Der Tod der Schlangenfrau

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Z serii: Auguste Fuchs #1
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Von Barnstedt war sichtlich düpiert. »Noch ist ja überhaupt nicht geklärt, ob es sich tatsächlich um einen Tötungsversuch gehandelt hat«, brummte er in seinen Bart und wies seinen Assistenten mit einer Kopfbewegung an zu gehen. »Wenn Sie alles so weit aufgenommen haben …?«

Jakob Wilhelmi nickte und steckte Kladde und Kopierstift ein, oder besser: Er tat so, als wolle er beides in seiner Jackentasche verstauen. Dabei stellte er sich bewusst so ungeschickt an, dass die Kladde zu Boden fiel.

Reflexartig bückte sich Auguste, um das Büchlein aufzuheben, und landete Stirn an Stirn mit dem jungen Herrn Assistenten.

»Schaffen Sie es, bis heut’ Abend das Bild zu entwickeln?«, wisperte er verschwörerisch.

In der Charité schob der Medizinstudent Reginald Wündrich die Bahre mit der Toten, die die Sanitäter vor gut einer Stunde ins Institut für Gerichtsmedizin gebracht hatten, in den Sektionsraum. Gemeinsam mit dem Obduktionsgehilfen bettete er den Leichnam auf den Seziertisch und wartete auf seinen Herrn und Meister. Dass der Herr Direktor persönlich die Autopsie vornehmen würde, war, wie es hieß, auf die ungewöhnlichen Todesumstände zurückzuführen. Darüber hinaus hatte die Tatsache, dass es sich bei dem zuständigen Staatsanwalt um einen ehemaligen Burschenschaftskollegen der »Normannia Leipzig« handelte, die Angelegenheit erheblich beschleunigt.

Reginald Wündrich seufzte. Ihm blieben die Türen solch illustrer Studentenverbindungen unweigerlich verschlossen. Sein Honorar in der Gerichtsmedizin war seine einzige Einkommensquelle, denn niemand in seiner Familie verfügte über Adelstitel, Landbesitz oder militärische Orden und Ehrenzeichen. Aber er war ein findiger Kerl und hatte sich die Roller’sche Kurzschrift angeeignet, die es dem obduzierenden Arzt erlaubte, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Plauderton – sozusagen »ins Unreine« – von sich zu geben, während er mit Knochensäge, Skalpell und Rippenschere hantierte. Und so griff Reginald Wündrich eilfertig zu Papier und Bleistift, als Professor Straßmann den Raum betrat.

»Äußere Leichenschau an Charlotte Paulus, Georgenkirchplatz 8, Berlin C 2, geboren am 12. November 1871 in Paderborn«, vermeldete der Obduktionsgehilfe im Kasernenhofton, und Straßmann beugte sich über die Tote. »Gesunde, gut genährte junge Frau«, er hob Arme und Beine an und begutachtete Rücken und Hinterkopf, »keine Narben, keine auffälligen körperlichen Merkmale. Leichte bis mittelschwere Abrasionen und Lazerationen an allen vier Extremitäten.« Als sein Assistent die Tote wieder in Rückenlage gebracht hatte, hielt Straßmann einen Moment inne. »Schade um das schöne Mädchen«, murmelte er. Dann setzte er das Skalpell an.

Während der Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts die innere Leichenschau vornahm, entwickelte Auguste die letzte Platte und hatte kurz darauf die bewusste Fotografie vor sich liegen. Die restlichen Aufnahmen konnten warten: Juppi Weinfurth verfügte zu Augustes Verwunderung tatsächlich über genügend Feingefühl, die Bilder zunächst nicht in Umlauf zu bringen. Aber womöglich spekulierte er auch nur auf einen gewissen Gruseleffekt für den Fall, dass die Mordtheorie sich als zutreffend erweisen würde.

Auguste griff nach der Lupe und schob die Kontorlampe ein wenig dichter heran, um auch nicht das kleinste Detail zu übersehen. Doch bevor sie das Bild näher in Augenschein nehmen konnte, klopfte es vorne an der Ladentür. »Wir haben zu!«, rief sie durch die offen stehende Werkstatttür, »können Sie nicht lesen?« Selbstverständlich hatte Julius Fuchs den Laden für den Rest des Tages geschlossen, und das entsprechende Schild war eigentlich nicht zu übersehen.

