist das Einzige, was er mit Sicherheit sagen kann.«

»Verdammt!«, stieß Tabori zwischen den Zähnen hervor. »Das kann doch alles nicht wahr sein! – Die Nummer, was ist damit? Als die Pizza bestellt worden ist! Habt ihr das bei dem Bringdienst …«

»Natürlich«, unterbrach ihn Lepcke. »Prepaid-Karte, vergiss es. Keine Chance.«

Tabori überlegte einen Moment. »Fußarbeit«, sagte er dann. »Was Besseres fällt mir nicht ein. Schick ein paar Kollegen dahin. Hotel. Tankstelle. Die Straße gegenüber, die zu mir nach Hause führt. Da wohnen einige Leute mit Hunden, vielleicht hat einer von ihnen noch seine Abendrunde gedreht und den Mann gesehen. Die Clownsmaske wird er erst übergezogen haben, als das Moped vom Pizzadienst an der Kreuzung abgebogen ist, aber die Kollegen sollen sowohl nach jemandem mit Fahrrad als auch ohne fragen, jemand, der da vielleicht gestanden und telefoniert hat. Oder einfach nur gewartet hat. Ein Mann im Parka, das ist nicht viel, ich weiß, aber wir müssen es versuchen. Ach ja, warte mal, da ist vorne an der Kirchhorster Straße noch ein Pferdestall, gleich neben dem Autohaus. Das sind Roma, denen der Stall gehört, und manchmal ist auch abends noch jemand da. Die Kollegen sollen einen schönen Gruß von mir bestellen, dann kriegen sie auch eine Antwort. Einfach einen Gruß von dem Bullen, der bei ihnen um die Ecke wohnt. Die Leute kennen mich da …«

 

»Ich hab niemanden, den ich losschicken kann«, wandte Lepcke ein. »Wir müssen erst mal klären, wer an dem Fall überhaupt arbeitet! Und das ist deine Sache. Ich stell mich jedenfalls nicht hin und versuche, irgendwelche Zusammenhänge erklären zu wollen, zwischen Haarmanns Kopf und einem abgeschnittenen Mittelfinger als Beilage auf einer Pizza für dich, von deiner äußerst vagen Idee mit den verschwundenen jungen Männern am Bahnhof mal ganz zu schweigen. Das musst du machen«, wiederholte er. »Und wir müssen reden!«, setzte er dann hinzu. »Tut mir leid, wenn ich dich dran erinnern muss, aber das Zauberwort heißt Teamarbeit! Das Ganze muss irgendwie koordiniert werden, es geht nicht, dass …«

»Schick Carlos und Ulrike hin«, unterbrach ihn Tabori. »Das wird ihnen nicht passen, aber sag ihnen, dass ich sie sowieso im Team haben will. Ich kläre das morgen mit dem Polizeidirektor, aber ich möchte keine Zeit verlieren. Und ich melde mich wieder, sowie ich jetzt hier bei der Gerichtsmedizin war.«

»Carlos und Ulrike, meinst du das ernst?« Die Skepsis in Lepckes Tonfall war nicht zu überhören.

»Sie sind gut«, antwortete Tabori nur. »Und ich will sie dabei haben, fertig.«

Nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte, schüttelte er unwillig den Kopf. So geht das nicht, dachte er, Lepcke hat völlig recht, eine Ermittlung ist immer Teamarbeit. Und er durfte nicht vergessen, dass es bei aller Freundschaft auch für Lepcke nicht ganz einfach war, jetzt wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Lepcke war ein kompetenter Ermittler, der durchaus in der Lage war, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Tabori musste wieder lernen, ihn in seine Überlegungen einzubeziehen, statt nur seinem eigenen Bauchgefühl zu folgen, sonst würden sie über kurz oder lang ein ernst zu nehmendes Problem miteinander bekommen. Und er wusste ja selbst nicht, wo er überhaupt ansetzen sollte, er hatte das ungute Gefühl, im Moment vollkommen planlos zu handeln. Er hoffte nur, dass ihn das Gespräch mit dem Leiter der Gerichtsmedizin einen Schritt weiterbringen würde, und dann mussten sie erst mal sehen, wie sie eine gemeinsame Linie finden konnten …

Erst als der Rettungssanitäter am Nachbartisch irritiert aufblickte und dann ganz langsam sein Handy zurück in die Tasche schob, bemerkte Tabori, dass sich die Atmosphäre in der Studentenkneipe verändert hatte. Es schien, als wären alle Gespräche mit einem Schlag verstummt, nur der Elektro-Hip-Hop, der aus den Lautsprechern plärrte, war unverändert nervtötend.

Der neue Gast, der vorm Tresen stand und sich suchend umsah, kam Tabori augenblicklich bekannt vor. Er brauchte keine zehn Sekunden, bis er wusste, wo er das Gesicht schon mal gesehen hatte. Der leicht angefettete junge Mann mit dem weißen Oberhemd und dem schwarzrotgoldenen Band quer über Brust und Bauch schien direkt aus dem Anti-Burschenschaftler-Plakat entsprungen zu sein. Und er war hier so eindeutig fehl am Platz, dass Tabori meinte, die Spannung im Raum förmlich greifen zu können.

