Baltrumer Maskerade

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Montag

»Zeig mir noch einmal die Ringe«, hörte er Petra aus dem Wohnzimmer. Ihre Stimme klang sehr verschlafen, aber fröhlich. Der Abend war noch sehr gemütlich geworden und auch heute Morgen hatte ihre gute Laune angehalten.

Jörg beugte sich etwas näher zum Badezimmer­spiegel und zog seine Haut glatt. Schon wieder ein Pickel. Und noch einer. Er suchte in seiner Kulturtasche nach der antiseptischen Creme. Die Dinger konnten sich zu wahren Monstern ausweiten, wenn er nicht aufpasste. Sein Arzt hatte ihm vor einigen Jahren geraten, die Theaterschminke wegzulassen. Aber wie sollte er das machen? Ein Clown ohne rote Punkte an den Wangen und weiß umrandete Augen, das war für ihn wie … ein Auto ohne Räder. Oder eine Insel ohne Fähre.

Manchmal, wenn einer der Pickel ihn wieder einmal tierisch genervt hatte und nicht heilen wollte, hatte er darüber nachgedacht, einfach nur mit seiner roten Plastiknase vor die Kinder zu treten. Das aber hatte er sich bis jetzt nicht getraut. Für die Kleinen gehörte es einfach dazu, dass als Clown eine weiße Perücke trug, das Gesicht schminkte und alles mit einer großen, roten Nase krönte. Er tupfte ein wenig von der Creme auf den aufblühenden Pickel, dann steckte er seine Schminke, die Perücke mit den weißen Locken und die Nase, die aussah wie eine Tomate, zu den anderen Utensilien in sein Köfferchen und verließ das Badezimmer.

»Bist du bereit für das Frühstück?« Jörg umfasste Petra, die auf dem Sofa saß, und wiegte sie hin und her.

Sie nickte, dann fing sie an zu singen. »Ich will die Ringe seh’n, ich will die Ringe seh’n …«

Mit gespielter Verzweiflung sprang Jörg hoch, riss seinen Reisekoffer auf, öffnete ein Seitenfach nach dem anderen, nur um schließlich die Ringe aus seinem Jackenärmel zu schütteln.

Petra lachte. »Siehst du. Das ist genau der Grund, warum ich dich heiraten werde. So bekomme ich jeden Morgen eine kostenlose Show noch vor dem Frühstück.« Sie winkte ihn zu sich. »Hier. Schau mal. Die haben gestern in Bensersiel einen Toten gefunden.« Sie zeigte mit dem Finger auf den Aufmacher der Titelseite des Ostfriesischen Kuriers. »Hast du davon gar nichts mitbekommen?«

Er zögerte kurz. »Nein. Ich bin gleich nach meinem Auftritt in Bensersiel weiter nach Neßmersiel ins Sturmfrei gefahren und danach zu Müllers nach Ostermarsch. Hier steht, der Mann ist mittags gefunden worden.«

»Du hast also nicht mit irgendwelchen Leuten gesprochen, bevor du von Bensersiel los bist?«, fragte Petra ungläubig. »Es passiert doch sicher nicht häufig, dass dort Tote rumliegen!«

»Wenn ich es dir sage: nein. Ich habe nichts davon mitbekommen. Gehen wir jetzt zum Frühstück?«, versuchte er das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

»Auch gestern Abend auf der Fähre – da hat keiner …«

»Nein! Ich habe nichts gehört!«, schnauzte er. Sollte sie ihn doch damit in Ruhe lassen. Er hatte keinen Bock auf Tote.

Petra schaute ihn mit großen Augen an. Es passierte selten, dass er seine Stimme hob. Aber wenn sie weiter so tat, als ob er mit Dummheit geschlagen war, musste sie sich daran gewöhnen. Noch blieben ein paar Tage Zeit, in denen sie sich überlegen konnte, ob sie ihn wirklich wollte. Ob ihr die Aussicht auf eine morgendliche Zauber­show reichte, um den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Er zumindest hatte sich entschieden. Schweigend gingen sie in den Frühstücksraum. Von einem Vierertisch gleich neben dem Buffet lachte Hedda sie freundlich an. »Schön, dass ihr da seid«, sagte sie, als Jörg sie liebevoll in den Arm nahm.

Er holte sich eine Schale Müsli vom Buffet und setzte sich neben seine zukünftige Schwiegermutter. »Wie geht es dir?«

»Mir geht es prima.« Sie biss genüsslich von ihrem Marmeladenbrötchen ab. »Ich bin zu allen Schand­taten bereit. Wisst ihr schon, was ihr heute unternehmen wollt?«

Jörg schüttelte den Kopf. »Nein, bis auf meine beiden Auftritte ist heute noch nichts geplant.« Im gleichen Moment sah er Petras empörtes Gesicht.