»Doch. Lesen kann ich. Nur reinkommen kann ich nicht, wenn Sie mir nicht aufmachen.«

Ärgerlich sprang Auguste auf und lief hinüber in den Verkaufsraum. »So dringend kann’s ja nu nicht sein, dass es nicht bis morgen warten … Hoppla!«

Vor der Tür stand der junge Herr Kriminalassistent – deutlich früher, als sie erwartet hatte. »Verzeihen Sie, Fräulein Fuchs, aber man hat mich von Amts wegen für heute Abend zu einer etwas zeitaufwendigeren Angelegenheit abkommandiert, und deshalb dacht’ ich, ich guck schon vorher mal vorbei und frage nach, ob Sie vielleicht schon mit dem Entwickeln der Aufnahme fertig sind.«

»Ja, bin ich. In dieser Sekunde! Kommen Sie rein!« Aus unerfindlichen Gründen war es Auguste ganz recht, dass Jakob Wilhelmi sie – von allen ungesehen – hier unten im Laden aufsuchte. Es gab zwar keinen Grund, sein Kommen vor ihrem Vater und Tante Hattie oder vor Hulda Preissing und dem Liftboy Luis zu verheimlichen, aber so ein bisschen Geheimniskrämerei hatte durchaus etwas Prickelndes; insbesondere angesichts der Tatsache, dass es sich zweifelsohne nicht gehörte, sich als unverheiratete junge Frau mit einem offenbar ebenfalls unverheirateten jungen Mann in einer von jedwedem Tageslicht – und jedweden Blicken Dritter – abgeschirmten Werkstatt zu treffen. Dass Wilhelmi keinen Trauring trug, hatte sie bereits am Nachmittag festgestellt. Aber spielte das bei einem rein beruflichen Stelldichein wie diesem etwa irgendeine Rolle? Nicht mal im entferntesten Sinne! Und so schob Auguste ihrem Besucher wie selbstverständlich den Arbeitsschemel ihres Vaters zurecht und nahm neben ihm Platz, so dicht, dass sich ihre Arme beinahe berührten. Jakob Wilhelmis Haar roch angenehm nach Makassar-Öl und sein Jackett nach nasser Wolle. So nah war Auguste bisher nur ihrem Vetter Gustav aus Breslau gekommen. Der umarmte sie für ihren Geschmack ein wenig allzu oft und innig, und er roch im Unterschied zu Wilhelmi nach abgestandenem Zigarrenrauch.

»Eine, wie mir scheint, kerngesunde Person …«

Ups! Redet der etwa von mir? Auguste war so in Gedanken versunken, dass sie regelrecht zusammenschrak, als Wilhelmi zu sprechen begann. Der junge Herr Kriminalassistent betrachtete eingehend die in der Bewegung festgehaltene, halb nackte Gestalt in der Mitte des Bildes. »Dass Fräulein Paulus einem Herzanfall zum Opfer gefallen ist, scheint mir doch mehr als unwahrscheinlich.«

»Das hat Doktor Goldstein auch gesagt. Außerdem hatte sie diese schrecklichen Wahnvorstellungen. Als habe es einen oder mehrere unsichtbare Angreifer gegeben.«

»Ich hatte insgeheim gehofft, dass Sie die unsichtbaren Angreifer eingefangen haben.«

»Ähm … was?«

»Mit Ihrer Kamera!«

»Wie bitte?!« Allein der Gedanke brachte Auguste in Rage. »So ein Mumpitz! Diese sogenannten Geisterfotografen benutzen doch, wie jeder weiß, ganz einfach präparierte Platten. Da werden vorher Tante Käthe oder Onkel Kurt mit vorgehängter Tüllgardine aufbelichtet! Und was man dann so halb durchsichtig auf den fertigen Bildern sieht, sind keine Geister, sondern Schmu und reine Augenwischerei!«

Wilhelmi grinste, und Auguste hätte sich am liebsten geohrfeigt. »Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Ist das so offensichtlich?«

»Jetzt nehmen Sie mich schon wieder auf den Arm!«

»Gut, ich hör sofort auf damit!« Schlagartig wurde Wilhelmi ernst und griff zu Julius Fuchs’ Lupe.

