Baltrumer Kaninchenkrieg

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»Alles klar.« Gero Schonebeck nahm seine Leder­jacke von der Garderobe.

Michael Röder bezweifelte, dass die Jacke für Baltrumer Wetterverhältnisse geeignet war. Es war kühl und ein kräftiger Wind fegte Regentropfen quer über die Insel. Er hatte eine alte Dienstjacke im Schrank. Sollte er …? Nein, sie würde Gero nicht passen.

»Also, Namen und Adressen.«

Wenn Eilert Thedinga wüsste, mit was für einer Furie er es in Kürze zu tun hatte, wäre der bestimmt nicht so eifrig, dachte Röder und erklärte den Männern, wie sie fahren mussten. »Mit ›Adresse‹ dürfte es schwierig werden. Zumindest mit Straßenbezeichnungen. Da sage ich euch nichts Neues. Hier haben wir Haus­namen und Hausnummern.« Er zog einen Plan aus der Schreibtischschublade und kreuzte die jeweiligen Lagepunkte der Häuser an. »Ich hoffe, ihr kommt damit klar. Sonst ruft mich an.«

Zum Glück kannte Arndt sich einigermaßen auf der Insel aus. Röder holte drei Fundfahrräder aus dem Gartenhäuschen. Er atmete auf, als er sah, dass sie betriebsbereit waren. Sogar das Licht funktionierte bei allen. Die Sorge um die Räder überließ er immer gerne seinen Hilfssheriffs. Das allerdings hätte ihm heute wenig genützt. Eilert war schließlich gerade erst angekommen.

»Hier möchte ich kein Postbote auf Urlaubsvertretung sein«, überlegte Eilert Thedinga. »Da musst du erst einen Lehrgang machen, bevor du die Pakete an den Mann bringen kannst.«

»Wohl wahr«, erwiderte Michael Röder. »Also – bis später wieder hier in der Wache.«

Es war bereits dunkel, aber Röder meinte Enno Seeberg zu sehen, der einem anderen Mann die Tür zur Gaststätte offenhielt. Gehörte Enno nicht auch zu den Proniggels? Sollte er ihn hier und jetzt ansprechen? Nein. Er würde wie verabredet mit Jörg Weber Kontakt aufnehmen, dann gegebenenfalls mit den anderen Jägern reden. Seeberg würden sie sich noch vornehmen. Ganz sicher.

*

Aber es war nicht Jörg Weber, den er zuerst aufsuchte, sondern Reinhart Petri. Dessen Häuschen lag auf dem Weg. Er klopfte.

Nach einer Weile öffnete Petri die Tür eine Handbreit und schaute ihn misstrauisch an. »Was gibt’s?«

»Darf ich reinkommen?«, fragte Röder ruhig.

Widerwillig gab Reinhart den Weg frei. Es roch in dem kleinen Flur, als wäre lange nicht gelüftet worden. Im Wohnzimmer war es nicht viel besser. Der Fernseher lief. Das Frühlingsfest der Volksmusik. Andrea Berg besang inbrünstig die Liebe zu ihrem Traummann.

»Willst du dich setzen?« Reinhart Petri räumte einen Stapel Jagdzeitungen von einem Sessel, sorgsam darauf bedacht, dass der Haufen nicht auseinanderrutschte.

»Wenn du den Fernseher leiser machen würdest, wäre es einfacher.« Röder setzte sich vorsichtig hin. Er erwartete, dass sich jeden Moment ein paar Sprung­federn in sein Hinterteil bohrten, wenn er sich zu heftig bewegte. Aber alles ging gut. Reinhart folgte seinem Wunsch und stellte den Ton leiser.

»Du hast mir in den Dünen bereits erzählt, wie ihr, du und Jörg, die Tote entdeckt habt. Ist dir im Nachhinein noch etwas aufgefallen? Etwas, das mit dem Tod, oder auch mit der Person zu tun hat?«

Reinhart Petri überlegte, dann schüttelte er knapp den Kopf.

»Wie viele Gewehre hast du?«

»Wieso? Ich bin Jäger. Alles ist angemeldet«, sagte Reinhart schroff. Immer wieder glitt sein Blick zum Fernseher, auf dem inzwischen ein Ballett leichtbekleideter Damen im Gleichtakt die Beine nach oben warf. Reinhart Petri murmelte vor sich hin.

»Was sagtest du?«, erkundigte sich der Polizist.

»Nichts.«

»Bitte. Reinhart. Was hast du gesagt?«

»Ich meine nur. Die müssen nicht fast nackt auftreten. Das ist ungehörig«, sagte Reinhart Petri undeutlich.

