Baltrumer Bitter

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Der Bauunternehmer Jan Wybrands war auf der Insel kein Unbekannter. Immer wieder kaufte er Häuser von Insulanern, die ihre Immobilie loswerden wollten. Sei es, weil sie die Insel verließen, oder weil sie einfach zu alt waren und die Kinder den Betrieb nicht übernehmen wollten. Dann kam Wybrands’ große Stunde.

Sie lächelte leicht. Erst kürzlich hatte sie an einem Verkaufsgespräch teilgenommen. Zum Schluss hatte ihr Chef das ältere Ehepaar so weit gehabt, dass die wirklich glaubten, er, Wybrands, würde ihnen einen selbstlosen Gefallen tun, wenn er ihr Haus kaufte. Die Leute waren so glücklich darüber, dass sie aus lauter Dankbarkeit auf jede Menge Kohle verzichteten. Klara hatte die Freude ihres Chefs über das Schnäppchen fast körperlich spüren können. Er schien vor Begeisterung zu vibrieren. Sie hoffte, noch viel von dem Mann zu lernen.

Aber dafür mussten Frank und sie diesen Auftrag gut über die Bühne bringen. Da kannte ihr Chef keinen Spaß. Zwei alte Insulanerhäuser waren ihm zum Kauf angeboten worden. Das große Projekt, das er nach dem Abriss der Häuser auf den Grundstücken verwirklichen wollte, bedurfte einiger Vorplanung. Für morgen stand ein Gespräch mit dem Bürgermeister auf dem Programm. Sie sollten ihm unverbindlich auf den Zahn fühlen, hatte der Chef ihnen mit auf den Weg gegeben. Endgültiges würde er dann mit ihm persönlich besprechen.

Beim Frühstück würden sie die Stimmung im Hause Steenken testen. Ob da was ging oder nicht.

Als sie beinahe über eine Hundeleine stolperte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Am Ende der Leine hing ein lauthals bellender Dackel, der mit einem Bernhardiner auf der anderen Straßenseite Kontakt aufgenommen hatte. Sie umrundete Dackel und Frauchen in einem großen Bogen.

Ihr Telefon klingelte. Sie griff in die Tasche ihrer Shorts, nur um festzustellen, dass das Teil nicht in der Hose, sondern tief in ihrem Beutel unter dem Handtuch und dem Buch vergraben war. Los, verdammt! Wo steckst du?

Als sie das Handy herauszog, schwieg es bereits. Sonja. Sie setzte sich auf eine der Holzbänke neben dem gelben Eispavillon und wählte. Sofort meldete sich ihre Freundin mit der rauen Stimme, in die sie sich auf einer Party spontan verliebt hatte. »Hallo, Schatz. Na, wie geht’s? Was macht der Auftrag?«

»Bis jetzt noch gar nichts. Spiele Urlauberin und erkunde die Gegend. Morgen wollen wir loslegen. Da hat sich der Wybrands ein echt dickes Ding vorgenommen.« Klara lachte. »Wenn wir damit erfolgreich sind, dann ist unsere Hochzeitsreise gesichert.« Im nächsten Jahr wollten sie heiraten. Nur über das Ziel ihrer Hochzeitsreise waren sie sich noch nicht einig. Sonja zog es in die Karibik, sie selbst würde lieber nach Jordanien fahren. Petra, die geheimnisvolle Stadt, das würde sie reizen.

»Wir werden erst einen auf Kultur machen, und uns danach am Strand unter Palmen erholen«, hörte sie ihre Freundin sagen. »Das müsste doch drin sein.«

»Klar, mit Strand fange ich jetzt schon mal an. Allerdings ohne Palmen. Aber immerhin. Mensch, was wäre das schön, wenn du jetzt hier wärest. Und nicht Kollege Frank, diese Flachpfeife«, bedauerte Klara.

»Leider muss ich arbeiten, liebste Freundin. Ich habe meinen Urlaub deinetwegen verschoben, vergiss das nicht. Aber es dauert ja nicht lange. In drei Tagen seid ihr wieder zurück.«

»Wenn alles klappt. Ich hoffe es sehr. Bis heute Abend. Wünsche mir einen Gute-Nacht-Anruf.«

Nachdem Sonja ihr noch etwa dreimal hatte versprechen müssen, abends anzurufen, beendete Klara das Gespräch, überquerte den Marktplatz und sah bald eine mächtige weiße Holzbrücke, die den Fußweg in einiger Höhe überspannte. Lachend blieb sie stehen. Da wies doch tatsächlich ein Verkehrsschild darauf hin, dass das Unterqueren der Brücke nur für Fahrzeuge mit einer Maximalhöhe von 3,7 Metern möglich sei. Ein echter Gag. Ob es auf dieser autofreien Insel tatsächlich Fahrzeuge mit so hohen Aufbauten gab?