Sie setzte ihre Kaffeetasse ab, hustete lauthals und krächzte: »Na, hör mal! Was ist mit der Hochzeitstorte, der Deko, dem Pastor? Wir haben um elf einen Termin in der Kirche, wenn ich dich daran erinnern darf!«

Natürlich. Wie konnte er das vergessen. Erst gestern Abend hatte sie ihm davon erzählt. »Entschuldige. Natürlich haben wir das im Programm«, beeilte er sich zu sagen. Aber so leicht ließ sie sich nicht besänftigen. Petras Miene strahlte den reinsten Missmut aus. Ganz im Gegensatz zu der ihrer Mutter.

Hedda legte eine Hand auf die seine und die andere Hand auf Petras linke und sagte bedächtig: »Ist nicht einfach, so eine Hochzeit zu organisieren. Petra hat schon eine Menge Lauferei gehabt deswegen. Es ist gut, dass ihr jetzt zu zweit seid. Und ich bin schließlich auch noch da, wenn ihr Hilfe braucht.«

Manchmal wünschte er sich wirklich, Petra hätte ein wenig mehr von der Liebenswürdigkeit ihrer Mutter geerbt. Aber man kann nicht alles haben, rief er sich zur Ordnung. Er war hier, um Petra zu heiraten. Nicht ihre Mutter. Und Petra konnte auch sehr liebevoll sein. Das hatte er am Abend zuvor wieder einmal intensiv erfahren.

»Oh, Entschuldigung.« Eine Dame mit einem Teller voll mit Käse, Schinken und ein paar Weintrauben hatte nicht aufgepasst und Petras Schulter gestreift. Eine Weintraube kullerte zwischen Petras Brüsten hinunter auf ihren Schoß.

»Können Sie nicht aufpassen«, zischte sie und sprang auf. Die Weintraube machte einen Satz auf den Fuß­boden. Wütend trat Petra auf die Frucht, die mit einem Plopp auseinanderspritzte.

Jörg hielt es keinen Moment länger in diesem Frühstücksraum aus. Er schaute auf die Uhr, dann stand er auf. »Wir treffen uns um kurz vor elf vor der Kirche«, sagte er knapp und stürmte hinaus. Er konnte beinahe fühlen, wie sich die Blicke der beiden Bramlage-Frauen in seinen Rücken bohrten. Der eine erstaunt, der andere wütend.

*

Warum musste alles nur so kompliziert sein, sinnierte er entmutigt, als er auf den Weg nördlich vom Flugplatz Richtung Ostdorf einbog. Er wollte doch nur heiraten. Mehr nicht. Eigentlich konnte er sich gar nichts Schöneres wünschen.

Jörg schaute über den Heller. Ein paar Pferde grasten dort und dazwischen zwei Rinder. Ein warmer Wind strich leicht über seine Arme und die Sonne am wolkenlosen Himmel versprach einen wunderbaren Tag. Der große Zeiger der Kirchturmuhr stand auf zehn. Also hatte er eine knappe Stunde Zeit bis zum Gespräch mit dem Pastor. Für einen Spaziergang durch das Ostdorf würde es reichen. Er ging am Spielteich vorbei, auf dem einige Kinder bereits ihre Boote schwimmen ließen. Alles kleine potentielle Kunden, dachte er belustigt und wünschte sich für nachmittags vielleicht nicht mehr ganz so gutes Wetter. Gegen Sonnenschein konnte er grundsätzlich nur schwer anspielen.

»Moin, Pomodoro.« Neben ihm war Herbert Thies vom Fahrrad abgestiegen. »Na, alles klar mit nachher?«

»Hallo, Herbert. Gibt es schon Anmeldungen für heute Abend?«

»Natürlich. Einige Leute haben bereits nach Karten gefragt. Einer war sogar schon zweimal da. Der scheint ein großer Fan von dir zu sein. Ich war gerade bei Marten im Kinderspielhaus. Daher diese aktuelle Information!« Thies lachte.

»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, antwortete Jörg.

