Dornröschen muss sterben

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19

Klaus Kuhlmann stand in Neßmersiel und wartete auf die Fähre. Er war sauer. Natürlich war logisch, dass der Segelmacher in Norden heute geschlossen hatte. Tourismus, Service am Gast, Segelsaison, alles Banane. Es war Feiertag und das war’s.

Er hätte noch stundenlang weiter vor sich hin schimpfen können, so wie er es getan hatte, seit er die kleine Stadt mit dem großen Marktplatz verlassen hatte. Genauer gesagt, seit er mit dem Bus nach Norden zum Bahnhof gelangt war und von dort mit der Taxe zum Segelmacher ins Gewerbegebiet Leegmoor. Nur um dann vor verschlossener Tür zu stehen. Das Taxi hatte er da natürlich schon wieder weggeschickt. Kostete ja Geld. Nicht, dass er geizig wäre. Aber einem Taxifahrer Geld in den Hintern schieben? Nur im Notfall!

Er hätte vorher bei der Firma anrufen sollen, das wusste er jetzt auch. So war er mit seinem schweren Segelsack und der kaputten Fock über der Schulter und Wuffel an seiner Seite langsam zum Bahnhof zurückgelaufen. Eine Tortur bei der Hitze. Und dann die vergeudete Zeit. Was hätte er schön mit seiner Schnucki segeln können! Wenn nur nicht die Fock so blöde eingerissen wäre.

Nicht mal die Stadt hatte er besichtigen können. Wo hätte er denn mit seinem verdammten Segelsack hin sollen. Die Geschäfte hatten auch alle zu. Die Stunden, bis der Bus der Baltrum-Linie wieder Richtung Neßmersiel gefahren war, hatte Kuhlmann im Burger King am Bahnhof abgesessen.

Langsam kam das Schiff durch die Fahrrinne dem Anleger näher.

Er freute sich. Auf die Insel, sein Boot und natürlich auf Schnucki. Er hoffte nur, dass sie kein großes Abendessen zubereitet hatte. Die Stunden im Schnellrestaurant hatten seinen Magen gut gefüllt. Er wollte jetzt nur noch die Beine hochlegen und später mit einem guten Gläschen Talisker den Sonnenuntergang genießen. Auch Wuffel merkte man an, dass er sich gerne in seinen Hundekorb in der Kajüte zurückgezogen hätte. Das Abendschiff war recht leer, so hatte Klaus Kuhlmann auf dem Oberdeck freie Platzwahl. Er ließ sich auf eine der blauen Bänke sinken und genoss die Sonne, die noch hoch über Norderney stand.

»Bitte einzeln die Fahrkarten vorzeigen!«

Klaus Kuhlmann schreckte auf. Da hatte er doch die ganze Überfahrt verschlafen. Egal. Er war da. Kuhlmann schaute vom Deck aus auf den Anleger. Er war enttäuscht. Hatte er doch gehofft, dass Schnucki ihn und Wuffel abholen würde. Aber es war nichts von ihr zu sehen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie vernarrt sie in den Hund ist, dachte er sarkastisch.

Er wartete, bis er seine Fock aus dem Container holen konnte, lud sie auf eine der Wippen, die offenbar herrenlos herumstanden, und lief zum Bootshafen.

Auf der Achteran zeigte sich keine Bewegung. »Na, mein Madamchen hat ihre freie Zeit ja ausgiebig genutzt. Selbst jetzt ist sie noch unterwegs.« Ein kleiner Schwall Magensäure stieg in seiner Speiseröhre hoch. Ob vom Ärger oder den verspeisten Hamburgern mit Pommes, konnte er im Augenblick nicht ermitteln. Er beschloss, sein Unwohlsein auf den Ärger über seine möglicherweise nicht anwesende Gattin zu schieben. Prophylaktisch sozusagen.

Als er auf sein Boot stieg, stellte er fest, dass die Kajütentür von außen verriegelt war. Wenigstens daran hat sie gedacht, dachte er. Er öffnete die Tür, und was er dann sah, veranlasste ihn, drei Doppel Whopper mit Pommes/Majo nebst vier Cola in den Baltrumer Bootshafen zu kotzen.