Röder schaute genauer hin. Na gut, einen Wintermantel hatten die Damen vom Ballett nicht gerade an. Aber immerhin – sie hatten etwas an. Außerdem war das nicht der Grund seines Besuches. »Reinhart, deine Waffenbesitzkarte, bitte. Es nützt nichts. Glaube mir. Wenn du sie mir nicht freiwillig gibst, werde ich dafür sorgen, dass wir uns hier ganz genau umschauen können.«

Stöhnend stand Reinhart Petri auf und verließ das Wohnzimmer. Röders Blick fiel auf einen weiteren Stapel Hefte, der auf der Anrichte lag. Vielleicht gab es hier wertvolle Informationen über Jagdausrüstungen, Munition und dergleichen. Doch es waren nur ein paar wenige Broschüren, die sich mit der Jagd beschäftigten. Alle anderen trugen Namen wie Der Landser und National-Zeitung. Ein Flyer rutschte aus dem Stapel. Von der NPD. Maria statt Scharia.

»Was machst du da? Hast du einen Durchsuchungsbefehl? Raus hier. Sofort raus!«

Der Polizist hatte nicht gemerkt, dass Reinhart Petri wieder ins Zimmer gekommen war. Dass der Mann so laut werden konnte, hatte er noch nie erlebt. »Ist ja gut.« Zu gern hätte er die Ansammlung dieser Blätter kommentiert. Doch er hielt sich zurück. »Kann ich jetzt die Unterlagen haben?«

Wortlos drückte Reinhard Petri sie ihm in die Hand.

»Ich nehme sie mit. Kriegst sie so bald wie möglich wieder.«Er war froh, als er wieder draußen war. Viel hatte er nicht erfahren. Eigentlich gar nichts. Nur dass es stimmte, was erzählt wurde. Der Mann gehörte zur rechten Szene auf der Insel. Es gab nicht viele davon. Und sie waren unauffällig. Aber es gab sie.

Michael Röder hoffte, dass sein Gespräch mit Jörg Weber angenehmer verlaufen würde.

*

»Was möchtet ihr trinken?« Der schwarzhaarige Wirt der Alten Liebe hatte gut zu tun. Die kleine Kneipe war gerammelt voll. Überwiegend Raucher. Denn hier durfte man. Enno Seeberg überlegte kurz, ob es wohl klug gewesen war, sich ausgerechnet diese Kneipe für ihr Treffen auszusuchen. Nicht, dass er nicht gerne hinginge. Der Wirt war nett, die Stimmung gut. Aber Anke würde an ihm riechen und angewidert das Gesicht verziehen, wenn er zu ihr kam.

Enno bestellte zwei Bier. Vergebens suchte er nach einem freien Platz an einem der Tische. Er sah viele unbekannte Gesichter und die vertrauten bierseligen der Insulaner, die immer da waren. An ihren Stammplätzen an der Theke. Für ein intensives Gespräch war es entschieden zu laut. Sie würden sicher nicht lange bleiben. Aber erst einmal ein Bier. Er nahm die beiden Gläser, die der Wirt vor ihm abgestellt hatte, und schob sich zu Werner Gronewald durch, der gleich rechts von der Tür stehen geblieben war.

»Ich hätte nicht gedacht, dass am Anfang der Saison schon so viel los sein würde.« Er prostete Werner zu.

»Tja, ist bestimmt jedes Mal eine Umstellung, von null auf hundert, wenn die Saison wieder anfängt, oder?«, fragte Werner.

»Klar. Egal wo auf der Insel. Das fängt bei der Überfahrt an. Das große Schiff, die Baltrum I, liegt im Winter auf der Schiffswerft Diederich in Oldersum. Du weißt schon, an der Ems. Dort werden alle nötigen Reparaturen erledigt. Das kann manchmal ganz schön aufwändig sein. Das Unterwasserschiff muss gestrichen, Sitzbänke ausgewechselt und neue Techniken eingebaut werden. Natürlich muss alles bis zum Beginn der Saison fertig sein. Genau wie bei allen anderen Seebäderschiffen, die dort generalüberholt werden.«

»Ich weiß. Ich war erst im Sommer in Oldersum. Zu ihrem weltberühmten Dorffest. Weißt du, wie das heißt?«

Enno Seeberg blickte seinen Bekannten fragend an.

»Glaub es mir oder nicht: Dieses Fest heißt ›Mein lieber Scholli‹. Weil die da dann Schollen verkaufen.« Werner Gronewald lachte.