Auguste war sich nicht sicher, ob ihr der todernste Kriminalassistent besser gefiel, aber schließlich handelte es sich bei ihrem geheimen Treffen nicht um ein romantisches Tête-à-Tête. Sie rief sich innerlich energisch zur Ordnung und rückte noch ein wenig näher an Wilhelmi heran, um das Bild mit ihm gemeinsam durch die Lupe zu betrachten: Im Vordergrund kniete Ndeschio Temba, mit dem Rücken zur Kamera, vor dem geöffneten Schlangenkorb, aus dem sich die Python bereits etwa eine Ellenlänge weit erhoben hatte. Im Hintergrund saßen die beiden als Haremssklavinnen kostümierten Runtschen-Schwestern auf ihren Seidenkissen, und in der Bildmitte stand Charlotte Paulus. Ihre Gestalt war unscharf zu erkennen – wie verwischt –, da Charlotte sich während der Belichtungszeit heftig bewegt hatte. Ihr Blick – von Weinfurth eigentlich so inszeniert, als sei er ängstlich auf die Schlange gerichtet – war eindeutig nach hinten gewandt, auf etwas, das sich offenbar an oder knapp neben der rechten Bildkante befand.

»Wer auch immer da stand: Die oder der ist auf der Aufnahme leider nicht zu sehen.« Enttäuscht ließ Wilhelmi die Lupe sinken.

»Da stand niemand, das weiß ich genau.« Auguste schaute sich die entsprechende Stelle noch einmal Millimeter für Millimeter durch das Vergrößerungsglas an.

»Tja.« Wilhelmi stand auf. »Dann hatten wohl bei Fräulein Paulus schon zu diesem Zeitpunkt Wahnvorstellungen eingesetzt, und sie hat da was gesehen, das für die Augen aller anderen – und für Ihre Kamera – unsichtbar war.«

»Nein! Augenblick noch!« Auguste zog ihren Mitverschwörer unsanft zurück auf seinen Platz. »Gucken Sie mal! Da!« Sie drückte Wilhelmi die Lupe in die Hand, »Da, zwischen den Drapieren!«

»Wo?«

»Den, den, den …«, Auguste fuchtelte enerviert in der Luft herum und suchte nach einem Ersatz für den offenbar für Männerohren unbekannten Begriff, »… den Stoffbahnen, die von oben runterhängen!«

»Ich weiß, was Drapieren sind, nur seh ich da niemanden.«

»Das hab ich ja auch nicht behauptet! Ich meine das da!« Sie deutete auf einen Gegenstand, der zwischen den Samtvorhängen hervorlugte. »Ein Stab oder Stock.«

»Kann das nicht einfach irgendein Dekorationsteil sein, das dahinter stand und umgefallen ist? Vielleicht hat das ja Fräulein Paulus erschreckt.«

Auguste zögerte und rief sich die ganze Situation noch einmal minutiös ins Gedächtnis zurück. »Nö. Hinter den Vorhängen war nichts. Nur der normale Hintergrundprospekt. Wozu auch? Man sieht ja immer nur den jeweiligen Bildausschnitt. Da muss man außerhalb der Szenerie nichts verstecken.«

»Hm. Sieht aus wie ein Stab oder Stock, da haben Sie recht. Könnte theoretisch auch ein Gewehrlauf sein, aber Fräulein Paulus ist nun mal weder erschlagen noch erschossen worden.«

 

»Stimmt.« Auguste seufzte und ließ die Schultern hängen. »Das Foto hilft also niemandem weiter.«

»Das hab ich nicht damit gemeint, Fräulein Fuchs. Im Gegenteil. Sie haben doch gesagt, dass Charlotte Paulus in dem Augenblick, in dem Sie das Blitzpulver entzündet haben, aufgeschrien hat.«

»Richtig.«

»Und das hier«, Wilhelmi tippte nachdrücklich auf das Foto, »das hier beweist, dass irgendetwas ihr einen Schrecken eingejagt haben muss. Sonst hätte sie für die fotografische Aufnahme doch still gehalten. Oder nicht?«

Auguste nickte. »Sie war geradezu mustergültig diszipliniert.«

»Jetzt überlegen Sie mal: Wenn ihr jemand in der Limonade oder dem Tee, den Frau Preissing hochgebracht hatte, Gift eingeflößt hätte: Hätte sie dann nicht eher allmählich darauf reagiert? Mit Übelkeit oder Benommenheit oder was weiß ich?«

»Ich weiß das noch weniger als Sie, Herr Kriminalassistent, und ich kann mir genauso wenig wie Sie einen Reim auf das Ganze machen.« Das klang schon wieder schnippisch, und Auguste fragte sich, warum um alles in der Welt dieser Kerl sie mit den harmlosesten Bemerkungen derart zu Widerspruch reizen konnte.