20

Britta und Hendrik setzten sich an den letzten freien Tisch auf der Terrasse vor dem Restaurant. Von einem großen, grünen Schirm vor der Sonne geschützt, hatten sie einen wunderschönen Blick über die Hellerwiesen bis zum Hafen und über das alte Pfahlschutzwerk bis zur Strandmauer.

Eine ganze Weile saßen sie schweigend und genossen ihren Kaffee mit Aussicht. Das wird mir fehlen, wenn ich wieder in Leer bin, dachte Britta, auch wenn es dort ganz bezaubernde Ecken und Winkel gibt und ich diese Stadt sehr liebe.

Als sich der Kaffee dem Ende zuneigte, versuchte Britta noch einmal, die ganze Geschichte aus Henning herauszuholen. Er aber gab sich wortkarg und blieb bei seiner Version.

»Wolf und Rolle heißen die beiden. Rolle ist ein alter Freund von mir und Wolf ein Gast aus Bremen, der Rolle zufällig kannte und hier wieder getroffen hat. Das haben wir gefeiert. Du kannst sie ja fragen, wenn du unbedingt willst.«

Britta empfand bei Hendriks Erklärung einen üblen Nachgeschmack. Eigentlich war es nicht die Geschichte an sich, sondern sein Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie er sie erzählte. Es klang alles so diffus und abweisend. Als hätte er ein ausgeprägt schlechtes Gewissen. Außerdem war klar, dass er seine Worte nicht beweisen musste, denn sie hatte keine Ahnung, wo sie die beiden Männer finden sollte.

»Danke, kein Bedarf, warum solltest du mich anlügen«, antwortete sie gereizt und konzentrierte sich auf ihren Kaffee.

Eigentlich hatte sie gehofft, sie könnte ihm die Story von ihrem Ex erzählen und von den Ängsten, die sie deswegen verfolgten. Aber als Hendrik nach einer Weile tatsächlich fragte, warum sie schon so früh bei ihm aufgetaucht sei, führte sie nur eine Stunde Freizeit als Argument an. Sie hatte das Gefühl, dass Hendrik im Moment nichts weniger interessierte als ihr Exmann.

»Schau mal, der Polizist fährt mit ’nem Affenzahn Richtung Hafen, siehst du das?« Hendrik zeigte, froh über die Ablenkung, mit ausgestrecktem Arm zur Hafenstraße. »Und der Hilfssheriff folgt ihm auf dem Fuße, nein, auf dem Rade.« Er grinste, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht.

Britta schaute hinter den beiden her. Was da wohl passiert war?

Einige Zeit später hörten sie aus der Ferne Sirenenalarm. Einige Gäste waren aufgestanden und beugten sich über die Brüstung, um nichts von der sich anbahnenden Aufregung zu verpassen.

Hendrik und Britta sahen den Krankenwagen mit großer Geschwindigkeit hinter den beiden Polizisten her zum Hafen fahren. Die blaue Rundumleuchte und der Signalton sorgten in Sekundenschnelle für Platz auf der Hafenstraße.

»Wollen wir los? Ich muss wieder zu meiner Gruppe und du wirst sicher noch ein Schläfchen machen wollen.« Britta hatte auf einen zumindest klitzekleinen Widerspruch gehofft, aber sie sah sich enttäuscht. Hendrik nickte.

»Das wäre gut, lass uns zum Hafen gehen. Dein Fahrrad steht da noch und meine Koje wartet auch auf mich.« Hendrik legte das Geld auf den Tisch, und sie machten sich wortlos auf den Weg.

Von der unbeschwerten Fröhlichkeit der letzten drei Tage war nichts geblieben, und davon, den Abend zusammen zu verbringen, war keine Rede mehr.

21

Inselpolizist Michael Röder und Thomas Zahn, ein Kollege vom Festland, der im Sommer als Verstärkung aushalf, hatten in dem kleinen Büro der Polizeidienststelle Teepause gemacht, als der Einsatzbefehl von der Leitstelle gekommen war. Verblüfft hatten sie sich angeschaut, denn der Kollege hatte von »literweise Blut« gesprochen, und dass er daraufhin auch die Ärztin alarmiert habe.