»Echt jetzt?« Enno konnte es nicht fassen. Was für ein einfallsreicher Name. Aber der schien tatsächlich sogar Menschen aus Aurich anzulocken. Das lebende Beispiel stand vor ihm. »Komm, trink aus. Wir gehen eine Station weiter.«

Er brachte die leeren Gläser zurück zur Theke und bezahlte.

»Ihr habt’s aber eilig«, sagte der Wirt. »Nach einem Bier schon Feierabend?«

»Diesmal ja. Er, also der Gronewald und ich, müssen uns in Ruhe unterhalten. Das nächste Mal wieder hier.« Noch einmal bahnte er sich seinen Weg zum Ausgang, wo Werner wartete.

Der Regen kam direkt von vorne und setzte sich auf seine Brille. Enno zog die Kapuze über, doch es nützte nicht viel. »Hoffentlich hat das Sturmeck offen«, rief er Werner zu.

Als sie am gelben Eispavillon vorbei waren, sahen sie, dass Licht den Eingang des Lokals erhellte.

Auch hier standen einige Leute vor der breiten Theke, doch im hinteren Bereich war es leer. Nur Musik kam aus den Lautsprechern unter der Decke. Laute Musik. Wer weiß, wofür es gut ist, dachte Enno. So kann man unser Gespräch nicht mithören. Sie warteten, bis der Ober ihre Bestellung vor ihnen abgesetzt, die zwei Bier auf dem Deckel notiert hatte und wieder verschwunden war.

»So, jetzt sag mir, was du auf dem Herzen hast«, begann Werner Gronewald das Gespräch.

Enno erzählte ihm von der Gruppierung, der seine Anke angehörte. Den Namen ›Proniggels‹ verschwieg er wohlweislich und versuchte ernsthaft, die Meinungen der verschiedenen Lager aufzulisten. Doch er konnte sich nicht verkneifen, von der bevorstehenden Demo am Samstag bei dem Osterfeuer zu berichten.

Werner lachte. »Was habt ihr?! Kaninchenköpfe aus Pappe?«

Verdammt. Hätte er man lieber die Klappe gehalten. »Du kannst mir glauben, dass ich da nicht mitmache. Bestimmt nicht!«, erklärte er mit Nachdruck. »Aber jetzt sag mir, was für eine Chance hat unsere Gruppe mit dem Schutz der Kaninchen?«

Werner Gronewald überlegte. »Ich habe heute bereits ein Gespräch mit dem Bürgermeister gehabt. Übrigens ein ganz fitter Kerl, wenn ich das mal so sagen darf. Auch ihm habe ich gesagt, dass es für die Deichsicherheit besser wäre, wenn die Tiere verschwinden. Dass die Realität aber anders aussieht. Wie willst du das erreichen? Auf fünfhundert geschossene Kaninchen – wenn die Jäger im Herbst fleißig sind – kommen fünfzigtausend, die es überleben.«

 

»Ich glaube, diese Aussage wird meine Anke und die anderen nicht gerade glücklich stimmen. Denen sind fünfhundert erlegte Tiere fünfhundert zu viel. Und deine Aussage zur Deichsicherheit, was hat die zu bedeuten? Wollt ihr da was unternehmen?«

Werner zögerte. »Ich denke, dass ich mich da noch stille halten werde. Das Amt denkt nach. Wir werden sehen, wie sich der Bestand über den Sommer entwickelt.«

»Wie der sich entwickelt, dürfte klar sein. Es ist Schonzeit. Nur die Jungen dürfen geschossen werden. Was aber faktisch ziemlich sinnlos ist. Die Jäger werden nicht im bewohnten Gebiet herumschießen, wenn es hier von Gästen nur so wimmelt.«

»Ich kann dir leider nichts anderes sagen als: Abwarten.« Werner Gronewald zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wenn es übermäßig viele Tiere werden, müssen wir etwas unternehmen. Aber auch Krankheiten, wie die Kaninchenpest, sind ein natürliches Regulativ. Warten wir also auf den nächsten Herbst.«

Das war’s dann also. Enno kam nicht weiter. Wie schön wäre es gewesen, wenn er Anke das Versprechen mit nach Hause gebracht hätte, dass alle Tiere geschützt würden! Natürlich war das Ziel, alle Tiere am Leben zu lassen, ein unmögliches Unterfangen. Das war ihm klar. Aber Anke dachte eben anders.