Jetzt hatte der Verbindungsstudent die Gruppe der Antifa-Leute im Nebenraum ausgemacht und steuerte auf ihren Tisch zu. Als er anfing zu reden, war seine Stimme viel zu hoch und klang leicht quäkend.

»Ich will meine Mütze wiederhaben. Ich weiß, dass ihr sie habt. Also los, gebt sie mir, dann vergesse ich das. Oder sonst muss ich die Polizei holen.«

Die Studenten in ihren schwarzen Kapuzenpullis rührten sich nicht. Sie blickten nicht mal hoch, sie machten einfach – gar nichts.

Bis das Mädchen mit dem Jutebeutel plötzlich anfing zu kichern.

»He, das ist nicht witzig«, hallte erneut die Quäkestimme durch den Raum. »Das ist Diebstahl! Kann ich meine Mütze jetzt wiederhaben?«

Er trat noch einen Schritt näher an den Tisch und streckte in einer fordernden Geste die Hand aus.

»Verpiss dich!«

»Erst wenn ich meine Mütze wiederhabe.«

Das Mädchen drehte sich zu ihm.

»Hat der Kleine seine Mütze verloren, ja? Und kriegt er jetzt ganz schlimm Haue, wenn er ohne nach Hause kommt?«

Der Dicke wich keinen Meter zurück. Aber seine Stimme überschlug sich mehrmals, als er rief: »Ihr seid echt scheiße! Das wird euch noch leid tun, ich weiß ja, wo ihr wohnt! Ihr kommt nämlich alle aus der Roten Straße, und irgendwann kriegen wir euch. Und zwar wenn ihr einzeln seid. Und dann … dann …«

Tabori sah, wie der Rettungssanitäter aufstand und mit zwei schnellen Schritten hinter den Dicken trat. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ganz ruhig: »Es reicht jetzt. Komm, ich bring dich raus.«

Verblüfft ließ sich der Dicke am Ellbogen packen und von dem Tisch wegziehen.

Einer der Antifa-Leute schon seinen Stuhl zurück und stand auf. »Warte mal! Sollte das eben eine Drohung sein? Dann würden wir da gerne noch mal drüber reden …«

Als er Anstalten machte, dem Dicken zu folgen, erhoben sich auch seine Kumpels. Gleichzeitig griff das Mädchen in den Jutebeutel an der Stuhllehne und zog eine Studentenmütze heraus, die sie sich kichernd auf die schwarzen Haare setzte.

»Huhu, Dickerchen, guck mal, was ich hier habe!«

Tabori stand ebenfalls auf, zückte sein Portemonnaie, als wollte er bezahlen, und versperrte dabei wie aus Versehen dem Anführer den Weg.

»Lass uns durch, Mann, das geht dich nichts an! Also misch dich auch nicht ein.«

Für einen kurzen Moment sahen sie sich gegenseitig in die Augen. Als Tabori warnend den Kopf schüttelte, stieß der Student nach kurzem Zögern die Luft aus und quetschte zwischen den Zähnen hervor: »Ich hab’s gewusst. Schon als du reingekommen bist. Fuck Cops!«, setzte er nach, bevor er sich zu den anderen drehte und sie mit einer Kopfbewegung zurückhielt.

Tabori bezahlte. Als er zur Tür ging, rief das Mädchen mit der geklauten Studentenmütze irgendwas hinter ihm her, was er nicht verstand. Aber er wusste auch so, dass es ganz sicher nicht freundlich gemeint war.

Der Burschenschaftler überquerte gerade laut schimpfend die Straße. Der Sanitäter stand noch auf dem Gehweg und blickte ihm hinterher, als wollte er sichergehen, dass der Dicke es sich nicht anders überlegte und noch mal umdrehte.

Ohne Tabori anzusehen, sagte er: »Danke für Ihre Hilfe. Wäre aber nicht unbedingt nötig gewesen. Meistens bleibt es ja auch bei ein bisschen Show. Es ist ein Spiel, die Linken klauen den Rechten ihre bescheuerten Mützen und die Burschis lassen keine Möglichkeit aus, um sie zu provozieren, indem sie sich erst genug Mut antrinken und dann grölend und mit ihren Verbindungsinsignien vor irgendeinem besetzten Haus auflaufen. Aber mehr passiert meistens nicht.«

»Ich fand es trotzdem gut, wie Sie das eben gemacht haben. Hat mir gefallen.«

Der Sanitäter zuckte mit den Schultern. »Besser jedenfalls, als wenn Sie erst mit Ihrem Ausweis rumgewedelt hätten.«

»Was?«, fragte Tabori verblüfft. »Wie kommen Sie darauf …«

»Die Art und Weise, mit der Sie schon beim Reinkommen jede Person im Raum abgespeichert haben, mich eingeschlossen. Ihre Körperhaltung, als Sie gemerkt haben, dass die Situation umzukippen drohte. Ganz davon abgesehen, dass Sie mit Sicherheit weder Prof noch irgendein übriggebliebener Student im dreißigsten Semester sind. Wir kennen uns hier im Viertel. Das ist Göttingen!« Jetzt blickte er Tabori zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Sind Sie neu hier? Und sollen die linke Szene ausspionieren oder was?«

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?