»Nee, wohl kaum. Und sonst – aufgeregt?« Herbert Thies schaute ihn feixend an. »Ich meine – heiraten ist aufregend, oder?«

Jörg konnte ein Stöhnen gerade noch unterdrücken. »Das kannst du wohl sagen. Ich habe immer gedacht, man geht zum Standesamt, kommt nach einer halben Stunde wieder raus und ist verheiratet. Aber wenn ich mir anhöre, was da alles dranhängt – echt nervig. Obwohl Petra fast die ganze Organisation alleine auf den Weg gebracht hat. Aber woher weißt du überhaupt, dass ich den Bund der Ehe schließen will?«

»Ach, weißt du – hier pfeifen die Spatzen lauter als irgendwo sonst. Sogar deine Fans haben mich schon gefragt. Du bist eine bekannte Persönlichkeit. Das ist eben so.« Herbert Thies beugte sich zu Jörg. »Ich habe denen nicht gesagt, wann es so weit ist. Sonst stehen die nachher vor dem Rathaus und überraschen dich nach der Trauung mit einem besonders lustigen Auftritt. Da gibt es die tollsten Aufgaben für das frischgebackene Brautpaar. Als Beweis ihrer Liebe. Holzblöcke durchsägen. Durch Herzen klettern. Ein Seil mit einer selbstredend stumpfen Nagelschere durchschneiden … Möchtest du noch mehr hören?«

Jörg war drei Schritte zurückgewichen und streckte die Arme von sich, wie um böse Geister fernzuhalten. »Du, du meinst, das könnte passieren?«

»Natürlich. Du glaubst nicht, was da schon alles abgelaufen ist. Frag mal die Standesbeamtin. Die könnte dir Sachen erzählen.« Thies bog sich vor Lachen. »Erst neulich haben die …«

»Hör auf. Bitte. Mir wird ganz schlecht. Ich muss weiter. Wir sehen uns.« Jörg war es egal, dass der Mann von der Kurverwaltung immer noch über den Lenker gebeugt lachte, dass ihm die Tränen aus den Augen liefen.

Fast rannte er durch den Deichschart beim Haus Oase, bog dann links ab zum Naturhotel und über den Deich zurück zur Teestube. Er sah eine Lawine, einen nicht zu kalkulierenden Erdrutsch auf sich zukommen, wenn er an die Hochzeit dachte. Petra hatte schon recht gehabt mit dem Wunsch, ganz verschwiegen, nur zu zweit, in der Wildnis Sibiriens zu heiraten. Warum hatte er nicht zugestimmt? Warum hatte er auch nur einen einzigen Gedanken an die Reaktion seiner Verwandtschaft verschwendet? Die Verwandtschaft, die ihn bis zum Lebensende mit Ignoranz gestraft hätte, wenn sie nicht eingeladen worden wäre. Was ihm doch eigentlich herzlich egal war.

Warum hatte er nicht wenigstens darauf bestanden, im November zu heiraten? Dann hätten sie zumindest den Auftritt der Fans mangels Masse vermeiden können­. Und der eine oder andere aus der Verwandtschaft hätte sich die Anfahrt wohl ebenfalls verkniffen. Wer wollte schon freiwillig mitten im tiefsten Herbst nach Baltrum? Einmal war er dagewesen. Und ganz schnell wieder gefahren. Er hatte bis auf Herbert Thies, dem Verantwortlichen für das Veranstaltungsprogramm, keinen Menschen gesehen. Die Geschäfte waren fast alle geschlossen und die Fenster der meisten Häuser dunkel gewesen.

 

Aus dem Knusperhuuske roch es verführerisch nach Kuchen. Klar. Die Hochzeitstorte. Da mussten sie …

Er blieb stehen. Reiß dich zusammen, Mann, rief er sich zur Ordnung. Du willst schließlich heiraten. Und zwar genau die Frau, die da gerade beim Skipper’s Inn um die Ecke biegt. Wat mutt, dat mutt. Also los jetzt. Augen zu und durch.

In ein paar Tagen war alles überstanden. Sie würden schon für eine unvergessliche Feier sorgen. Als Petra näher kam, sah er die Freude in ihren Augen und er wusste, dass alles gut werden würde.

*

»Was sagst du? Tatsächlich erwürgt?«, hakte Geerd Ulferts nach. »Mit einem Kabel? Das ist ein Ding. Und dann im Hafenbecken entsorgt …«

Michael Röder beobachtete seinen Kollegen gespannt. Ein paar Sekunden war er zu spät gekommen, sonst hätte er das Gespräch selbst annehmen können. Aber er war damit beschäftigt gewesen, zu Amirs Entzücken einen Ball durch die geöffnete Tür von der Wache aus in den Hausflur zu werfen. Amir hatte gerade den Ball wieder zurückgebracht, als das Telefon geklingelt hatte.