Werner Gronewald und Enno Seeberg unterhielten sich noch eine ganze Weile. Die alten Zeiten streiften sie nur kurz. Als sie aufbrachen, sah Enno Oliver Abels mit ein paar Insulanern an einem der runden Tische stehen. Seine Augen waren rot. Er schien das ein oder andere Getränk bereits in sich hineingeschüttet zu haben. Warum der wohl nicht in seinem eigenen Hotel hinter der Theke stand? Aber wahrscheinlich konnte er sich dort nicht ungehindert einen hinter die Binde gießen.

»Na, mein Freund? Kommst du morgen auch zur Ratssitzung?« Oliver Abels’ Stimme klang undeutlich, aber laut durch den Raum. »Dann geht’s euren Niggels an den Kragen, ihr Proniggels.«

Einer der Männer, die mit Abels zusammenstanden, fing an zu lachen, und bald stimmten alle mit ein.

»Komm«, bat er Werner, »den muss ich jetzt nicht haben.«

»Hast du dir von Amts wegen Verstärkung mitgebracht?«, schallte es hinter ihnen her.

»Woher weiß der, dass du …?«, fragte Enno erstaunt.

»Er war mit bei der Deichschau. Als Ratsmitglied. Daher wird er mich wohl wiedererkannt haben«, erklärte Werner Gronewald.

Sie verabschiedeten sich vor dem Sturmeck. Werner hatte nur ein paar wenige Meter zum Hotel Seehof. Enno beschloss, in der Hoffnung auf ein warmes Nachtlager bei Anke vorbeizuschauen. Hoffentlich schlief sie nicht schon.

Als er die Haustür öffnete, hörte er Musik. Im Wohnzimmer brannte eine Kerze und verbreitete einen süßlichen Duft nach Honig. Anke saß im Schlafanzug auf dem Sofa und las. »Komm rein«, sagte sie, »setz dich.«

»Was ist los?«, fragte er beunruhigt. Das Flattern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Die Polizei war hier. Die beiden wollten alles über unsere Gruppe wissen. Wer dazugehört, was Edith für eine Aufgabe hatte und so weiter.«

»Ja, und? Was stört dich daran?«

»Es hat mich nichts gestört. Nur beunruhigt. Sie wollten die Namen aller Mitglieder haben. Wollten wissen, ob wir untereinander Streit hatten. Besonders der eine, Schonebeck, war zwar freundlich, aber der klang so unerbittlich, dass man Angst bekommen konnte.«

»Aber wir haben mit Ediths Tod gar nichts zu tun. Also brauchen wir keine Angst zu haben«, versuchte Enno Anke zu beruhigen und kuschelte sich neben sie auf das Sofa.

Sie rutschte ein Stück zur Seite. »Verstehst du nicht – du hast mit Edith doch diesen dicken Streit gehabt. Am Abend vor unserer Sitzung. Als wir das mit der Demo besprochen haben. Ihr war diese Aktion mit den Pappkaninchen lange nicht genug. Und du hast gesagt, das reiche dreimal, um Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Moment. Wenn sich alle, die sich streiten, gegenseitig umbringen würden, wäre es erheblich leerer auf der Welt, oder?«, empörte Enno sich. »Und diese Polizisten wussten von dem Streit?«

Anke nickte. »Ich denke, Mark hat es ihnen erzählt. Er war doch dabei. Bei dem sind die gewesen, bevor sie zu mir kamen. Und nun wollen die unbedingt mit dir reden. Ich habe gesagt, dass du dich sofort bei denen meldest, wenn du wieder zu Hause bist.«

»Na, klasse.« Enno Seeberg lehnte sich zurück und schloss die Augen. Diese verdammten Karnickel. Dieser verdammte Mark. Verdammte Bullen. Die glaubten doch nicht wirklich, dass er in der Lage wäre, alte Damen zu erschießen. Was für ein verdammter Blödsinn.

»Du kannst auch anrufen, haben sie gesagt.« Anke knuffte ihn und hielt ihm einen Zettel mit einer Telefon­nummer vor die Nase.

Enno schaute auf die Uhr. Gleich elf. Die würden sich schön bedanken, wenn er sie aus dem Bett holte. Nein, er würde morgen mal bei denen an die Tür klopfen. In der Mittagspause. Vielleicht. So eilig würde es schon nicht sein. Er gähnte. »Hast du ein Plätzchen neben dir frei?«, murmelte er und rückte wieder etwas näher an sie heran.

»Du wirst also nicht …?«

»Nein. Morgen reicht«, sagte er. »Ich habe schließlich mit dem Mord nichts zu tun.«

»Aber ich habe es den Polizisten versprochen. Was macht das für einen Eindruck, wenn du dich nicht meldest. Da könnten die glatt glauben …«

Enno richtete sich auf. »Könnten die glauben oder könntest du glauben …?« Fassungslos starrte er Anke an.