»Fest steht, dass weder Hanna Runtschen noch ihre Schwester auf das, was da am Bildrand vor sich ging, in irgendeiner Weise reagiert haben. Und auch Herr Temba sitzt ja offensichtlich ruhig da.«

»Und das bedeutet …?«

»Das heißt, dass scheinbar nur Charlotte Paulus sich erschreckt hat, und das ist seltsam, oder?«

»Ja, wenn Sie meinen …« Auguste wusste nicht so recht, inwieweit dieser Umstand von Belang war, doch noch bevor sie nachfragen konnte, stand Wilhelmi auf. »Dürfte ich das Bild wohl mitnehmen?«

Auguste nickte. Als Wilhelmi in die Jackentasche griff und sein Portemonnaie hervorzog, winkte sie entschieden ab. »Behalten Sie’s. Herr Weinfurth wird die Aufnahme sowieso nicht verwenden können.«

Auf dem Weg zurück zur Ladentür wurde Wilhelmi schlagartig wieder förmlich. »Dann bedanke ich mich hiermit bei Ihnen und Ihrem Herrn Vater für Ihre Hilfe.« Er war bereits im Begriff, seinen Hut wieder aufzusetzen, als Auguste ihn zurückhielt. »Sie könnten mir doch im Tausch gegen das Foto erzählen, was das für eine Mission ist, auf die Sie Ihr Vorgesetzter heute Abend noch geschickt hat.« Erschrocken stellte sie fest, dass sie bei ihrer Frage den Kopf kokett zur Seite geneigt hatte. Das war in keiner Weise besser als ihre Patzigkeiten; das war einfach unmöglich! Nur: Daran war im Nachhinein nichts mehr zu ändern

Wilhelmi holte tief Luft, als wollte er etwas Bedeutungsvolles sagen, doch dann überlegte er es sich zu Augustes Bedauern wieder. »Glauben Sie mir, Fräulein Fuchs, das möchten Sie nun wirklich nicht genauer wissen.« Dann setzte er seinen Hut auf, sagte »Adieu« und verschwand im abendlichen Getümmel der Friedrichstraße.

Im Gerichtsmedizinischen Institut trug Reginald Wündrich die Ergebnisse der inneren Leichenschau in das dafür vorgesehene Formblatt ein.

Todesursache:

Herzstillstand bei systolischer Kontraktion.

Befund spricht für die Anwesenheit von Digitalis- oder Strophanthinkörpern. Schürf- und Risswunden an den Extremitäten belegen zudem den von Kollege Dr. Goldstein geschilderten, für die Einwirkung von hochdosiertem Strophanthin charakteristischen Todeskampf mit Erregung, Angstzuständen, Halluzinationen und starker Konvulsion.

Wieder was dazugelernt, stellte Reginald Wündrich zufrieden fest. Wenn keinerlei Schäden am Herzmuskelgewebe festgestellt werden können und das Herz nicht etwa wie normalerweise in der Diastole stehen geblieben ist, kann also, wie Professor Straßmann es ausgedrückt hat: »… von einer äußeren Einwirkung auf das Organ durch Zufügen eines hochdosierten, lokal wirksamen Giftes ausgegangen werden.« In die nächste Zeile gehörte demzufolge:

Tod durch Fremdverschulden.

Reginald Wündrich nahm sich vor, bei der nächsten Vorlesung ein bisschen mit seinem neu erworbenen Wissen herumzuprotzen. Die bornierten Von-und-Zus unter den Kommilitonen hatten es jedenfalls nicht besser verdient. Er gähnte, streckte die Beine unter dem Tisch aus und ließ die Knöchel in seiner Schreibhand knacken. Beinahe hätte er den letzten Eintrag vergessen:

Besonderheiten:

Schwangerschaft, etwa Beginn des zweiten Trimesters


KAPITEL 4


He, Gustchen! A penny for your thoughts!« So wortkarg und in sich gekehrt wie an diesem Abend hatte Henrietta ihre Nichte selten erlebt. Charlotte Paulus war blutjung gewesen, im selben Alter wie Auguste. Da war es nur verständlich, dass der Tod einer Gleichaltrigen Auguste nachhaltig beschäftigte. »Wer könnte so unheimlichen Hass auf sie gehabt haben, dass er sie umbringt?«, murmelte sie, »ich meine: Was kann man als Frau schon Schlimmes anrichten?«

»Schönheit war schon immer ein Motiv für Neid und Eifersucht«, stellte Augustes Vater achselzuckend fest. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist bei den alten Griechen wegen einer schönen Frau sogar ein jahrelanger Krieg vom Zaun gebrochen worden.«