Rechts, in einer Senke, sah sie zwei Tennisplätze, das Gras von der Sonne verbrannt. Bis auf ein paar Tauben, die dort vergeblich nach Nahrung suchten, waren die Plätze leer. Kein Wunder, ging ihr durch den Kopf. Mir wäre es jetzt auch viel zu warm, um hinter kleinen, weißen Bällen herzujagen. Ich will nur noch zum Strand.

Sie bog ab, den roten Klinkerpfad entlang, der die Randdünen durchschnitt. Am Strand streifte sie ihre Schuhe ab und fühlte den warmen Sand angenehm unter ihren Füßen.

Klara breitete ihr Handtuch aus, zog sich bis auf den knappen Bikini aus und machte sich mit einem wohligen Seufzer lang. Eigentlich hatte sie sofort zum Wasser gehen wollen, aber nun waren ihr die paar Meter dorthin schon zu viel. Später, dachte Klara. Später. Erst einmal werde ich hier faul rumliegen und an gar nichts denken.

Doch sie merkte schnell, dass das gar nicht so einfach war. Ihr Job ließ sie nicht los und ihre privaten Sorgen rückten ihr unaufhaltsam auf die Pelle. Noch kurz vor ihrer Abreise hatte Klara mit ihrer Mutter wieder eine dieser unsäglich überflüssigen Diskussionen gehabt, die unausweichlich in dem Satz gipfelten: »So werde ich nie Enkel kriegen. Das habe ich nicht verdient.« Spätestens bei diesem Satz haute Klara grundsätzlich ab. Sie konnte den Mist einfach nicht mehr ertragen.

Ihr Vater sah ihre Liebe zu Sonja erheblich gelassener. Aber auch er konnte seine Frau nicht davon überzeugen, dass das Leben der Tochter nicht nur darin Erfüllung zu finden hatte, Enkelkinder für sie in die Welt zu setzen.

Klara sprang auf. Selbst hier am Strand, wo die Luft flirrte vom Lachen der Menschen und der Duft nach Sonnenöl sich mit dem Geruch von Salzwasser und Tang zu einer unvergleichlichen Mischung verband, konnte sie ihre trüben Gedanken nicht verdrängen.

Durfte sie ihr Handy wohl unbeaufsichtigt in ihrer Tasche lassen, während sie schwimmen ging? Sie beschloss, es zu riskieren. Klara wickelte ihre Tasche ins Badehandtuch und wollte schon losgehen, als ihr das Arrangement viel zu auffällig erschien. Es lädt geradezu zum Diebstahl ein, überlegte sie und legte alles wieder hin, als ob sie nur mal kurz drei Meter zur Seite spaziert wäre.

Das Meer hatte sich schon weit zurückgezogen. Eine lange Schlange Menschen watete durch das seichte Wasser auf die vorgelagerte Sandbank. Andere versuchten zu schwimmen und wieder andere lagen auf Luftmatratzen und paddelten wild drauflos. Sie mochte sich dem Strom nicht anschließen. Klara bog rechts ab und lief an der Wasserkante entlang Richtung Osten. Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihre blassen Schultern. Warum hatte sie ihr T-Shirt nur in der Ferienwohnung gelassen? Es hätte ihr mehr Schutz geboten als das giftgrüne Top mit den dünnen Trägern. Wenn sie heute Nacht Ruhe finden und nicht vom Sonnenbrand geplagt werden wollte, musste sie umkehren. So schwer es ihr fiel. Denn hier, direkt mit den Füßen im Wasser, ließ es sich eigentlich gut aushalten. Immerhin – der Apotheker, der ihr am Tag vor ihrer Abreise auf die Insel die After-Sun-Lotion verkauft hatte, hatte von größtmöglicher Wirkung gesprochen …