»Wenn das man kein Dummejungenstreich ist«, hatte Röder gesagt. »So nach dem Motto: Sollen die sich auch ruhig mal bewegen.«

Als sie mit ihren Fahrrädern am Sportboothafen ankamen, war ihnen klar, dass tatsächlich etwas passiert sein musste. Am Ende des ersten Quersteges scharte sich eine kleine Gruppe um einen Mann, der laut schluchzend auf dem Steg saß. Ein brauner Terrier, der seine Leine hinter sich herzog, begrüßte die Polizisten mit lautem Bellen.

»Was ist passiert?«, fragte Röder den Hafenmeister, der abseits der Gruppe stand und betont gleichgültig ins Hafenbecken blickte.

Der sagte nur: »Da drin in der Achteran. Mausetot ist die.«

Die Gruppe machte ihnen bereitwillig Platz. Die Kajütentür der Achteran stand weit offen und den beiden Polizisten bot sich ein Bild, das sich wohl für lange in ihr Gedächtnis einbrennen würde.

Halb auf der Sitzbank und halb auf dem Boden lag eine Frau. Der nackte Oberkörper war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Überall lag zerbrochenes Glas und es roch beißend nach Alkohol, obwohl die Kajütentür sicherlich schon eine Zeit lang offen gestanden hatte. Eine leere Flasche rollte mit der Bewegung des Bootes in einem See von Blut hin und her.

Der Kopf der Toten lag angewinkelt auf der Bank, um den Hals festgezurrt sahen sie einen weißen Spitzenbüstenhalter.

Ihr kleiner Slip war bis zu den Knien hinabgezogen.

Michael Röder wurden die Beine weich. Er schaute seinen Kollegen an und stellte fest, dass es dem auch nicht besser ging. Sie nickten sich aufmunternd zu und drehten sich um.

»Weiß jemand, was hier passiert ist?«, fragte Thomas Zahn. »Wer ist die Dame und wer hat sie gefunden?«

»Ich, ich habe sie gefunden. Das ist doch meine Frau.« Der Rest seiner Worte ging in haltlosem Schluchzen unter. Sie würden wohl auf die Ärztin und ein Beruhigungsmittel warten müssen. Der Mann hatte einen Schock, dem war jetzt nichts mehr zu entlocken.

»Wer hat die Polizei gerufen?« Michael Röder schaute sich um.

»Ich«, meldete sich Klaas Bengen unwirsch. »Der Mann hat geschrien. Da bin ich hin. Ich habe dann den Notruf gewählt. Was sollte ich sonst machen?«

»Wissen Sie, wie der Eigner des Bootes heißt?«

Klaas Bengen schaute zu dem Mann, der zusammengesunken auf dem Steg saß. »Nee, weiß ich nicht. Ich habe keinen Anmeldezettel. Obwohl er schon zwei Tage hier ist!« Die Stimme des Hafenaufsehers klang drohend.

»Haben Sie hier sonst noch jemanden gesehen?«, fragte Röder.

»Nein. Außer dem da war sonst keiner hier. Alle weggegangen.« Offenbar in der Annahme, dass er nichts mehr zur Aufklärung beitragen musste, drehte sich der Hafenmeister um und schlurfte davon.

 

Die beiden Polizisten ließen ihn gewähren, denn in diesem Moment hielt der Krankenwagen in Höhe des Bootshauses. Dr. Ellen Neubert, die Inselärztin, kam mit den beiden Rettungsassistenten über den Steg gelaufen. »Was steht an?«

»Da drin liegt eine Frau«, antwortete Röder. »Blutüberströmt. Ich denke, dass sie tot ist, aber das kannst du sicher besser beurteilen. Kleine Warnung: Es ist kein schöner Anblick …«

Dr. Neubert trat vor die geöffnete Kajütentür und verharrte dort einen Moment. Dann gab sie sich sichtlich einen Ruck. »Ich neige dazu, deine Meinung zu teilen, Michael, aber ich muss mir ein genaues Bild verschaffen.«

Sie stieg vorsichtig die fünf Stufen hinunter, die in das Innere der Achteran führten. Michael Röder sah, dass die Ärztin sich auch ohne Aufforderung bemühte, mit möglichst wenigen Dingen in Berührung zu kommen. Besonders achtete sie darauf, nicht in die Blutlache zu treten, die sich um die Frau gesammelt hatte. Ganz gelang es ihr jedoch nicht.