»Unsinn, Julius!« Henrietta warf klirrend ihr Messer auf den Abendbrotteller. »Das mit der schönen Helena und Troja und dem ganzen Drum und Dran hat sich der alte Homer doch bloß ausgedacht! Wahrscheinlich ging’s den Griechen in ihrem hölzernen Gaul nur um das Übliche.«

»Und das wäre?«

»Macht und Geld. Außerdem gehört Kriegführen bei euch Kerlen doch sowieso zum guten Ton.«

»Aber Charlotte Paulus war eine Frau und hatte, wie es aussieht, keinerlei Ambitionen in Bezug auf Macht und Geld«, warf Auguste ein, bevor sich ihr Vater und Tante Hattie einen längeren Schlagabtausch liefern konnten. »Ich versteh das Ganze einfach nicht.«

»Na, warten wir es erst mal ab«, lenkte Henrietta ein, »vielleicht findet dein flotter Kriminalassistent ja ganz schnell die Lösung.«

Während Auguste Tante Hatties Formulierung geflissentlich überhörte und betont ausgiebig an ihrem Schinkenbrot herumsäbelte, machte sich »ihr« Kriminalassistent auf den Weg nach Treptow: die Behrenstraße entlang mit der Elektrischen bis zum Haupteingang III der Gewerbeausstellung. Als er dort ankam, schloss diese soeben ihre Pforten, und Sigismund Brändel, der als eine Art Hausmeister für die auf dem Gelände befindliche Kolonialausstellung fungierte, empfing Wilhelmi mit einem bärbeißigen »Ick dachte schon, Sie komm’ nich mehr«.

Die »Berliner Gewerbeausstellung von 1896« – von den Veranstaltern gern als verhinderte Weltausstellung bezeichnet – war die Sensation des Jahres! Auf einem Areal von rund neunzig Hektar tummelten sich mehr als dreieinhalbtausend Aussteller. Über die üblichen Werkschauen hinaus boten sich den Besucherinnen und Besuchern etliche Restaurants und Brauhäuser zum Verweilen an, und es gab jede Menge Attraktionen wie Rundfahrten mit venezianischen Gondeln, Bartschneidenlassen bei einem »Muzajin« – einem veritablen ägyptischen Barbier – oder in die Luft gehen mit »Zekeli’s Riesen-Fesselballon«. Sogar eine Sternwarte hatte man gebaut. Allerdings hatte deren Riesenfernrohr auch vier Wochen nach der Eröffnung noch niemand zum Funktionieren gebracht. Zum pädagogisch wertvollen Amüsement gehörten außerdem die Nachbildungen deutscher Kriegsschiffe, die auf der Spree paradierten und brave kleine Matrosenanzugträger von einer Zukunft als Marineoffizier träumen ließen. Besonderer Anziehungspunkt jedoch war die »Erste Deutsche Colonialausstellung« am Treptower Karpfenteich, mit »Original-Negerdörfern« und »Straßen und Gassen in Kairo«.

Bis dorthin waren es vom Eingang III aus nur wenige Schritte, doch Sigismund Brändel führte Jakob Wilhelmi nicht wie erwartet zum entsprechenden Ausstellungsareal, sondern weiter abseits zu einer Reihe grob gezimmerter Baracken.

»Die könn’ wer leider nich in ihre Negerhütten übernachten lassen. Sterben ei’m bei dem Regen ja sonst weg wie die Fliegen, versteh’n Se?«

»Natürlich. Ich hab gehört, dass tatsächlich einer der Afrikaner vorgestern Abend gestorben ist. Völlig überraschend, hieß es.«

»Da ham Se richtig gehört. War aber nich vor Kälte, sondern war ’n Unfall. Kann jedem passieren. Aber wenn Se mich fragen, ham die hier sowieso nischt verloren: Alle naslang fällt einer wejen Dünnpfiff aus, weil die Berliner Küche nu mal nich aus Vogelfutterpampe mit Kängurukotelett besteht!«

Jakob Wilhelmi verkniff sich die Bemerkung, dass das gemeine Känguru in Afrika selten bis gar nicht anzutreffen war und von daher vermutlich auch nicht auf den entsprechenden Speisekarten anzutreffen sein dürfte.