Als sie sich umdrehte, kamen ihr zwei junge Mädchen entgegen. Klara schätzte sie auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. In ihre Haare waren bunte Bänder geflochten. Die eine trug ein weites, mit großen roten und gelben Punkten bedrucktes Kleid. Der Saum wand sich, schwer von Sand und Feuchtigkeit, um ihre bloßen Füße. Die andere hatte sich in ein weites, bunt gemustertes Tuch gehüllt. Die Mädchen hatten ihre Arme ausgebreitet und drehten sich immer wieder im Kreis, dann hüpften sie fröhlich über die kleinen Wellen, die am Strand ausliefen. Als sie näher kam, hörte Klara, dass die beiden fröhlich sangen. Sie meinte, das Lied schon einmal irgendwo gehört zu haben. Und zwar vor gar nicht langer Zeit. Aber sie konnte sich nicht erinnern. Klara sah ihnen fasziniert hinterher.

Also, was nun? Links oder rechts? Sollte sie sich den Urlaubern anschließen, die auf dem Weg zur Sandbank waren, oder vernünftig sein? Die große Uhr gleich bei den Randdünen zeigte ihr, dass sie bis zu ihrer Verabredung mit Frank genügend Zeit hatte. Sie konnte nicht widerstehen. Der blaue Himmel, das Wasser, das sich um ihre Füße kräuselte – einfach einladend. Fröhlich querte sie den breiten, mit warmem Wasser gefüllten Priel, dann hatte sie den steilen Anstieg zur Sandbank erreicht. Auf allen vieren kletterte sie hinauf und war bald ganz und gar von nassem Sand bedeckt. Ein guter Grund, sich auf der anderen Seite den Sand von der Nordsee wieder abwaschen zu lassen. Plötzlich war sie glücklich. Frei und unbeschwert. Nichts war mehr von den Gedanken übrig, die sie eben noch geplagt hatten.

*

Frank Visser war sauer. Anstatt mit ihm die Insel zu erkunden, aalte sich seine Kollegin am Strand.

Bei seinem Einstieg in die Firma vor gut vier Monaten hatte er spontan erkannt, dass diese Frau absolut in sein Beuteschema passte. Nicht nur ihr gepflegtes Äußeres, ihre dunkelbraunen, sportlich geschnittenen Haare und der offene Blick gefielen ihm, sondern auch das kleine Grübchen im Kinn, das erschien, sobald sie lachte. Von Anfang an hatte er die Art gemocht, wie sie Dinge anpackte, mit Kunden verhandelte. All das fand er perfekt. Der einzige Knackpunkt war ihre Freundin.

Vor einiger Zeit hatte Wybrands sie schon einmal zu zweit losgeschickt, um einen Auftrag abzuwickeln. Klara hatte Frank dann in einer späten Stunde an der Hotelbar erzählt, dass Sonja zu ihrem Leben gehörte. Sie hatte ihn gebeten, Jan Wybrands zu verschweigen, dass sie eine Lebensgefährtin hatte. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Chef darauf reagieren würde. Frank hatte es Klara versprochen.

Trotzdem hatte er gehofft, dass dieser Inselauftrag sie einander etwas näherbringen würde. Besonders der Umstand, dass sie gemeinsam in dieser Wohnung übernachten mussten, hatte ihn vor Beginn der Reise mit großer Zuversicht erfüllt. Als er dann allerdings gesehen hatte, wie sie beim Eintreten mit hoffnungsvollem Blick das Sofa suchte, war sein Optimismus auf ein Minimum geschrumpft.

 

Frank nahm seine Kamera aus der Reisetasche und ging ins alte Ostdorf. Hier gab es noch einige wenige Insulanerhäuser mit zur Windseite heruntergezogenen Dächern und kleinen Sprossenfenstern. Nautilus las er auf einem Schild an einem der Häuser. Neugierig blickte er durchs Fenster. Die Vielfalt der dort ausgestellten Muschelschalen und Schneckenhäuser erstaunte ihn. Nie hätte er gedacht, dass es diese Tiere in derart unter­schiedlichen Größen und Farben gab. Die mächtigste Muschelschale wies wohl einen Durchmesser von über einem Meter auf. Frank hatte bisher immer nur an den Inhalt von Miesmuscheln gedacht, schön mit Tomatensauce und Baguette, dazu ein trockener Weißwein.