Von Nahem betrachtet gab es für sie offenbar keinen Zweifel. »Die Frau ist tot. Die ersten Totenflecken sind bereits ausgebildet.« Dr. Neubert zeigte auf den Büstenhalter, der der Toten um den Hals geschlungen worden war und sich tief in die Haut gegraben hatte. »Wer auch immer wollte, dass dieser Frau gründlich die Luft abgeschnürt werden sollte, hat ganze Arbeit geleistet.«

Sie betrachtete die Schnitte, die sich über den Körper verteilten. »Zwischen den Schnitten sind auch einige kreisrunde Löcher, die wie Einstiche aussehen. Sie müssen mit etwas sehr Spitzem ausgeführt worden sein.« Sie drehte sich zu den Polizisten um. »Meine Arbeit ist beendet, meine Herren. Dies ist ein Fall von unnatürlicher Todesursache. Jetzt müssen eure Fachleute ran. Hier hat der gemeine Arzt nichts mehr zu suchen.«

Man merkte Dr. Neubert äußerlich in diesem Moment nicht an, dass sie gar nicht so undankbar über diesen Umstand war.

Aber es gibt eben sonne und solche Todesfälle, dachte Röder, und dieser war ganz eindeutig einer von den anderen. Die Frau war grausam zugerichtet worden. Oder hergerichtet? Nein, dachte er, hingerichtet. Das war das richtige Wort für seinen Eindruck von dieser Situation.

»So, meine Herrschaften, ich möchte Sie bitten, diesen Steg zu verlassen«, wandte er sich an die immer größer werdende Menschentraube, die neugierig auf die Unglücksstelle starrte. »Aber warten Sie bitte oben vor dem Häuschen der DGzRS auf uns. Wir möchten Ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Es wäre schön, wenn Sie sich so lange um den Hund kümmern würden, bis wir da sind.« Der Terrier lief immer noch bellend von einem Steg zum anderen und genoss, dass am anderen Ende der Leine keiner war, der ihn hielt. »Und Sie«, Röder wandte sich dem Mann zu, der inzwischen völlig apathisch auf einer Decke liegend von der Ärztin versorgt wurde, »können Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«

»Klaus, Klaus Kuhlmann. Und das ist mein Boot. Und da drin ist …« Seine Stimme versagte wieder und Ellen Neubert schüttelte den Kopf.

»Lass man, da geht jetzt nichts mehr. Wir nehmen ihn jetzt erst mal mit in die Praxis. Ich rufe dich an, wenn er ansprechbar ist.«

Die beiden Rettungsassistenten hatten derweil die Trage aus dem KTW geholt. Vorsichtig legten sie Klaus Kuhlmann darauf und wollten ihn zum Fahrzeug schieben, als der Mann sich aufrichtete und schrie: »Nein, ich kann Hedda doch nicht alleine lassen. Lasst mich sofort hier runter.« Mit Mühe gelang es den beiden, Klaus Kuhlmann mitsamt der Trage auf dem schmalen, wackeligen Steg zu halten. Erst als auch Michael Röder und Thomas Zahn zugriffen, stabilisierte sich die Lage.

Dr. Neubert sprach beschwichtigend auf den verzweifelten Mann ein, der sich trotz der Spritze, die sie ihm bereits gegeben hatte, noch nicht beruhigen konnte. »Herr Kuhlmann, ich weiß, es ist leicht gesagt, aber bitte fassen Sie sich. Sie stehen unter Schock. Ich muss Sie mit in die Praxis nehmen. Die Polizisten werden sich um alles kümmern.«

»Auch um Wuffel?«

Die Ärztin schaute Kuhlmann fragend an, dann fiel ihr Blick auf den Hund. »Auch um Wuffel«, versicherte sie ihm.