Anke antwortete nicht.

»Weißt du was? Ich lasse dich jetzt mal allein. Dann kannst du in Ruhe darüber nachdenken, ob ich Edith um die Ecke gebracht habe.« Wütend stand er auf und griff nach seiner Jacke.

»Aber ich habe gar nicht …«

Er wollte nicht mehr zuhören, was sie hatte oder nicht hatte. Er brauchte dringend frische Luft. Es war nicht weit bis zu seiner kleinen Wohnung im Keller von Haus Ostwind. Er schlug seinen Kragen hoch, ging an der Inselglocke vorbei und hatte bald die letzten Häuser im Westdorf erreicht. Haus Ostwind lag etwas zurück am Rande der Dünen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten die Gäste im oberen Stockwerk noch einen freien Blick auf die Nordsee gehabt. Aber mit dem Neubau der Strandmauer war das vorbei. Ihm konnte es egal sein. Er wohnte im Keller.

Als er die Stufen zu seiner Wohnung herunterstieg, erschrak er. Zwei Schatten lösten sich aus dem Dunkel.

»Guten Abend, Herr Seeberg. Schön, Sie zu treffen.«

Nicht das noch. Erst hatte er sich Ankes Anschuldigungen anhören müssen und jetzt standen die beiden Männer vor seiner Tür. Es gab keinen Zweifel daran, dass es Polizisten waren, und er hatte die Nase voll. Enno drehte sich um und sprintete den Weg zurück, den er gerade gekommen war, bog links ab, dann wieder rechts, merkte aber schnell, wie ihm der Atem ausging. Im Gegensatz dazu schien der Mann, der ihn verfolgte, kein Problem mit der Kondition zu haben. Als der Ennos Arm umklammerte und ihn zum Stehenbleiben aufforderte, klang seine Stimme ruhig und bestimmt.

Dienstag

»Herr Claaßen, was bedeutet KSV?«

Thomas Claaßen schaute irritiert nach oben. Wie jeden Morgen schob er sein Fahrrad aus dem Keller die Schräge hoch ans Tageslicht. Es war noch früh. Eigentlich zu früh für Inselgäste. »Moment noch.« Mit letztem Schwung hievte er sein Rad auf den roten Klinkerweg und klappte mit dem Fuß den Ständer aus. Vor ihm standen Maren und Jan Schmitz, die Zwillinge, die er am Tag zuvor mit ihren Eltern vom Schiff abgeholt hatte. »So, noch einmal: Was wollt ihr wissen?«

»Was bedeutet KSV?«, wiederholte Jan und gab auch gleich die möglichen Antworten. »Kommen Sie vorbei? Kultur-und Sportverein? Kaninchen schießen verboten?«

Thomas Claaßen hätte beinahe gelächelt. Die letzte Antwort wäre genau die richtige für die Proniggels gewesen. »Die zweite Antwort.«

»Wir machen nämlich beim Schatzkofferspiel mit. Wir haben uns gestern gleich den ersten Zettel aus dem Rathaus abgeholt«, sagte Maren. »Aber die Fragen sind nicht einfach. Können Sie uns helfen?«

Thomas Claaßen schaute auf die Uhr. »Kinder, ich muss zur Arbeit. Fragt meine Frau.«

»Aber eine Frage, bitte noch eine Frage«, bettelte Jan. »Was ist ein Palstek? Ein seemännischer Knoten? Ein Bretterweg am Strand oder ein Begrenzungspfahl der Badezone?«

»Ein Palstek ist ein Knoten. So, jetzt muss ich aber wirklich.« Thomas Claaßen klappte den Fahrradständer zurück und fuhr los, ohne sich weiter um die beiden zu kümmern. Er wollte nicht zu spät kommen. Der neue Bürgermeister hatte ihn sowieso auf dem Kieker. Ihn und seine Kollegen.

Er verstand es nicht. Jahrelang war alles prima gelaufen. Sie hatten ihre Arbeit gemacht, hatten sich von keinem reinreden lassen und fast immer hatten die Körbe pünktlich zum Beginn der Saison am Strand gestanden. Und nun, plötzlich, frei nach dem Motto: ›Neue Besen kehren gut‹, fing der Mann an, Dienstpläne aufzustellen, die Anwesenheit zu kontrollieren und mit ihnen Abläufe zu besprechen. Als ob der davon eine Ahnung hatte. Aber er war sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis sie Middelborg im Griff hatten. Immerhin war der von ihnen abhängig und nicht umgekehrt. Er hatte in seinem Arbeitsleben schon so viele Bürgermeister kommen und gehen sehen, da brauchte man eigentlich nur abzuwarten. Oder, wenn das zu lange dauerte, ihm seine Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen.