Er folgte einem schmalen Weg und fand sich kurz darauf am Rand einer hügeligen Dünenlandschaft wieder. Kein Mensch war zu sehen. Nur zwei Fasane scharrten unbeirrt von seiner Anwesenheit Würmer und kleine Insekten aus dem Moos, das die Dünen bedeckte. Frank schaute ihnen eine Weile zu, dann foto­grafierte er die beiden Insulanerhäuser, die abgerissen werden sollten. Er versuchte, sich an deren Platz das neue Objekt vorzustellen, von dem es bisher nur eine Zeichnung gab. Für ein mittelgroßes Hotel wäre genug Raum, aber für das, was sie planten, war ein größeres Grundstück dringend nötig. Allein das Schwimmbad mit den Räumen für das Wellness-Angebot würde jede Menge Platz brauchen.

»Ich sage nur: Ein Wellness- und Sporthotel muss das werden. Das Schwimmbad: wettkampftauglich«, hatte sein Vater geschwärmt. »Mit allem, was ein Hochleistungssportler heutzutage braucht. Und dann an die richtigen Stellen ran und Werbung machen. Das bringt’s!« Das Motto dieses Mannes war nun einmal: Wenn schon, dann richtig. Dafür ging der durchaus schon mal über Leichen. Frank grinste. Na ja, der Ausdruck war wohl ein bisschen übertrieben. Aber dass er einen äußerst zielstrebigen Vater hatte, das hatte er bereits bei ihrem ersten Treffen erkannt.

»Einen Vater gibt es nicht«, hatte seine Mutter mehr als zwanzig Jahre lang behauptet. Bis sie Frank vor gut einem halben Jahr die Wahrheit gesagt hatte. Kurz bevor sie gestorben war. Und man konnte von dem Mann halten, was man wollte: Als Frank bei Jan Wybrands auf der Matte gestanden hatte, mit dem abgebrochenen BWL-Studium, hatte der ihn sofort aufgenommen. In seine Familie und in die Firma.

»Wir hängen das nicht an die große Glocke«, hatte sein Vater gesagt. »Verdien du dir erst mal Anerkennung bei mir und den Angestellten, dann sehen wir weiter.«

Frank hatte zugestimmt, und so wusste auch Klara nicht, dass er der Sohn des alten Wybrands war. Sie würde noch früh genug erfahren, dass die Position als rechte Hand des Chefs vergeben war.

Einen Pächter hatte sein Vater für das Luxusobjekt auch schon, obwohl es im Moment nur auf dem Papier und in seinem Kopf existierte. Selbst die eher abgeschiedene Lage am Rande des Ostdorfes konnte ihn nicht abschrecken.

Frank wusste, dass sein Vater nichts unversucht lassen würde, die Pläne umzusetzen. Das war spätestens klar geworden, als er hatte verlauten lassen, dass dann eben als besonderes »Bonbonchen« für die Gäste des neuen Hotels Elektrokarren angeschafft werden müssten. »Das ist genau das, was ich von euch erwarte. Dass ihr bei dem Bürgermeister reingeht, und wenn ihr wieder rauskommt, habt ihr die Unterstützung für die E-Karren-Sache in der Tasche. Klar? Denn wenn der blockiert, wird es ewig dauern, bis der Punkt bei einer Gemeinde­ratssitzung auf die Tagesordnung kommt.«

Klar. Natürlich. Genau diese Vorgabe seines Vaters würde er erfüllen. Er! Dann musste nur noch die Unterschrift unter den Kaufvertrag. Aber sein Vater hatte nur abgewinkt. »Da mach dir man keine Gedanken drüber«, hatte der gesagt. »Das ist ein Klacks.«

Frank schaute auf die Uhr. Es war Zeit für den Rückweg. Außerdem war ihm warm. Viel zu warm. Über die Hellerwiesen auf der Südseite der Insel kam kein Lüftchen. Wenn überhaupt, war es ab und zu der Hauch eines drückenden Landwindes, der ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Sie liefen langsam an seiner Wange herunter und sammelten sich an seiner Hemdöffnung. Hektisch fummelte er in den Taschen seiner leichten Leinenhose, doch die waren leer. Kein Taschentuch weit und breit. Ärgerlich strich er sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Aufrecht hielt ihn einzig der Gedanke, dass sein Arbeitseifer bestimmt belohnt werden würde. Spätestens wenn er seinen Vater dezent darauf hinwies, dass er derjenige gewesen sei, der die Arbeit gemacht habe. Sollte er noch einen Abstecher ins – was stand da auf dem Hinweisschild? – Kluntje machen? Nein, es war einfach zu warm. Er würde in der Wohnung warten, bis seine Kollegin von ihrem Strandausflug zurück war.