»Wisst ihr schon, wer der Mann war? Und was er in den letzten Stunden vor seinem Tod gemacht hat? Er hat was?! Das ist ja interessant.«

Röder konnte es vor Spannung kaum noch aushalten. Seinem Heidewachtel, der erwartungsvoll mit dem Ball in der Schnauze vor ihm stand, schenkte er keine Aufmerksamkeit mehr. Er wollte nur noch wissen, was sein Kollege da gerade von Marlene Jelden erfuhr.

»Danke. Dann weiß ich Bescheid. Bis demnächst.« Geerd­ Ulferts legte das Telefon zur Seite. »Schöne Grüße«, bestellte er Röder. Dann drehte er sich zum Computer und starrte auf den Bildschirm.

Michael Röder war kurz davor, etwas an die Wand zu werfen, beruhigte sich aber schnell, als er das Zwinkern in Geerts Augen sah.

»Also gut«, gab der Kollege grinsend nach. »Hör zu: Der Mann hat mit seiner Frau und seinem Enkelkind in einem der Ferienhäuser in Bensersiel gewohnt. Morgens­ waren alle drei in der Nordseetherme. Am frühen Nachmittag war er mit seinem Enkelkind in Bennis Abenteuerland. Das ist diese große Kinderspielanlage direkt am Strand. Echt beeindruckend. Danach ist er noch mal weg. Warum, konnte die Frau nicht sagen. Und dann ist er nicht zurückgekommen. Seine Frau hat daraufhin spät abends die Polizei angerufen und die haben gesagt, sie solle erst mal abwarten.«

Es klopfte. Im Aufstehen sagte Geerd Ulferts: »Was hätten die sonst anderes machen sollen? Die Möglichkeit, dass er in einer der örtlichen Gastronomie-Betriebe seinen Urlaubs-Blues ertränkt hat, war schließlich ebenfalls gegeben.«

Vor der Tür stand Marc Weber zusammen mit einer Frau, die dem Aussehen nach nur seine Mutter sein konnte. »Ich denke, wir haben hier was zu klären«, klang ihre scharfe Stimme durch den Raum.

»Möchten Sie nicht erst einmal reinkommen?«, fragte Ulferts. »Drinnen redet es sich gemütlicher.«

»Ob der Ausdruck ›gemütlich‹ im Moment das trifft, was ich empfinden möchte, sei dahingestellt.« Sie schob Marc mit energischem Schultergriff in die kleine Wache. »Isabell Weber. Meinen Sohn haben Sie ja bereits unter leicht grenzwertigen Bedingungen kennengelernt.«

Ulferts gab zuerst Frau Weber, dann Marc die Hand und stellte sich und seinen Inselkollegen vor. »Bitte nehmen Sie Platz.« Er holte zwei Stühle und schob sie vor den Schreibtisch.

»Mein Sohn kann stehen!«, antwortete Isabell Weber bestimmt.

Michael Röder musterte den Jungen. Sein Gesicht war blass. Der Polizist hatte das Gefühl, dass Marc kurz davor war, zusammenzuklappen. Seine Schultern hingen herunter und seine Hände zitterten. Dennoch sah Röder den Trotz in seinen Augen, als seine Mutter wie selbstverständlich über ihn bestimmte.

»Marc, würdest du ebenfalls Platz nehmen? Ich möchte mich mit dir in Augenhöhe unterhalten«, bat Röder und zog Marcs Ausweis unter dem kleinen Stapel hervor, den er in der Nacht zuvor dort abgelegt hatte.

Mit einem scheuen Blick zu seiner Mutter setzte sich Marc auf die Kante des Stuhls. Donnerwetter, dachte der Inselpolizist, das ist ein ganz anderer Junge als der, den wir gestern Nacht erlebt haben. Was Alkohol doch aus einem Menschen machen kann. »Wie geht es dir?«, fragte er freundlich.

Marc Weber zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts.

»Marc, der Mann hat dich was gefragt. Antworte gefälligst!«

»Es geht mir gut«, murmelte der Junge leise, »und es tut mir leid.«

»Können wir jetzt den Ausweis wiederhaben? Wenn Marc irgendeinen Schaden angerichtet hat ….« Frau Weber warf eine Visitenkarte auf den Tisch, »die Rechnung geht an mich. Komm, Marc.«

»Moment.« Michael Röder stand auf. »Ich würde gerne mitentscheiden, wann die Sitzung zu Ende ist. Sie können gerne gehen, Frau Weber.« Er schob den Ausweis über den Tisch. »Aber ich möchte mich ein wenig mit Marc unterhalten. Ja, ich weiß, dass er nicht volljährig ist. Wir wollen ihm nichts Böses.«

Isabell Weber überlegte kurz, dann sagte sie mit einem – Röder konnte es kaum glauben – Anflug von Lächeln: »Behalten Sie ihn hier. Wenn er Stress macht, sperren Sie ihn die Zelle.«

Sollte diese Frau tatsächlich Humor haben? Wenn ja, hatte sie ihn bis jetzt gut versteckt. »Alles klar. Geht in Ordnung«, sagte er energisch. Gleich darauf war Isabell Weber ohne einen weiteren Gruß verschwunden.