»Versteh’n Se mir nich falsch«, schwadronierte Sigismund Brändel weiter, »aber die soll’n doch bleiben, wo der Pfeffer wächst! Meine Meinung!«

Gut, der Pfeffer ist korrekt in Afrika verortet, dachte Jakob. »Aber …«

Doch Brändel ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen. »Dumm, faul und unordentlich – wenn Se mich fragen! Verfressen, tückisch und verlogen! Und kaum hat einer von denen ’n bissken Hüsterken – zack! – hat er ’t uff der Brust. ’n paar von denen liegen immer flach! Und denn wird zu irgendeinem Affengott oder wat weeß ick jebetet und sich über den Karbolgeruch beschwert! So, da wär’n wer.« Brändel machte keinerlei Anstalten, Jakob weiter als bis zu dem Gatter, das den Eingang der Barackensiedlung markierte, zu begleiten. »Viel Jlück, wa?«

»Danke, Herr Brändel. Und schönen Abend noch.« Wenn Jakob angenommen hatte, den Schwätzer endlich los zu sein, dann hatte er sich getäuscht: Brändel rührte sich nicht von der Stelle. »Jawoll ja, Jlück wer’n Se brauchen, weil …«, er senkte bedeutungsvoll die Stimme, »… die Kaffern seh’n doch alle gleich aus. Und da drin sind mehr als hundert von denen. Wie Se da Ihre Verbrecher rausfinden wollen, is mir ’n Rätsel.«

»Die Herren sind keine Verbrecher, sondern Zeugen«, versetzte Jakob, doch Brändel winkte ab: »Sind doch allesamt irgendwie nich richtig im Kopp«, erklärte er und verfiel wieder in seine übliche Sprechlautstärke. »Besonders die Hottentotten. Machen hier uff feine Pinkel, versteh’n Se? Sind sich zu vornehm für nackig und Baströckchen. ›Herero- und Hottentottenkarawane‹ in Hut und Anzug? Wo jibt’s ’n so wat?«

»Das weiß ich leider nicht.« Wilhelmi zuckte mit den Schultern. »Vielleicht da, wo die Herrschaften herkommen. Waren Sie denn schon mal dort?«

»Nee.« Sigismund Brändel hatte offenbar wenig Gespür für Ironie. »Aber sich für teuer Jeld aus ihrem Kral hierherbringen lassen und denn nich mal ’n bissken nackte Haut zeigen? Wenn Se mich fragen: Da sind unsere Zuschauer mit Recht sauer!«

»Ach, sind sie das?«

»Na ja, wie man munkelt, wohl eher die Zuschauerinnen«, Brändel grinste obszön und stieß Jakob plump-vertraulich seinen Ellenbogen in die Rippen. »Manche Weiber sind ja janz verrückt nach die Wilden, weil: Die Kerle soll’n da unten rum so einijes zu bieten haben. Aber kleene braune Kinder machen is nich. Wir schicken die janze Mannschaft einmal die Woche in ’n Puff, und fertig. So!« Er stieß das Gatter auf, das die Barackensiedlung umgab. »Anschließend nur kurz klingeln, denn lass ick Ihnen raus«, und damit drehte er sich um und stapfte auf ein schmuckes kleines Blockhaus zu, das ihm während der sechs Monate, die die Ausstellung laufen sollte, offenbar als Hausmeisterwohnung diente.

Jakob näherte sich mit gemischten Gefühlen einer Gruppe von Afrikanern, die sich im Innenhof der Barackensiedlung um eine Feuerstelle scharten. Bis auf einen – offenbar der Älteste von ihnen – trugen alle europäische Kleidung. »Guten Abend!« Der doppelt geschlungene Wollschal wollte nicht so recht zu seinem Umhang aus bedrucktem Kattun passen. »Berlin ist kalt«, erklärte der Mann und deutete lächelnd auf seinen Hals. »Können wir irgendwas für Sie tun?«

»’n Abend. Danke, ja. Mein Name ist Jakob Wilhelmi, Kriminalassistent.«

»Angenehm. Natchaba, Koffi. Koffi ist der Vorname«, setzte der Schwarze lächelnd hinzu. »Wir gehören zur Togo-Truppe«, die anderen Männer nickten höflich, »morgens landestypisches Handwerk und nachmittags wilde Tänze und Kriegsspiele.«

 

Wilhelmi schaute betreten zu Boden. Koffi Natchaba sprach so gut wie akzentfrei Deutsch und war eindeutig alles andere als der exotische Wilde, den ganz Berlin seit Anfang Mai mit einer Mischung aus Schauder und Faszination zu begaffen pflegte.