Als Frank auf das Grundstück der Steenkens einbog, hörte er eine leise Melodie. Neugierig schaute er über die niedrige Buchsbaumhecke in den Garten. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine so schöne Frau gesehen wie die, die es sich gerade auf der Liege bequem machte. Sie trug ein weißes, mit bunten Blumen bedrucktes T-Shirt und einen langen, dunkelblauen Leinenrock. Ihre bloßen Füße steckten in roten Riemchensandalen und ein schmaler, roter Schal, der um ihre Schulter geschlungen war, wehte leicht hin und her. Er hatte das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Frank wagte kaum, sich zu bewegen, in der Angst, das Bild würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Aber das Bild blieb. Auch nachdem er einige Minuten fast reglos gestanden hatte, saß das wunderschöne Mädchen noch immer auf der Liege, schaukelte leicht mit dem Oberkörper und summte ein Lied.

Ganz langsam nahm Frank Visser den Fotoapparat hoch, schaute durch den Sucher, konnte kaum glauben, was er sah, dann drückte er ab. Die Frau musste das leise metallische Klicken gehört haben. Sie lächelte ihn an und winkte.

Vorsichtig machte er Schritt für Schritt auf sie zu, setzte sein nettestes Lächeln auf, immer noch in der Angst, das Bild könnte sich einfach in Luft auflösen. »Hallo, ich heiße Frank, und du? Wohnst du hier?«

Die junge Frau blickte ihn fröhlich an, gab aber keine Antwort. Irritiert wartete er auf eine Reaktion, doch sie sagte nichts.

»Wie heißt du?«, fragte er, plötzlich nicht mehr sicher, ob er sie nicht besser hätte siezen sollen. »Entschuldigung, Frank Visser. Ich bin Gast hier im Haus. Sie auch?«, versuchte er es erneut.

Sie schwieg. Dann stand sie langsam auf, schaute ihn noch einmal an und ging ins Haus.

So etwas war ihm noch nie passiert. Sprachlos starrte Frank Visser auf die blaue Plastikliege, die ausgeblichen von der Sonne in Steenkens Garten stand. Keine Spur war mehr da von dem Sommerwunder, das ihn eingehüllt und bis in sein Innerstes getroffen hatte. Wer war sie? Sie konnte doch nicht einfach gehen. Ihn hier zurücklassen, ohne ein Wort zu sagen. Für einen Moment war sie ihm wie eine Verheißung erschienen, dann war sie davongeschwebt und hatte ihn im Garten stehen lassen. Wo gehörte sie hin? Er würde seine Vermieterin fragen. Spätestens morgen beim Frühstück.

Jetzt war es Zeit zu duschen und auf Klara zu warten. Mal sehen, ob der Abend erfolgreicher werden würde.

*

Sorgsam spülte Arnold Steenken das Haarsieb in dem alten metallenen Waschbecken ab, trocknete es ab und legte es in die Schublade des dunkelbraunen Küchenschrankes. Er schaute sich zufrieden um. Gemütlich hatte er es in seinem Keller. Als Margot zwei Jahre zuvor ihre neue Kücheneinrichtung bekommen hatte, hatte er die alten Schränke abgebaut und in seiner »Giftküche« wieder aufgebaut. Nur die Spüle, die hatte er nicht ersetzt. Sie war eine Erinnerung an die Zeit, als seine Schwiegermutter diesen Raum für die Herstellung und Lagerung ihres Eingemachten verwendet hatte. Er hatte die Frau, die er nie ohne ihre geblümte Kittelschürze angetroffen hatte, sehr gemocht.

Sie hatte ihm oft erzählt, dass es für die meisten Insulaner unvorstellbar gewesen war, in den Jahren des Aufbaus einen Raum im Haus nicht zu vermieten, sondern als Vorratsraum zu nutzen. Doch seine Schwieger­mutter hatte an ihrem Vorrats- und Arbeitsraum eisern festgehalten. Und jetzt war es der Ort, an dem er seine Liköre kreierte. Seine große Leidenschaft. Walnusslikör, Honiglikör, Erdbeerlikör – alle Zutaten fein abgestimmt und in Flaschen gefüllt.