Geerd Ulferts schaute den Jungen ruhig an. »Na, wie haben wir das hingekriegt?«, fragte er aufmunternd.

Es war, als wäre mit dem Abgang der Mutter eine Last von den Schultern des Jungen gefallen. »Danke!«, sagte er nur, aber Röder spürte die ganze Erleichterung.

»Aber so ganz ohne kommst du mir nicht davon«, erklärte Röder. »Ich möchte gerne von dir hören, wie das Gelage sich gestern entwickelt hat.«

»Sie meinen, ich soll als Kronzeuge aussagen, damit ich Straferleichterung bekomme?«, grinste Marc.

»Wenn du es so sehen willst, bitteschön.«

Marc erzählte, wie sie sich rein zufällig zuerst im Jugend­club getroffen hatten, dann ins Kiek rin gewandert waren und sich letztendlich mit dem Bier, das einer der anderen mitgebracht hatte, auf den Weg zum Strand gemacht hatten.

»Kanntest du die anderen vorher schon?«, fragte Ulferts.

»Wie man’s nimmt«, antwortete Marc. »Drei von denen­ waren im letzten Jahr auch schon da. Die kommen­, glaube ich, seit Jahrzehnten mit ihren Eltern hierher. Genau wie meine Eltern mit uns. Also – die Eltern kommen seit Jahrzehnten.«

»Ich glaube, das habe ich jetzt richtig verstanden«, warf Ulferts ein.

»Ein Pärchen kannte ich nicht und auch nicht den Mann, der plötzlich auftauchte. Der mit dem Bacardi. Der war einfach da, als wir uns in die Strandburg gesetzt haben. Und was später passiert ist …« Er schaute die beiden Polizisten unsicher an. »Davon habe ich echt keine Checkung mehr. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann das Gesicht meines Vaters gesehen habe. Ein echter Schock.«

Michael Röder mochte gar nicht daran erinnert werden­, wie Marcs Vater sich aufgeführt hatte. Röder hatte schwer das Gefühl gehabt, dass der ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern gewesen war, als er nach einer geraumen Weile bei Starks Strandladen aus dem Dunkel aufgetaucht war, um seinen Sohn in Empfang zu nehmen­. Sie hatten ihn erst einmal nach Kräften beruhigen müssen. Dann hatte der Mann seinen Sohn untergehakt und ihn in die Ferienwohnung gebracht. Geerd Ulferts hatte die beiden bis nach Hause begleitet.

Röder stand auf. »Ich wünsche dir noch ein paar stressfreie Tage hier – und mir, dass wir uns heute Nacht nicht schon wieder begegnen.«

Marc nickte. »Das hoffe ich auch. Aber Sie wissen, wie das so mit Versprechen ist. Da möchte ich lieber keines abgeben. Dann gehe ich jetzt mal.« Er griff nach seinem Ausweis und ging hinaus. Dann steckte er die Nase noch einmal zur Tür herein. »Wenn ich den Oldie sehe, soll ich ihm sagen, er soll sich bei Ihnen melden?«

Röder überlegte. Eigentlich lag gegen den Mann nichts vor, bis auf das zerstörte Strandkorbgitter vielleicht. Aber das würden sie ihm sowieso nicht nachweisen können. Und volljährig war der Mann, durfte also trinken. Nur dass er den Jugendlichen scharfen Schnaps gegeben hatte, störte den Polizisten maßlos. Trotzdem sagte er: »Nein, lass man. Da werden wir uns drum kümmern.«

Als der Junge gegangen war, sagte Röder: »Nun müssen­ nur noch die restlichen Kids ihre Papiere holen. Sonst geraten die nachher noch durcheinander mit den Ausweisen, die wir heute Nacht einsammeln.«