Michael Röder schaute dem Krankenwagen nach, der sich seinen Weg zur Praxis der Inselärztin bahnte. »Thomas, holst du Flatterband und das dicke Vorhängeschloss, das in der Schublade unter dem Computer liegt? Nimm den Hund mit und bring ihn meiner Frau. Sie wird sich um ihn kümmern. Das Boot werden wir jetzt beschlagnahmen, und dafür Sorge tragen, dass sich ihm keiner mehr nähert. Ich werde erste Spuren sichern und dann die Leute befragen. Mit dem Mann des Opfers können wir uns hoffentlich auch noch unterhalten. Dann hätten wir vielleicht schon ein paar Informationen, die wir den Kollegen vom Festland auf den Tisch legen können. Ich werde jetzt mit Aurich telefonieren.«

Röder schloss die Kajütentür. Er hoffte, dass seine Kollegen vom 1. Fachdezernat für Brand- und Todesermittlungen noch heute auf die Insel kämen. Der durchdringende Geruch nach Alkohol und Blut, der aus der Kajüte kam, wurde durch die Sonneneinstrahlung auf das Kunststoffdach und die dadurch entstandene Wärme in dem Raum kräftig verstärkt. Aber solange die Fachkollegen nicht da waren, durfte nichts verändert werden.

Er griff zum Telefon und rief bei der Reederei an. Glücklicherweise war der Chef im Hause und versicherte ihm, dass die Baltrum III, problemlos den Neßmersieler Hafen ansteuern könnte. »Zwei Stunden gibt uns die Tide noch. Das sollte zu schaffen sein. Wann sind denn Ihre Kollegen aus Aurich da?«

»Ich werde gleich anfragen, schätze aber mal, gegen halb neun. Das müsste klappen.«

»Gut, ich sage der Besatzung Bescheid, die wird sich dann entsprechend auf den Weg machen.«

22

Schweigend liefen Britta und Hendrik nebeneinander her. Britta war in Gedanken bei der Lösung eines Problems, das noch gar keines war, und Hendrik mit der Pflege seiner Kopfschmerzen beschäftigt. Auf halbem Wege kam ihnen der Krankenwagen entgegen. Na, da wird wohl nichts Schlimmeres passiert sein, dachte Britta, so schnell, wie der wieder zurückkommt.

Dass ihre Einschätzung nicht der Realität entsprach, merkte sie allerdings, als sie das Schloss ihres Fahrrades aufschließen wollte und plötzlich ein Polizist in Uniform vor ihr stand und sie ansprach.

»Steht Ihr Fahrrad schon länger hier? Entschuldigung, Röder, ich muss Sie um etwas Zeit bitten. Darf ich fragen, wie Sie heißen und was Sie hier machen?«

Britta schaute sich um. Eine ganze Menge Neugieriger hatte sich zwischen dem Häuschen der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und dem Bootsschuppen versammelt. Sie hatte das Gefühl, die Menschen wollten um nichts in der Welt verpassen, was sich hier gerade abspielte.

»Mein Fahrrad steht seit einer Dreiviertelstunde hier, und ich heiße Britta Saathoff. Ich bin Betreuerin bei den Strandspielen und bin mit meinem Verein, dem PSV Leer, auf der Insel. Ich war gerade mit einem Bekannten auf einen Kaffee im Witthus und wollte jetzt wieder zur Mehrzweckhalle fahren.« Ihr fiel auf, dass sie gerade ›einem Bekannten‹ und nicht ›meinem‹ gesagt hatte und dass sie es auch – sie erschrak ein wenig – in diesem Moment genau so empfunden hatte.

»Und wer sind Sie?« Der Polizist wandte sich Hendrik zu.

»Hendrik Beyer und ich bin seit drei Tagen mit meinem Boot, der Antje, hier im Hafen.«

»Und was haben Sie vor dem Kaffeetrinken gemacht, Herr Beyer?«

»Geschlafen«, antwortete er mürrisch. Britta hatte das Gefühl, dass sich Hendrik in diesem Moment äußerst unwohl fühlte und es kaum abwarten konnte, wieder auf sein Boot zu kommen. Sein verkniffenes Gesicht und die heruntergezogenen Schultern sprachen Bände. Die Hände steckten tief in den Taschen seiner verschossenen Jeans.