Er wunderte sich. Die Tür zu seinem Arbeitsplatz stand offen. Das Licht brannte. Im Büro sah er Reinhart Petri stehen. »Was machst du denn schon hier?«, fragte er verblüfft. Sein Kollege war zwar stets pünktlich. Aber normalerweise war er, Claaßen, der Erste morgens.

»Ich wollte … Middelborg hat gesagt … Wir sollen uns kümmern«, antwortete Reinhart Petri.

»Worum?« Er war zwar selbst kein Freund großer Worte, aber Reinhart konnte einem schon ziemlich auf den Sack gehen, wenn er es nicht schaffte, sich klar und deutlich zu äußern. Wobei er seit Jahren vermutete, dass der Mann durchaus in der Lage war, vernünftig zu reden. Der hatte nur einfach keine Lust. Zumindest verweigerte der sich bei seinen Kollegen. Claaßen nahm an, dass es andere Gruppierungen gab, in denen Reinhart sich wohler fühlte. Aber das ging ihn nichts an.

»Um … Um das Osterfeuer. Schon mal zusammenschieben und so.«

»Quatsch. Das wird am letzten Tag zusammengeschoben. Nicht eher.« Thomas Claaßen wurde wütend. »Da werfen zig Leute noch was drauf. Das bringt gar nichts.« Was mischte der Chef sich wieder ein? Er sollte sie man machen lassen und sich um die Verwaltung kümmern. Und um die vielfältigen Wünsche der Gäste. Schließlich war Middelborg nicht nur Bürgermeister, sondern auch Kurdirektor. Da hatte er genug zu tun.

»Aber er hat gesagt …«

»Wenn hier einer was sagt, bin ich das, verstanden? Du gehst zur Turnhalle und räumst auf.«

Reinhard Petri nahm seine Jacke vom Schreibtisch, zog sie umständlich an und schlurfte nach draußen.

Claaßen atmete tief durch. Endlich allein. Er setzte sich auf den Hocker hinter dem Schreibtisch, nahm Zigarettenpapier und Tabak aus der Tasche seines Anoraks und zog den Aschenbecher zu sich heran. Erst mal eine rauchen. So wie jeden Morgen. Dann konnte es mit der Arbeit losgehen.

Den ersten tiefen Zug aus der Selbstgedrehten genoss er mit geschlossenen Augen. Beim zweiten Zug merkte er, dass sein Handy in der hinteren Hosentasche vibrierte­. Ärgerlich zog er es heraus. Helma. Da musste er rangehen. Nützte nichts. Er legte die Zigarette auf den Aschenbecher und drehte sich zur Wand, bevor er sich meldete. Klar, sie konnte es nicht sehen, dass er rauchte. Es war schließlich nur ein Telefon. Aber bei Helma wusste man nie …

»Thomas?«, hörte er seine Frau ins Telefon rufen.

Sie rief immer. Er hatte es ihr nicht abgewöhnen können.

»Thomas, ich hätte da mal eine Frage. Die Zwillinge stehen bei mir und wollen wissen, wann das Rathaus gebaut wurde. War das im März 1949, 1956 zum ersten­ April oder irgendwann im Dezember?« Sie lachte. »Na, ja, das Letzte wohl nicht.«

»Helma, ich habe keine Ahnung. Außerdem muss ich arbeiten. Sollen es die Zwillinge bei denen erfragen, die dafür verantwortlich sind. Ist echt ’ne Zumutung für die Insulaner. Die von der Kurverwaltung denken sich irgendwelche dämlichen Fragen aus und die Insulaner sollen dann alles wissen, wenn ihre Gäste die richtige Antwort haben wollen.«

»Schon gut, Thomas. Ich werde es schon herausfinden. Entschuldige die Störung – und rauch nicht so viel!«

Da war es wieder. Wie hatte sie das nur herausgefunden? Es war scheißegal, ob er sich zur Wand drehte. Er hätte genauso gut weiterrauchen können. Es hätte nichts geändert. Die Hälfte seiner Zigarette war auf dem Aschenbecher sinnlos verglüht.

 

Er machte sich auf den Weg zu Detlef Köster. Der Mann hatte gebeten, ihm zu helfen, weil er alleine nicht mit dem Verlegen seines Teppichbodens klar kam. Claaßen hatte natürlich zugesagt. So üppig waren die Gehälter bei der Gemeinde nicht, dass man nicht hin und wieder die Chance ergriff, sie aufzubessern. Tagsüber. Im Hellen arbeitete es sich einfach besser.