»In drei Wochen ist die Hauptsaison vorbei und es wird ruhiger. Dann bin nicht nur ich wieder am Festland, sondern auch die jugendlichen Krawaller, und du hast deine beschauliche Insel fast für ein ganzes Jahr wieder für dich.« Ulferts nahm seine Dienstmütze vom Haken. »Du bleibst auf der Wache? Dann fahre ich mal ein bisschen Streife. Oder wie heißt das so schön: Flagge zeigen.«

Röder nickte. »Nimmst du Amir mit? Ich glaube, der muss mal raus.«

»Alles klar. Her mit dem Hund.«

Kaum war Ulferts verschwunden, klingelte wieder das Telefon. Das ist heute hier wie im Taubenschlag, stellte Röder fest, doch seine Laune hob sich sofort, als er die Stimme erkannte. Sie gehörte seiner fröhlichen Kollegin aus Esens. Allerdings klang sie gar nicht so fröhlich, als sie um seine Hilfe bat.

»Ganz Bensersiel ist in Aufruhr«, berichtete Marlene Jelden. »Alle haben Angst. Es hat sich bei uns eine Frage ergeben: Steckt dieser Pomodoro eigentlich noch bei euch? Beziehungsweise, ist er überhaupt bei euch angekommen? Der Chef von Bennis Abenteuerland hat mir gesagt, der würde auch noch auf Baltrum auftreten. Und wir hätten da mal dringenden Gesprächsbedarf.«

Röder dachte daran, was Birgit Ahlers ihm berichtet hatte. Zur Sicherheit schlug er den Veranstaltungs­kalender auf und sah nach. »Er soll heute Nachmittag im Kinderspielhaus auftreten. Worum geht es genau?«

»Es geht darum, dass unser Toter Kontakt mit diesem Pomodoro hatte. So zumindest hat es uns seine Frau vor einer Viertelstunde berichtet. Es sei ihr gerade erst wieder­ eingefallen in der ganzen Aufregung, hat sie erklärt. Als ihr Mann erfahren hat, dass Pomodoro in Bensersiel auftritt, hat er sich mit ihm zum Kaffee verabredet. Am Tag vor dem Auftritt. Sie kannten sich von früher, sie waren vor vielen Jahren zusammen auf der Zauberschule. Ihr Mann hat das Zaubern dann allerdings nur noch als Hobby auf Familienfesten betrieben.«

»Eine Zauberschule gibt es tatsächlich?«, hakte Röder ein. »Ich dachte, so etwas gibt es nur im Märchen. Oder bei Harry Potter.«

»Offensichtlich auch im richtigen Leben. Die beiden haben sich also vermutlich getroffen und dann ist ihr Mann nicht mehr nach Hause gekommen«, erklärte Jelden. »Stattdessen lag er tot im Hafenbecken.«

»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, sagte Röder fassungslos. »Da wird die Tatsache, dass der Tote weiße Handschuhe trug, fast zur Nebensache. Obwohl die andererseits direkt auf den Clown hindeuten … Allerdings – wenn der Clown einen seiner Fans loswerden wollte, warum hätte er dann einen offensichtlichen Hinweis zurücklassen sollen?«

»Keine Ahnung. Außerdem müsste der Clown schon mehrere weiße Handschuhe haben. Was natürlich nicht ungewöhnlich wäre. Mein Chef, Peter Multhaupt, war nämlich mit seiner Tochter in der Vorstellung und da trug der Clown seine weißen Handschuhe. Übrigens hat sich Pomodoro vor dem Auftritt wohl nicht von seiner besten Seite gezeigt. Er hat einen dicken Krach mit einem Besucher gehabt. Worum es ging, weiß mein Chef aber nicht. Du siehst also, Fragen über Fragen, die uns Jörg Pommer beantworten sollte.«

»Wohl wahr«, stimmte Röder zu. »Ich denke, wir werden­ ihn uns mal zur Brust nehmen. Soll ich das weitere Vorgehen mit deinem Chef absprechen, oder redest du mit ihm?«

»Weißt du was? Ich rede mit ihm. Wir sind zwar hier genauso knapp an Kollegen wie überall, aber vielleicht lässt er sich überzeugen. Dann komme ich schnellst­möglich rüber auf eure schnuckelige Insel. Sozusagen als Verbindungsglied zwischen denen und euch. Was hältst du davon?«, fragte Marlene Jelden vorsichtig.