»Verzeihen Sie die Störung, aber ich würde gerne drei …«, Wilhelmi suchte nach den richtigen Worten, »… drei … Kollegen von Ihnen sprechen. Zwei Mitglieder der ›Herero-und-Hottentotten-Karawane‹: Frans und Cornelius Morenga und einen Herrn, der offenbar nicht hier wohnt …« Wilhelmi las den ungewohnten Namen von seinem Büchlein ab: »… Aleeke Mambila.«

»Stimmt. Mambila gehört nicht zu uns. Der ist beim Auswärtigen Amt angestellt. In der Kolonialabteilung. Sitzt drüben im Verwaltungsgebäude. Nur: Da dürften Sie um die Zeit niemanden mehr antreffen. Wie ich Mambila kenne, ist der in der Oper oder im Ballett oder sonst wo unterwegs. Aber die Morenga-Brüder finden Sie gleich ein Haus weiter. Die Herren sind übrigens Nama.«

»Aha?« Jakob kratzte sich am Kinn, und auf Koffi Natchabas Gesicht breitete sich ein gutmütiges Grinsen aus. »Die Nama wegen ihrer Sprache Hottentotten zu nennen, ist etwa so höflich wie einen freundlichen Berliner Eingeborenen wie Sie wegen Ihres Riechorgans als Spitznase zu bezeichnen.«

Unwillkürlich griff Jakob an seine Nase.

Koffi lächelte immer noch. »Eindeutig … scharfkantiger als meine, was?«

»Ähm. Ja.«

»Aber Nase ist Nase, oder?«

»’türlich. Klar.« Bevor seine Verwirrung überhandnehmen konnte, verabschiedete sich Jakob und ging auf die angegebene Baracke zu. Dass ein offensichtlich hochgebildeter Schwarzer als »Wilder« auftrat und den Berlinerinnen und Berlinern irgendwelche Stammesriten vorführte, von denen er zuvor womöglich noch nie etwas gehört hatte, war mehr als irritierend. Und die Sache mit der Nase, den Nama und den Hottentotten verstand Jakob erst recht nicht.

Immerhin: Die beiden Morenga-Brüder zu finden war nicht schwer. Sie erkannten den jungen Kriminalassistenten sofort wieder und gaben mithilfe eines Dolmetschers bereitwillig Auskunft: Sie kannten Ndeschio Temba, den Hotel-Pagen, vom Sehen, denn schließlich mussten sie auf dem Weg zu den abendlichen Varietévorstellungen am Eingang des Central-Hotels vorbei. Aber darüber, wo er sich zurzeit aufhielt, konnten sie beim besten Willen keine Auskunft geben. Nach dem Darsteller, der für den verstorbenen Kollegen eingesprungen war, gefragt, zuckte der Dolmetscher mit den Achseln. »Jeder kennt hier Aleeke Mambila. Der teilt die Leute ein und setzt die Auftrittszeiten an und so weiter. Aber der wohnt natürlich nicht hier bei uns.«

Wieso das »natürlich« war, erschloss sich Jakob nicht so recht, aber offenbar bekleidete Mambila eine Stellung, die mit Privilegien verbunden war. Dass er – genauso wie die beiden Morenga-Brüder – die Kolonialausstellung als Adresse angegeben hatte, war allerdings insofern logisch, als er davon ausgehen konnte, dass Polizeibesuche nur während der normalen Arbeitszeiten zu erwarten waren.

Sigismund Brändel öffnete die Tür zu seinem Blockhaus nur einen Spalt breit, als Jakob klingelte. »Wo der Mambila wohnt, kann ich nich sagen«, brummte er. Und ansonsten solle der Herr Unterkommissar gefälligst morgen wiederkommen, weil er, Sigismund Brändel, jetzt Feierabend habe.

Mit dem mageren Ergebnis seiner Nachforschungen alles andere als zufrieden, kehrte Jakob Wilhelmi zum Alexanderplatz zurück. Für heute war auch für ihn Feierabend, und morgen würde man dann eben weitersehen.

Professor Straßmanns Obduktionsbericht war scheinbar kurz vor Dienstschluss noch auf von Barnstedts Schreibtisch gelandet. Daraus ging zweifelsfrei hervor, dass es sich beim Tod von Charlotte Paulus um einen Mordanschlag gehandelt hatte.

Jakob konnte sich angesichts der Momentaufnahme, die ihm die resolute Fotografin überlassen hatte, keinen Reim darauf machen, dass Ndeschio Temba erwiesenermaßen nicht mehr in sein Zimmer im Central-Hotel zurückgekehrt war. Auf dem bewussten Foto kniete er vor Charlotte Paulus auf dem Boden und hatte den Deckel des Schlangenkorbs in den Händen. Das hieß, er war ganz offensichtlich nicht der Täter. Doch sein Verschwinden war merkwürdig und machte ihn natürlich verdächtig.