*

»Wir haben hier alle Waffenbesitzkarten und Munitionslisten der Jäger.« Arndt Kleemann blätterte die Papiere aufmerksam durch. »Die diversen Patronenhülsen, die wir im Umfeld der Leiche eingesammelt haben, stimmen mit den Angaben überein. Allerdings können wir noch nicht feststellen, ob auch das Einschussloch, beziehungsweise der Einschusskanal zu einer der Patronen passt.« Er zögerte. »Moment mal. Die Kollegen haben hier eine Sorte auf der Liste, die wir bei den Jägern nicht finden.«

»Das ist gut möglich. Im Herbst sind viele Jäger vom Festland auf Baltrum. So eine Hülse verwittert nicht schnell«, sagte Michael Röder. »Und das wird natürlich eine schwierige Angelegenheit, herauszufinden, wer alles hier war und mit welcher Munition geschossen wurde.«

»Setz dich noch einmal mit dem Jagdpächter, dem Jörg Weber, in Verbindung. Er soll uns eine möglichst vollständige Liste der Gastjäger übermitteln. Vielleicht kennt er jemanden, der diese Munition benutzt.«

Michael Röder stand auf und ging in den Flur, der die Wache mit seiner Dienstwohnung verband. Hier war es ruhiger. Nur Amir, sein Heidewachtel, bellte einmal kurz und strich ihm um die Beine. Sandra war offenbar nicht da. Er überlegte. Richtig. Sie wollte sich mit ein paar Frauen treffen, um Osterschmuck für das Fest vom Heimatverein am Ostersonntag zu basteln. Das hatte sie beim Frühstück erwähnt.

Gerade, als er das Telefon aus der Tasche zog, klingelte es. Marlene. Er wunderte sich. Seitdem er Schluss gemacht hatte, hatte er nichts mehr von ihr gehört. »Röder.«

»Hallo, Michael«, hörte er ihre vertraute Stimme.

Er schluckte. Konnte fast nicht antworten. Es reichte nur zu einem knappen: »Ja?«

»Ich habe gehört, dass ihr wieder einen Mord auf der Insel hattet?«

Was sollte das? Warum interessierte sie sich jetzt plötzlich für das Inselleben? »Stimmt. Warum?«

»Es ist nur – Gero ist da, oder?«Er wusste immer weniger, was er von dem Gespräch halten sollte. Ja, Gero war da, aber was hatte das mit Marlene …?

»Es ist so. Gero und ich – wir sind zusammen«, klang es wie durch einen dichten Nebel. »Er weiß nichts von dir und mir. Es ist erst ganz frisch. Ich möchte es ihm lieber selber sagen, verstehst du. Nicht, dass du beim Feierabendbier aus Versehen, du verstehst …« Jetzt sprudelte es fast aus ihr heraus. »Nicht, dass es mir leid täte. Das mit dir. Aber es hat ja nun mal …«

»Michael? Du solltest Weber nur anrufen und ihn nicht persönlich aufsuchen«, hörte er Arndts Stimme.

»Ich … Ich muss Schluss machen. Du kannst dich auf mich … verlassen.« Er drückte die Taste, dann atmete er tief durch. Gero. Der nette Gero aus Aurich. Der, den er bis gerade für einen klasse Kollegen gehalten hatte. Und den er jetzt am liebsten ungebremst ins Hafenbecken schleudern würde. Er umklammerte das Handy. Nimm dich zusammen, Alter. Den Jäger anrufen. Los jetzt. Röder wählte. Was hatte er eigentlich fragen wollen?

»Weber?«

»Hallo, Jörg. Hier ist Michael. Ich brauche … Ich brauche die Liste, weißt du …«, stammelte er.

»Welche Liste?«, fragte Jörg Weber ratlos.

»Die Liste der auswärtigen Jäger.« Er erklärte nicht, warum er sie brauchte, nur was er brauchte. Dann ging er zurück zu seinen Kollegen. »Er bringt alles vorbei«, krächzte er.

»Na, hast du dich erst einmal zu deiner Frau in die Küche zurückgezogen?« Gero Schonebeck lachte. »Schäferstündchen während der Dienstzeit? Kann eben doch Vorteile haben, wenn man direkt neben dem Dienstzimmer wohnt, oder?«

Arschloch. Michael Röder setzte sich wieder auf seinen hölzernen Bürostuhl. Er konnte kein Wort sagen. Es war, als würde ein tennisballgroßer Klumpen seinen Hals verstopfen. Er bemerkte die Verwunderung in Arndts Blick, bevor der Eilert Thedinga aufforderte, den gestrigen Abend noch einmal zusammenzufassen.