Der Inselpolizist schwieg einen Moment. Hätte er sein Schweigen erklären müssen, hätte er vielleicht gesagt, er müsse nachdenken. In Wirklichkeit versuchte er, die Freude aus seinem Gesicht und folglich aus seiner Stimme zu entfernen. Als er sicher sein konnte, dass sie ihm einigermaßen gehorchte, sagte er: »Super. Ruf an, wenn du auf dem Schiff bist. Ich hole dich vom Hafen ab.«

 

Als er aufgelegt hatte, merkte er, dass das Grienen immer noch in seinem Gesicht eingegraben war. Und dass sich dieser Zustand einfach nicht ändern ließ.

*

»Wie schön, dass Sie ausgerechnet auf unserer kleinen Insel in den heiligen Stand der Ehe treten wollen. Haben Sie sich schon überlegt, ob Sie hier in unserer großen oder in der kleinen Inselkirche Ihre Lebensgemeinschaft besiegeln wollen?« Pastor Untied hatte sie in sein Büro im Gemeindehaus gebeten, nachdem sie einen Blick in die evangelische Kirche geworfen hatten.

Jörg schüttelte verneinend den Kopf, bemerkte jedoch schnell, dass das womöglich eine etwas übereilte Reaktion­ gewesen sein musste, denn Petra schaute ihn mit blitzenden Augen an und sagte spitz: »Natürlich in der kleinen Kirche. Es kommen nicht sehr viele Gäste zu unserer Hochzeit. Da wird es dort viel romantischer sein.«

»Eine gute Entscheidung«, stimmte ihr Pastor Untied zu. »Gibt es besondere Wünsche hinsichtlich des Liedgutes oder einer Textstelle aus der Bibel, die ich als Grundlage meiner Predigt nehmen soll?«

Jörg hütete sich, noch einmal den Kopf zu schütteln, sondern wartete lieber Petras Aussage zu diesem Thema ab. Sie antwortete auch sogleich. »Da gibt es ein Lied: Christ kyrie, komm zu uns auf die See. Wie wäre es damit?«

Pastor Untied zögerte leicht: »Das wird eigentlich eher zu Beerdigungen gesungen. Insofern ist es vielleicht nicht ganz passend. Wenn ich ein paar Vorschläge machen dürfte: Da wäre zum einen: Lobet den Herren, dann: Danke für diesen guten Morgen. Damit können Sie nichts verkehrt machen. Die Melodie kennt jeder. Und wenn Sie mir das Aussuchen der Textstücke überlassen wollen … Ich bin – so möchte ich mal sagen – inzwischen Experte in diesen Dingen. So viele Hochzeiten, wie wir hier in den letzten Jahren hatten …«

»Was würden Sie vorschlagen?«, fragte Petra.

»Nun …«Pastor Untied überlegte kurz. »Vielleicht 1. Korinther 13 Vers 13: Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, aber die Liebe …«

»Nein!«

Die Stille, die sich in dem Arbeitszimmer ausbreitete war mit den Händen zu greifen. Pastor Untied und Petra schauten Jörg erschrocken an. Auch Jörg wusste kaum, was da gerade mit ihm geschah. Aber dieses Bibelwort wollte er nicht. Auf gar keinen Fall. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. »Haben Sie einen anderen Spruch für uns?«

»Wie wäre es mit: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen?«, fragte Untied.

Jörg ertappte sich bei der Frage, ob der Pastor diesen Vorschlag ernst gemeint hatte, oder ob eine Portion Ironie Vater des Gedankens gewesen war.

Das Wort Last in Zusammenhang mit ihrem zukünftigen gemeinsamen Leben schien Petra ein wenig zu beunruhigen, aber dann sagte sie: »Ich bin sicher, Sie werden gute Worte für uns finden. Ich freue mich auf die Hochzeit am Freitag.«

»Dann ist ja alles bestens«, konnte sich Jörg nicht verkneifen.

»Das denke ich auch«, stimmte Pastor Untied zu. »Welch ein glückseliges Gefühl ist es doch, wenn ein junges Paar mit dem Segen der christlichen Kirche den weiteren Lebensweg beschreitet!«

Jörg wurde es fast schlecht. Musste der Mann so salbadern? Wenn es nach seiner Mütze gegangen wäre, hätten sie sich die kirchliche Trauung ganz verkniffen. Aber über diesen Punkt war mit Petra keine Diskussion möglich gewesen. Der Gang zur Kirche gehörte für sie einfach zur Trauung. Wenn schon, denn schon, war ihr unschlagbares Argument gewesen. Er hatte zugestimmt, in dem Bewusstsein, dass der Kirchgang irgendwann vorüber sein würde. Außerdem war er sich sicher, dass seine Abneigung gegen diese Zeremonie keine tiefen religiösen Gründe hatte.