»Strophanthin?« Max von Jadow runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Wieso sollte jemand einem Tingeltangel-Mädchen einen solchen Tort antun?«

Von Barnstedt zuckte mit den Schultern und winkte dem Kellner, um eine Flasche Roederer Carte Blanche zu ordern. Ein Souper im »Hiller« war das Mindeste, was er seinem alten Internatsfreund zur Begrüßung bieten musste: Schließlich war Max von Jadow erst vor ein paar Monaten aus Ost-Afrika zurückgekehrt, und es lag ganz in Kommissar von Barnstedts Interesse, dass er sich möglichst schnell wieder heimisch fühlte: Beziehungen konnte man nie genug haben, und dass sein alter Kumpel als Baron in der Adelshierarchie erheblich höher angesiedelt war als er selbst, war sicher nicht von Nachteil.

»Wir werden sehen.« Nachdem er auf von Jadows Wohl getrunken hatte, beschloss der Kommissar, ein wenig mit dem Fall, den er seit heute auf dem Schreibtisch hatte, anzugeben. »Stell dir vor: Das Mädel war schwanger! Wer weiß, vielleicht sogar von diesem Neger, der sich im Handumdreh’n verdünnisiert hat! Die beiden müssen sich gekannt haben, sonst hätten die sich nicht in dieser Negersprache miteinander unterhalten können.«

»Verstehe …« Von Jadow sah, ganz offensichtlich interessiert, von seinem Croquembouche, einer köstlichen Windbeutelpyramide, auf. »Und weiß man denn, um welche Negersprache es sich handelt? Davon gibt’s schließlich Hunderte. Wenn nicht sogar noch mehr.«

»Na, hierzulande kann dieses Kauderwelsch doch sowieso keiner unterscheiden. Und ist ja schließlich auch egal.« Von Barnstedt war nicht mehr zu bremsen. »Es ist mir einfach schleierhaft, wieso der Leichenfledderer nicht aufgeschrieben hat, ob das arme Wurm im Bauch von unserer Toten denn nun weiß war oder braun.«

»Den Schleier kann ich dir aus eigener Erfahrung lüften.« Von Jadow grinste überlegen. »Ob so ein Bankert schwarz, weiß oder braun sein wird, kann man mitunter nicht mal kurz nach der Geburt feststellen.«

»Was? Max, komm, verkohl mich nicht! Das ist jetzt nicht dein Ernst!«

»Mein voller Ernst. Weil sich die Haut manchmal erst später dunkel färbt.«

»Und woher weißt du das?«

»Glaubst du vielleicht, wir würden uns in Afrika das eine oder andere gut gebaute Negerweib entgehen lassen?« Von Jadow zwinkerte von Barnstedt zu und lachte leise. »Und wo gehobelt wird, da fallen Späne.«

Von Barnstedt ging nicht weiter darauf ein. Es war ihm peinlich, dass von Jadow offen mit Affären prahlte, obwohl er sich die schöne Sidonie geangelt hatte, den Schwarm der ganzen Oberprima. Aber von Jadow war schon damals ein verdammt gut aussehender Kerl gewesen, und keiner aus der Klasse wäre je auf die Idee gekommen, ihm bei der Werbung um die schöne Sidonie im Weg zu stehen. Dass diese Elfe ihren Mann trotz ihrer zarten Kondition ins ferne Afrika begleitet hatte, machte sie in von Barnstedts Augen zu einer wahren Heiligen. Und dass der undankbare Kerl sich dort trotzdem mit schwarzen Frauen …

»Wenn du mich fragst«, unterbrach von Jadow die Gedanken seines Gegenübers, »dann hat der Täter sich für seine Tat ein reichlich kompliziertes Mordszenario ausgedacht.«

»Wie auch immer.« Von Barnstedt war im Namen seiner Jugendliebe Sidonie verschnupft und nicht gewillt, das Thema »schwarze Konkubinen« weiterzuverfolgen.

Die Rechnung, die er eine halbe Stunde später zu begleichen hatte, war deutlich höher als geplant, und er war fest entschlossen, wenigstens das Geld für eine Droschke einzusparen und zu Fuß nach Haus zu gehen. Doch Max von Jadow ließ es sich nicht nehmen, ihn in seiner Motorkutsche heimzufahren. »Wo darf’s denn hingeh’n?«

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