»Ist dir über Nacht noch etwas eingefallen?«

Eilert schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als das, was wir bereits berichtet haben. Ich kam bei den Opitz rein und hatte sofort Funkstille, weil Ingeborg Opitz laut und ohne Unterlass geredet hat. Ich weiß jetzt fast alles über andere Leute. Sicher sehr hilfreich für meine Zeit hier. Am schlimmsten hat sie über ihre Nachbarin hergezogen. Melissa Harms. Vielleicht sollten wir bei der gleich vorbeischauen. Sie soll nicht dagewesen sein, als die Opitz sie zusammenfalten wollte.«

»Ich hätte an ihrer Stelle auch die Tür nicht aufgemacht, wenn ich gesehen hätte, welche Furie sich da auf mein Grundstück zubewegt«, sagte Arndt Kleemann.

»Wir befragen sie auf jeden Fall. Immerhin hat uns Frau Hasekamp erzählt, dass die auch zu den Proniggels gehört hat«, stimmte Gero Schonebeck zu. »Außerdem sollten wir uns Enno Seeberg ein weiteres Mal vornehmen. Das war echt filmreif, wie der versucht hat, sich unserem Zugriff zu entziehen, als er nach Hause kam.«

»Aber genützt hat es nichts«, lächelte Arndt Kleemann. »So fit wie Gero ist, kriegt der jeden.«

Klar. Egal ob sie Enno Seeberg oder Marlene Jelden heißen. Der kriegt jeden. Oder jede. Michael Röder hatte das Gefühl, dass ihm seine Stimme immer noch nicht gehorchte. Also schwieg er und ließ die anderen reden.

»Außerdem haben wir Oliver Abels auf der Liste. Der hat sich unter Rettet unsere Pflanzenwelt mit den Opitz zusammengetan«, berichtete Eilert Thedinga. »Sie wollen übrigens heute Mittag vor dem Rathaus Unterschriften sammeln. Das hat mir Hartmut Opitz erzählt. Oliver Abels soll die heute bei der Ratssitzung vorlegen. Als Entscheidungshilfe.«

»Ich bin gespannt, wer alles unterschreibt«, überlegte Gero Schonebeck. »Rettet unsere Pflanzenwelt ….« Er dachte kurz nach, dann brach es aus ihm heraus: »Rettet unsere Pflanzenwelt – kurz ›Rupf‹! Ist das nicht … – Das ist einfach genial!« Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Echt cool, diese Ermittlungsarbeiten – Proniggels gegen Rupf. Einfach köstlich!«

»Gero, du solltest zur Zeitung gehen. Tolle Schlagzeile. Doch jetzt mal zurück zum Wesentlichen. Was liegt also noch an?«, fragte Arndt Kleemann in die Runde.

Röder wusste, jetzt war er dran. Er schluckte, merkte, wie der Druck langsam nachließ. »Ich habe alles berichtet. Die Jäger waren kooperativ. Auf meine Frage, ob auf der Insel schon mal gewildert wird, erklärte Weber, dass er nichts Konkretes wisse. Es tauchte wohl hin und wieder der eine oder andere Name auf, aber das sei oft nur Gerede. Ich spreche ihn aber noch einmal darauf an. Die Liste der auswärtigen Jäger bringe ich gleich mit. Zumindest die Daten, die er schon hat.«

Arndt Kleemann nickte. »Alles klar. So gehen wir vor. Gero, du nimmst Kontakt mit den Pflanzenrettern auf. Beobachte mal, wie sich die Unterschriftensammlung macht. Ich besuche Melissa Harms und du, Eilert, wartest auf Enno Seeberg und auf neue Erkenntnisse aus Aurich.«

»Es wäre sicher ganz interessant, zu erleben, was heute auf der Ratssitzung passiert«, sagte Gero Schone­beck. »Dort sollten wir ebenfalls eine Abordnung hinschicken. Da knallen Welten aufeinander. Mit Sicher­heit werden dort Abordnungen von den Proniggels und den Rupfs unter den Zuschauern sein.«

»Gute Idee«, stimmte Arndt Kleemann ihm zu. »Wir werden sehen, auf wen von uns das Los fällt.«

»Ich geh dann mal.« Michael Röder konnte es kaum erwarten, aus der kleinen Wache herauszukommen. Allein zu sein. Zumindest auf dem kurzen Weg zu Jörg Weber. Er würde sein Fahrrad zu Hause lassen. Auch wenn die anderen sich wunderten.