Er schnupperte. Sog dann tief das Aroma durch die Nase. Glückwunsch, Arnold, dachte er. Da hast du wieder was Gutes hingekriegt. Heute war seine neueste Schöpfung fertig geworden. Im Jahr zuvor hatte er Sanddorn geerntet, der auf der Insel reichlich wuchs. Er durfte das. Insulaner hatten eine Sondergenehmigung der Nationalparkverwaltung, auch in den Ruhezonen Beeren zu pflücken. Den Sanddorn hatte er zu Saft verarbeitet und vor einigen Wochen mit diversen Kräutern, Kandis und Korn angesetzt. Jetzt musste er nur noch einen Namen für das Getränk finden und auf dem PC einen Aufkleber entwerfen. Er drehte den Schraubverschluss auf die letzte Flasche und stellte sie mit einer liebevollen Bewegung neben die anderen in die Vitrine.

»Arnold, das Abendessen ist fertig. Kommst du?«, hörte er Margots Stimme von oben. Glück gehabt, dachte er. Gerade fertig geworden. Nach dem Essen würde er ein Gläschen spendieren. Seine Frau war stets die Erste, die seine neuen Sorten probierte. Und wenn sie ihr Okay gab, dann gehörte es zu den festen Ritualen, dass er mit seinem Kollegen Georg Hanefeld im Büro einen Feierabendschluck nahm.

»Ich komme«, rief er, während er immer zwei Stufen auf einmal nehmend in die Küche lief.

Hilda saß bereits an ihrem angestammten Platz am Kopfende des massiven Tisches. Die Küche war seit jeher der wichtigste Raum für Familie Steenken. Hier traf man sich, saß mit oder ohne Gäste gemütlich zusammen, löste Probleme und feierte. Hier hatten Margot und er gesessen, als sie die Nachricht erreichte, dass ihre Tochter Hilda am Strand von einem Sandabbruch begraben worden war. Die Kinder hatten an den Randdünen gebuddelt, als sich ein Sandbrett gelöst hatte. Zwei hatten den Unfall nicht überlebt. Hilda hatten die Rettungskräfte nach einer ganzen Weile äußerlich unverletzt herausgeholt. Seitdem sprach sie nicht mehr.

»Hallo, meine Lieben«, sagte er fröhlich. »Ist das eine Hitze! Eigentlich viel zu warm zum Essen. Aber wenn ich diese Gemüsesuppe sehe, vergesse ich glatt die Außen­temperatur.« Er setzte sich vergnügt zu seinen beiden Frauen und langte zu. »Ich habe soeben den Likör abgefüllt. Ich glaube, er ist ganz besonders lecker geworden.«

»Na, dann muss ich wohl meines Amtes walten und nachher ein Gläschen zu mir nehmen«, antwortete Margot. »Oder zwei, wenn er mir schmeckt.«

Arnold nickte. »Herzlich gerne. Aber vorher muss ich euch erzählen, was mir im Dienst passiert ist. Ihr werdet es nicht glauben, was der Lohmann von mir wollte.«

Als er seine Geschichte erzählt hatte – den Teil mit der Begonie hatte er wohlweislich ausgelassen – beugte sich Margot mit puterrotem Kopf über den Küchentisch. »Das willst du nicht hinnehmen, oder? Du musst deine Kollegen vom Betriebsrat informieren, das ist doch wohl klar. Erpressung – wo kommen wir denn da hin?!«

Arnold nickte. »Das war echt ein ziemlich starkes Stück. Mal schauen, ob ich was unternehme. Der wird sich schon genug wundern, wenn wir mit unserem Programm um die Ecke kommen. Wenn wir dafür genug Anhänger finden, sieht es nämlich schlecht aus mit seinen Vorstellungen von progressiver Dorfentwicklung. Dann heißt es: ›Zurück zu den Wurzeln‹. Aber was sage ich, du wirst ja dabei sein, wenn wir uns Donnerstag treffen. Das wird einschlagen wie eine Bombe.«

Margot schaute ihren Mann skeptisch an. »Ich lasse mich überraschen. Viele Insulaner sind anderer Meinung als du. Die sehen im Bau von Luxusunterkünften die Zukunft der Insel.«

»Ja, leider. Darum ist es so wichtig für mich, meine Ansichten von Dorfentwicklung in die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn man die alten Häuser saniert, können dort doch auch Energieeffizienz und Gemütlichkeit einziehen. Da muss es nicht gleich die Luxusherberge sein. Gäste, die so was wollen, fahren nach Juist. Hier nach Baltrum kommen die Familien, und das ist richtig so.«