Es war die Erinnerung. Die Erinnerung, wie sie bei Amelies Hochzeit auf Sylt den Gang durch die Kirche bis zum Altar und den ganzen Zauber hinterher wohl fünfmal geübt hatten. Immer war etwas nicht im Sinne der Braut verlaufen. Beim letzten Mal hatte der Pastor seine Worte so schnell heruntergespult, dass er kein Wort verstanden hatte. Gut, Jörg war kein Trauzeuge gewesen, hatte während der Probetrauung nur auf der harten Kirchenbank gesessen und auf Petra gewartet. Weil sie es so wollte. Aber es hatte für sein Leben gereicht.

Als sie nach einer guten Stunde das Pfarrhaus verließen, atmete Jörg tief durch. Das Thema Probetrauung war mit keinem Wort gefallen. »Komm«, sagte er zu Petra und nahm ihre Hand. »Einmal aufs Watt gucken und frische Luft atmen.« Sie gingen über die Straße und setzten sich auf den Deich. Vor ihnen, zwischen Watt und Hellerwiesen, sahen sie ein kleines einmotoriges Flugzeug im Landeanflug.

»Das wäre schön«, seufzte Petra. »Ein Rundflug über die Insel. Bei Niedrigwasser. So, dass man die Sandbänke und Priele im Watt sehen könnte.«

Das war es! Jetzt wusste er endlich, was er seiner Zukünftigen zur Hochzeit schenken konnte. Wochenlang hatte er überlegt. Aber ihm war gar nichts Besonderes eingefallen. Jetzt hatte er die Lösung. Noch heute Nachmittag würde er zu dem kleinen Tower auf dem Flugplatz gehen und einen Flug buchen.

»Warum wolltest du eigentlich den ersten Trauspruch, den mit Glaube, Hoffnung, Liebe und so nicht?«, fragte Petra.

Er hatte mit dieser Frage gerechnet. »Ach, weißt du, den haben alle. Der ist sowas von … – Nee, das musste echt nicht sein.«

»Da hast du recht.« Nach einer Weile fragte sie: »Gehen wir ins Knusperhuuske?«

»Okay. Die Hochzeitstorte wartet«, antwortete Jörg übermütig. Seit er sich keine Gedanken mehr um das Geschenk machen musste, war sein Stimmungsbarometer um einige Grade gestiegen.

Sie ließen das Hotel Fresena hinter sich und standen bald darauf vor dem kleinen Häuschen schräg gegenüber der Schule.

Petra schubste ihn leicht mit dem Ellenbogen. »Ganz viel Schokolade, Marzipan und Nüsse?«

»Nee«, antwortete er lachend, »Vanillecreme, mindestens drei Stockwerke und ein frisch verliebtes Paar aus Zuckerguss obendrauf.«

»Sie elegant und blond, und er mit einer roten Nase. Wie im wirklichen Leben«, sagte Petra und zog ihn ins Knus­perhuuske.

*

Sie war froh, dass ihr Schwiegersohn gesund und munter auf der Insel angekommen war. Hedda Bramlage saß vor dem großen Podest am Strand und sang sich, wie viele andere Gäste um sie herum, die Lunge aus dem Hals. Zumindest hatte sie das Gefühl, dass es so wäre, denn ein kräftiger Wind kam aus Westen und es war gar nicht so einfach, dagegen anzuschmettern. Aber wie es aussah, machte das gemeinsame Singen allen sehr viel Spaß. Besonders dieses An Baltrums Strande, im Dünensande, da träumen wir so gern schien jeder auswendig zu können.

Eine ältere Frau raunte ihr zu: »Das Lied kenne ich seit fünfzig Jahren. So lange komme ich schon auf die Insel. Ich bin immer dabei. Auch beim Dünensingen, unterhalb der Katholischen Kirche. Früher, da war Tante Anneliese hier. Aber die, die das jetzt macht, ist auch ganz gut.«

Die, die das jetzt machte, saß mit zwei anderen Musikern auf dem Podest und spielte Akkordeon: Ob Sturm ob Regen, der Sonn’ entgegen, die Sorgen sind uns fern.

Hedda blickte sich um. Auf der anderen Seite des Strandabganges stand der Container für die DLRG-Leute. Die Tür war offen und zwei der ehrenamtlichen Helfer in knallgelben T-Shirts und roten Hosen räkelten sich davor auf weißen Plastikgartenstühlen. Badezeit war erst am Nachmittag. Dann würden die Jungs und Mädel wieder den Badeturm besetzen, von dem sie einen besonders guten Ausblick über den Badestrand und die vorgelagerten Sandbänke hatten.

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