»Frau Saathoff, danke für Ihre Zeit. Ich schreibe mir noch eben Ihre Handynummer auf und ansonsten weiß ich ja, wo ich Sie bei Bedarf finden kann.«

Damit fühlte sich Britta entlassen, mochte aber noch nicht so ganz diesen aufregenden Schauplatz aufgeben. »Was ist denn eigentlich passiert, Herr Röder?«

»Ein Todesfall, auf der Achteran. Genaueres wissen wir aber noch nicht. Danke, Frau Saathoff.«

»Die Achteran? Ist das nicht das Schiff, das neben der Antje liegt? Hendrik«, aufgeregt fasste sie ihn am Ärmel. »Hast du denn gar nichts mitgekriegt? Ein Todesfall, Das muss man doch merken!« Als Hendrik nicht reagierte, wandte sie sich wieder dem Polizisten zu: »Herr Röder, können Sie denn nichts Genaueres sagen? Vielleicht fällt Hendrik doch noch etwas ein.«

»Frau Saathoff, wir sind gerade erst dabei, die Fakten zusammenzutragen. Und exakt darum muss ich mich jetzt wieder kümmern. Machen Sie sich keine Gedanken.«

Sie merkte, dass sie nun wirklich überflüssig war, und in den Pulk der Schaulustigen, der sich nach und nach immer weiter vergrößerte, mochte sie sich nicht einfügen. Sie blickte sich zum Abschied nach Hendrik um und erschrak. Sein Gesicht war so weiß, als wäre ein Mehlsack über ihm ausgeschüttet worden, und seine noch immer roten Augen zuckten unkontrolliert. Mann, was sieht der weggetreten aus, dachte sie. Was Alkohol doch aus einem Menschen machen kann.

»Dann schlaf du mal schön«, verabschiedete sie sich von ihm. »Bis irgendwann mal oder so.« Damit schwang sie sich auf ihr Fahrrad.

Von Hendrik kam keine Antwort.

23

»Herr Beyer, nun bleiben Sie bitte stehen. Ich hätte noch ein paar Fragen an Sie.« Michael Röder war hinter Hendrik hergelaufen und stellte sich ihm in den Weg. »Auch mich beschäftigt nämlich der Gedanke, dass Sie trotz Ihres angeblichen Schlafes etwas gehört haben müssten.«

Hendrik fuhr auf. »Was heißt hier angeblich? Nichts habe ich gehört. Ich will gehen. Tschüss auch.«

Michael Röder wich keinen Schritt zur Seite. »Herr Beyer, wir suchen uns jetzt ein lauschiges Plätzchen und unterhalten uns in Ruhe unter Ausschluss der Öffentlichkeit.«

In diesem Moment bog Erwin Kanter, der 1. Vorsitzende des Bootsclubs, von der Hafenstraße ab und kam geradewegs auf ihn zugefahren. »Habe gehört, hier ist was passiert?«

Röder stöhnte. »Mein Gott, geht das wieder schnell hier auf der Insel. Zehn Minuten, dann ist alles rum im Ort.«

Kanter nickte. »Ich habe mir nur gedacht, dass du vielleicht den Schlüssel vom Bootshaus brauchst. Deswegen bin ich hier. Ich frage auch nicht, was los ist, kannst du mir später erzählen.« Neugierig schaute er Hendrik an, der wie ein Häuflein Elend neben dem Polizisten stand.

Röder steckte den Schlüssel ein. »Ich danke dir, das war eine gute Idee. Kann sein, dass die Kollegen aus Aurich hier ihre Einsatzzentrale aufschlagen wollen. Du bekommst den Schlüssel zurück, sobald sich die Lage geklärt hat.«

Erwin Kanters Augen weiteten sich. »Kollegen aus Aurich? Dann schaut das nach etwas Schlimmerem aus? Ach, Mann, ich wollte doch nicht fragen, aber als 1. Vorsitzender des Bootsclubs muss man doch …«

»Ja, ein Todesfall auf der Achteran. Die Frau des Eigners. Wir ermitteln noch, wie man so schön sagt. Wir müssen versuchen herauszufinden, wer sich nachmittags hier im Bootshafen aufgehalten hat. Ganz schön schwierig, wenn man bedenkt, wie viele Gäste im Moment auf der Insel sind. Außerdem haben wir ein sehr großes Zeitfenster, da wir über den genauen Zeitpunkt der Tat, ich meine …« Röder räusperte sich. »… des Todes … noch nicht viel wissen.«