»Mir musst du das nicht erzählen, Arnold«, sagte Margot energisch. »Du darfst allerdings eines nicht vergessen: Jeder kann mit seinem Eigentum machen, was er will. Denk an unser altes Haus im Ostdorf. Wenn wir das verkaufen wollten, wäre das unsere ureigenste Sache. Natürlich hätten wir keinerlei Einfluss mehr darauf, was der neue Eigentümer damit macht. Selbst wenn er das Haus abreißen und stattdessen zehn Eigentumswohnungen auf das Grundstück setzen würde. Damit müssten wir halt leben, wenn wir es nicht selbst renovieren könnten oder wollten. So ist das nun mal.«

 

»Du hast ja recht«, erwiderte Arnold. »Aber genau das sind doch die Aussichten, die mich erschrecken. Dass die Insel über kurz oder lang ihr Gesicht verliert. Ihre Geschichte. Und ihren Charme. Dass sie beliebig austauschbar wird in ihrer Architektur und in ihren Angeboten. Da werden Hotels entstehen, von denen eines aussieht wie das andere, und Eigentumswohnungen, die nur im Sommer für drei Monate vermietet sind. Schau dich im Winter um. Nichts als dunkle Fenster. Das ist doch nicht schön für uns Insulaner. – Fazit: Ich möchte am liebsten das ganze Jahr über Gäste in gemütlichen Ferienwohnungen haben, deren Besitzer auf der Insel wohnen«, erklärte Arnold entschlossen. »Kurz gesagt, ich will das Insel-Flair erhalten.«

Margot schüttelte entschieden den Kopf. »Ich glaube, der Zug ist abgefahren. Die Zeiten sind einfach vorbei.«

»Das wollen wir mal sehen«, murmelte Arnold. Dann nahm er sich ein drittes Mal von der Gemüsesuppe. Seine Tochter lächelte ihn fröhlich an.

»Wo wir gerade über Sanierungen reden: Kommen wir noch einmal auf unser Haus im Ostdorf zurück. Hast du dir endlich Gedanken gemacht, wie es damit weitergehen soll?«, sagte seine Frau. »Seit Onkel Theos Tod haben wir uns nicht gekümmert. Ein altes Haus verfällt schnell, wenn es nicht bewohnt wird. Was tun wir also?«

Arnold schaute sie unangenehm berührt an. »Ich weiß, ich weiß. Die immer gleiche Frage. Aber verkaufen? Bestimmt nicht. Wie soll ich das meinen Uns-Baltrum-Genossen erklären? Renovieren? Du weißt, wie teuer das ist. Wir müssen etwas unternehmen, das ist sicher. Am besten wäre es, wenn wir die beiden Nachbarhäuser gleich mitkaufen und auf den neuesten Stand bringen würden. So könnten wir einen Teil des alten Ostdorfes erhalten. Nur wie wir das bezahlen sollen, das ist mir im Moment noch ein Rätsel. Wir alleine als Familie schaffen das nicht. Aber vielleicht finden sich ja ein paar Leute von der Insel, die da mitmachen. So als Genossenschaft. Wie beim Inselmarkt. Da klappt das doch auch. Ich gebe zu, die Finanzierung zum Erhalt der alten Häuser ist genau die Lücke zwischen Theorie und Praxis. Aber daran müssen wir arbeiten. Ganz zu schweigen von den anderen Problemen, die sich damit auftun. Aber lassen wir das jetzt.« Arnold stand auf. »Was ist? Wollen wir noch ein wenig in den Garten gehen?« Er schob den leeren Glasteller von sich, auf dem sich fünf Minuten zuvor noch eine größere Menge Vanilleeis mit Schokoladensoße getürmt hatte.

Seine Frauen nickten.

»Hilda, räumst du das Geschirr weg?«, fragte Arnold seine Tochter. Er erwartete keine Antwort, wusste aber, dass Hilda seiner Bitte gewissenhaft nachkommen würde. »Mama und ich gehen schon mal vor.«

Kritisch schaute Arnold in den Himmel. Dunkle Wolken hatten sich über dem Wattenmeer aufgetürmt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich entladen würden. Hoffentlich wurde es danach ein wenig kühler. »Ein paar Minütchen haben wir noch, dann sollten wir den Sonnenschirm und die Liegen sicherstellen«, überlegte er laut, »und die Meerschweinchen ins Haus bringen. Aber jetzt hole ich meine neueste Kreation aus dem Keller.«