Erwin Kanter überlegte kurz und sagte dann: »Lasst euch von Klaas helfen. Der ist oft hier und hat eventuell einen gewissen Überblick über das Kommen und Gehen von heute Nachmittag.«

»Gute Idee und danke für den Schlüssel, tschüss, Erwin.« Michael Röder wandte sich wieder seinem Begleiter zu und sah, dass der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Jetzt kommen Sie erst mal mit rein und setzen sich hin«, sagte der Polizist, nachdem sie an dem Spalier der Schaulustigen vorbei und ins Bootshaus gelangt waren. Die Sonne hatte die Luft im Bootshaus kräftig aufgeheizt, und es roch muffig, aber wenigstens waren sie vor den Menschen draußen sicher. »Sie sind ja ganz fertig. Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Mit einem dumpfen Stöhnen ließ Hendrik sich auf einen der alten Plastikstühle fallen. »Zu viel getrunken. Ich habe heute Morgen zwei alte Bekannte getroffen. Das heißt, einen alten Bekannten, den anderen habe ich heute erst kennengelernt. Wir haben kräftig einen genommen. Ich weiß, hätte ich nicht machen sollen. Britta, also Frau Saathoff, fand das auch nicht lustig.«

 

Auch Michael Röder zog sich einen Stuhl heran. »Sie brauchen sich bei mir nicht für Ihren Alkoholkonsum zu rechtfertigen, Herr Beyer, ich möchte nur wissen, ob Sie irgendwas bemerkt haben, heute Nachmittag.«

»Nein, nein, ich habe gar nichts bemerkt. War doch betrunken und habe geschlafen, bis Britta kam.«

Röder stellte noch ein paar Fragen und hatte das Gefühl, dass zwar alle Aussagen des Mannes zusammenpassten, aber trotzdem schwammig waren, irgendwie nicht richtig greifbar. Das gab ihm zu denken. Ich werde möglichst bald mit seinen beiden Kumpels reden müssen, entschied er, und dann könnte es sein, dass seine schöne Geschichte zerplatzt wie Seifenblasen in der Sonne.

»Haben Sie die Telefonnummern, Namen, Adressen ihrer Bekannten?«

»Warum glauben Sie mir nicht? Was haben meine Bekannten damit zu tun?« Hendrik sprang auf und schleuderte seinen Stuhl in eine Ecke. »Die finden das bestimmt nicht lustig, wenn plötzlich die Polizei vor der Tür steht.«

»Kommen Sie, Beyer, ganz ruhig. Machen Sie keinen Ärger. Sie wollen sich doch an einem so schönen Tag nicht unbedingt die insulare Arrestzelle von innen ansehen, oder?« Michael Röder wäre es in diesem Moment weitaus lieber gewesen, wenn sein Kollege Thomas Zahn auch an der Anhörung teilgenommen hätte. Er hoffte, die Lage würde nicht weiter eskalieren. Dieser Mann hatte plötzlich so viel Wut im Bauch, dass er nur sehr schwer einzuschätzen war. »Wie kommen Sie auf die Idee, ich könnte Ihnen nicht glauben? Ich möchte nur vermeiden, dass mein Vorgesetzter mir nachher Schlamperei vorwirft.«

Doch so schnell wie Hendrik aufgebraust war, fiel er auch schon wieder in sich zusammen. »Okay, wenn ich Ihnen die Daten gebe, darf ich dann gehen? Ich bin einfach nur fertig, kaputt, alle, klaro?«

Röder stand auf. »Ja, aber Sie sollten besser Ihr Boot an einen anderen Liegeplatz verholen. Sprechen Sie mit Klaas Bengen. Der weist Ihnen einen neuen zu. Morgen früh um neun würden wir Sie gerne noch mal auf der Dienststelle sprechen.«

»Das geht leider nicht. Da bin ich schon auf dem Weg nach Langeoog.« Hendrik zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Das geht leider auch nicht. Ich möchte Sie bitten, sich zur Verfügung zu halten. Da Sie unmittelbarer Nachbar der Achteran sind, möchten sich meine Fachkollegen vom Festland bestimmt mit Ihnen unterhalten. Danke, Herr Beyer, bis morgen.«

Hendrik war entlassen.

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